Corsage: Vicky Krieps als verbitterte Kaiserin Elisabeth. Ein Film von Marie Kreutzer

Juli 9, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Gefangen im Korsett aus Rollenbildern und Ritualen

Die Kaiserin raucht Kette: Vicky Krieps zeichnet das Bild einer um ihre Backfisch-Prinzessinnen-Träume gebrachte Elisabeth von 40 Jahren. Bild: © Alamode Film

In ihrer Badewanne, den Kopf unter Wasser, hält sie die Luft an, bis den beiden Kammerzofen angst und bang wird. Abtauchen, das kann sie gut, das hat Wien sie gelehrt. Ebenso wie auf Knopfdruck in Ohnmacht zu fallen: Nach hinten wegkippen, bisschen seufzen, die Augen verdrehen, so macht sie’s später beim Flirt mit ihrem Cousin Ludwig II. vor. Heute noch wird sie diese Strategie des zivilen Ungehorsams anwenden. Es ist das Jahr 1877, Heiliger Abend in der Hofburg,

und ergo für die Hofgesellschaft ein höchst willkommener Anlass, Elisabeth bei einem Festbankett anlässlich ihres 40. Geburtstags hochleben zu lassen. Allein, die Kaiserin von Österreich-Ungarn ist so gar nicht in Feierlaune. Mit 40 ist sie im späten 19. Jahrhundert eine alte Frau, und jedes der unzähligen Porträtgemälde im Palast erinnert sie an die Zahl der Jahre, die hinter ihr liegen.

Ihre natürliche Schönheit, die elfenhafte Figur und die ikonischen Flechtfrisuren, für die sie von Volk und Vaterland so verehrt wird, sind mittlerweile zum täglichen Überlebenskampf geworden. Die Angst vorm Älterwerden, vorm Bedeutungsverlust, vorm Schwinden ihrer Jugendlichkeit bekriegt Elisabeth mit Kälbersaft-Diätwahn und Sportsucht. Jedes ihrer beim dreistündigen Kämmen ausgegangenen Haare (bodenlang und geschätzt mehr als zwei Kilogramm schwer, „Ich bin die Sklavin meiner Haare“, ist ein bekanntes Elisabeth-Zitat) wird gesammelt und in einer Hutschachtel aufbewahrt.

Die Kettenraucherin und Hungerkünstlerin hat für ihre Ankleiderinnen nur einen morgendlichen Befehl: „Fester, fester!“ – und meint damit die Schnürung ihres Mieders. Das Schönheitsideal ist zugleich ein Panzer. Taillenumfang 45 Zentimeter, jedes Gramm mehr als 49,7 Kilo auf der Waage eine tiefe Kränkung, eine Mahnung an ihre Disziplinlosigkeit punkto Selbstkasteiung. Franz Joseph hat es seiner Frau beim Dinner für zwei deutlich mitgeteilt: „Halte dich raus aus der Politik, meine Aufgabe ist es, die Geschicke des Reichs zu lenken, deine Aufgabe ist es, mich zu repräsentieren. Dafür habe ich dich ausgebildet, dafür bist du da.“ Die Gesichtsschleier aus schwarzer Spitze, munkelte man weiland, trage die Anorektikerin, um ihre Hungerödeme zu verbergen.

Regisseurin und Drehbuchautorin Marie Kreutzer, bekannt unter anderem für „Was hat uns bloß so ruiniert“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=23103), verwendet sie für eine eigene Lösung. „Corsage“ heißt ihr Film über Ihre Kaiserliche Hoheit Grenzgängerin, und kein Biopic ist, was da am 7. Juli in den Kinos anläuft, sondern ein Spiel mit Stilbrüchen, vom sphärischen Soundtrack der französischen Sängerin Camille, „She Was“ gleichsam das Leitmotiv: https://www.youtube.com/watch?v=Z-YaTKXBNVY, bis zu schwarzweißen Filmaufnahmen, gedreht von Gyula Graf Andrássy, auf denen Elisabeth übermütig über eine Wiese tollt, beinah zwei Jahrzehnte vor den Brüdern Lumière.

Elisabeth-Darstellerin Vicky Krieps gewann für die Hauptrolle im Mai in Cannes/Sektion Un Certain Regard den Preis für die Beste Performance, der ganze Cast liest sich wie das Who‘s Who deutschsprachiger Film- und Theatergrößen: Florian Teichtmeister als Kaiser Franz Joseph, Katharina Lorenz als Hofdame und engste Vertraute Marie Festetics, Jeanne Werner als Hofdame Ida Ferenczy, Alma Hasun als Friseurin Fanny Feifalik – diese drei Elisabeths innerer Kreis,

Manuel Rubey als Bayernkönig Ludwig II., Aaron Friesz als Sympathieträger Kronprinz Rudolf, Alexander Pschill als Hofmaler Georg Raab, Raphael von Bargen als Erster Obersthofmeister Hohenlohe-Schillingsfürst, Regina Fritsch als Gräfin Fürstenberg, Oliver Rosskopf als Kammerdiener Eugen, Marlene Hauser als Kammerzofe Fini, Stefan Puntigam als Majordomus Otto, David Oberkogler als Rudolfs Erzieher Latour von Thurmburg, Norman Hacker als Chefarzt Leidesdorf, Eva Spreizhofer als Marie Hohenlohe, Raphael Nicholas als Earl of Spencer sowie Kajetan Dick als Wiener Bürgermeister Cajetan Felder.

Gewichtskontrolle mit Jeanne Werner als Hofdame Ida Ferenczy. Bild: © Alamode Film

Tägliche Routine – mehrere Stunden Sport: Vicky Krieps als Elisabeth. Bild: ©Alamode Film

Mit den Haaren fallen geschätzt zwei Kilos: Vicky Krieps als Elisabeth. Bild: © Alamode Film

Engste Vertraute: Katharina Lorenz als Hofdame Marie Festetics (li.) mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Doch zurück zur Stillen Nacht, die Strophe „Schön soll sie bleiben“ wird grad gesungen, da wendet Sisi ihren Synkope-Schmäh an, wegkippen, seufzen, Augenverdrehen, so viel Macht bleibt der Machtlosen, sich einem ihr unlieben Umfeld zu entziehen. Es sind vielleicht folgende zwei Szenen, die Marie Kreutzers Film skizzieren. Die eine: Teichtmeisters Franz Joseph, der an der Türe klingeln muss, um in Elisabeths Gemächer vorgelassen zu werden, wo er erst einmal den berühmten Backenbart abnimmt, als säße er, nun da das Happy-Birthday-„Theater“ vorbei ist, in der Garderobe, in der Maske –

die beiden einander Aug‘ in Augenring gegenüber, ausgelaugt, abgehetzt, und ja, da ist noch was, „mon cœur“ nennt er sie, aber sie können’s nicht mehr (be-)greifen. Teichtmeister ist grandios als in Uniform erstarrter, doch innen drin spürbar sensibler Habsburger, „der erste Diener des Staates“, der Soldat, der über seine Völker wacht – und wer jemals des Kaisers karge Gemächer in Bad Ischl besichtigt hat, weiß, was das bedeutet. Heute würde man sagen: Ein Workaholik.

Die andere Szene: Beim Besuch in einer Heilanstalt für nervenkranke Frauen, etwas, das die empathische Elisabeth wie jenen in Feldlazaretten als ihre vornehmste Pflicht ansah, wird sie von Chefarzt Leidesdorf herumgeführt: tobende Kranke in Gitterbetten, fixierte Frauen, frierende in Eiswasserbädern, heulende, halbverbrühte in der gegenteiligen „Therapie“ … und in der Kaiserin Gesicht die Erkenntnis, wärst du nicht von Rang, du lägest auch hier. Doch auch ein goldener Käfig ist vergittert … Der Kontrast zu den mitgebrachten, üppig verzierten und nun hastig verteilten Törtchen könnte größer kaum sein.

In diesem Spannungsfeld von bewusster Provokation, für die Vicky Krieps der Etikette und den hofzeremoniellen Tableaux Vivants gern auch mal den Mittelfinger oder dem Leibarzt die Zunge zeigt, wenn er die durchschnittliche Lebenserwartung von „Frauen des Volkes“ bei ihr als erfüllt ansieht, zwischen draufgängerischer Exzentrik und depressiver Einsamkeit hält Kreutzer den von ihr angelegten Sisi-Charakter in der Schwebe. Die Possenhofener Posse ist passé. Nun ist sie ausrangiert, hat ausgedient als Vorzeige-Majestät. Franz Joseph flaniert derweil ungeniert mit seiner kindfraulichen Geliebten Anna Nahowski durch den Schönbrunner Schlosspark, alldieweil Elisabeth von allen Seiten für ihr Tun, ihr (Da-)Sein getadelt wird.

Von Rudolf, ihrer Schwester Marie, Königin beider Sizilien, ja sogar von ihrem letzten und jüngsten Kind Valerie: „Maman, ich geniere mich für dich.“ Sie sei für Vater ein Grund zur Sorge bescheidet sie die Tochter … „Hauptsache, wir hinterlassen ein hübsches Bild“, sagt Sisi zu einem Porträt ihrer dreijährig verstorbenen Tochter Sophie. Die Manipulation der Menschen, der Massen durch Bilder, ist hier eines der Hauptthemen …

Einbestellt zum Festbankett: Aaron Friesz als Kronprinz Rudolf, Vicky Krieps und Katharina Lorenz. Bild: © Alamode Film

Bereitmachen für den kaiserlichen Auftritt: Florian Teichtmeister als Franz Joseph mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Vater-Sohn-Konflikt nicht zuletzt wegen Non-Kommunikation: Aaron Friesz und Florian Teichtmeister. Bild: © Alamode Film

Seelenverwandt: Manuel Rubey als Bayernkönig Ludwig II mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Vor den Augen aller verschwindet die brüchig gewordene Elisabeth, diese Idealvorstellung einer Niemandin. Längst schon bereitet sie Marie Festetics als Double vor, eine Aufgabe, die in der Realität wegen größerer körperlicher Ähnlichkeit Fanny Feifalik übernahm, hier nun Lorenz‘ Festetics, die sich nach dem ersten Auftritt mit Gesichtsschleier ob der ihr viel zu engen Korsettschnürung in die Waschschüssel übergibt. „Sie werden sagen, dass ich zugenommen habe, und es wird ihnen gefallen haben“, kommentiert Elisabeth. Katharina Lorenz, das heißt: Marie Festetics spielt ihre Rolle mit dem abgehärmten Stoizismus einer Märtyrerin.

Es ist ein sprödes und schmerzliches Bild, das Kreutzer von der Kaiserin und ihrer Entourage zeichnet. Zwischen all deren violett-schwarzen Roben (Kostüme: Monika Buttinger) beleben die betörende Camille und Judith Kaufmanns düster-symbolhafte Kamerabilder sowie ein skurril-subtiler Humor (siehe Backenbart-Abnahme), der sich wie ein seidener Faden durch das Drehbuch zieht, den Film. Aber es ist die vom leibärztlich verschriebenen „Heilmittel“ Heroin berauschte Elisabeth, die einerseits ungeniert ausscherende und zugleich extrem kontrollierte Darbietung der Krieps, die alles zusammenhält.

Ihr Auftritt ist so kühn wie Kreutzers Film, der sich historischen Zwängen wie ins kollektive Gedächtnis eingeschriebenen Klischees in jeder Einstellung klug und mit Nachdruck zu entziehen weiß. Geschichtliche Unstimmigkeiten verteidigt Kreutzer mit Vehemenz. Für eingefleischte Elisabeth-AuskennerInnen hat die wie stets akribisch recherchierende Kreutzer aber weder auf die Anker-Schulter-Tätowierung noch auf die kandierten Veilchen vom Demel vergessen. Dabei istCorsage“ ein vieldeutiger Titel, der Körper, Geist und Seele miteinschließt. Eingeschnürt-Sein in der Epoche, der Gesellschaftsschicht, dem Geschlecht – der Corsage und wegen all dem dieser stete Mangel an Luft zum Atmen. „Fester, fester!“

In ihrer Sommerresidenz 1878 wird sich Sisi des symbolischen Drucks ihrer Frisuren entledigen, indem sie zur Schere greift – was bei Alma Hasuns Fanny Feifalik einen Nervenzusammenbruch auslöst. „Mein Lebenswerk ist zerstört“, heult sie, was Jeanne Werner als Ida Ferenczy lapidar mit „Blöde Gans!“ kommentiert. Sisi wird lose „Reformkleider“ à la Emilie Flöge und ihr nunmehr kinnkurzes Haar vom Wind zerzaust tragen. „As Tears Go By“ erklingt dazu ein Cover des Rolling-Stones-Songs: „It is the evening of the day …“ Marie Festetics hat längst den Anker in die Haut geritzt bekommen und Elisabeths Unterschrift geübt. Für Franzls Geliebte hat Sisi nur einen Rat: „Der Kaiser hat keine Zeit und ist ungeduldig. Empfangen Sie ihn bereits im Bett und ohne Mieder.“

Einen Luigi Lucheni braucht Marie Kreutzer nicht, an Elisabeths Ende steht Selbstermächtigung. Kreutzers Arbeit ist eine avantgardistisch-feministische Perspektive auf ein Frauenleben, ein scharfer Blick auf toxisch-männliche Strukturen, eine konsequent ins Zeitgemäße weitergedachte Erzählung der gereiften Elisabeth. Sich mit dieser modernen Sisi, etwas, das die tatsächliche Elisabeth zweifellos war, zu identifizieren, fällt leichter, als eine Verbindung zur Technicolor-Sissi zu finden, die in der filmischen Nachkriegs-Heile-Welt als nostalgischer Verdrängungsmechanismus perfekt funktionierte.

Den letzten Absatz für Marie Kreutzer: „Wäre es das alles Elisabeths exklusives Problem gewesen, hätte es mich nicht interessiert. Aber an Frauen werden auch heute noch viele der Erwartungen gestellt, mit denen sie zu kämpfen hatte. Es gilt nach wie vor als die wichtigste und wertvollste Eigenschaft einer Frau, schön zu sein. Daran hat die Geschichte, ja auch die Frauenbewegung und Emanzipation, nichts ändern können. Immer noch gelten Frauen als weniger wertvoll, wenn sie übergewichtig sind oder älter werden. Im Jahr 2022 müssen Frauen zwar noch viel mehr können und erfüllen, aber dabei bitte schön schlank und jung bleiben. Ab einem gewissen Alter kann frau es auch nicht mehr richtig machen – denn lässt sie ,etwas machen‘ wirft man ihr Eitelkeit vor, tut sie es nicht, werden ihre Falten kommentiert.“

mk2films.com/en/film/corsage           www.alamodefilm.de/kino/detail/corsage.html

7. 7. 2022

Theater im Bahnhof Graz / Live-Zoom: Liebe Regierung! Briefe aus dem Bauch der Republik

Dezember 12, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Wie viele Schaumrollen bis zum Speiben?

Von Grazerinnen an den Grazer: Monika Klengel und Pia Hierzegger mit einem an den neuen Bildungsminister Martin Polaschek adressierten Brief. Bild: © Johannes Gellner

Eine Live-Online-Leseperformance ist die jüngste herausfordernde Idee des niemals um eine solche verlegenen Grazer Theater im Bahnhof. Da immer mehr Menschen, egal welcher politischen Glaubensrichtung, das Gefühl haben nicht gehört zu werden, startete das TiB den Versuch einer schriftlichen Annäherung an den Staat. Das Team bat das Publikum, Briefe an Mitglieder der aktuellen Bundesregierung oder andere politische Verantwortungs- trägerinnen und -träger zu verfassen.

Diese werden nun an fünf Abenden, der erste davon gestern, in abwechselnder Besetzung von Monika Klengel, Eva Hofer, Juliette Eröd, Jacob Banigan, Beatrix Brunschko, Gabriela Hiti, Martina Zinner, Elisabeth Holzmeister, Pia Hierzegger und Lorenz Kabas vorgetragen. Selbstverständlich im typischen TiB-Stil. Heißt: als eine Art Schaumrollen-Challenge. Beherzt hineingebissen werden muss ins Blätterteiggebäck, dass die Zuckerschneefüllung nur so quillt. Bis man – nach Vorbild chinesischer Glückskekse – auf dem Zettelchen mit der Losnummer für den nächsten vorzulesenden Brief herumkaut.

Das geht so lange, bis die leere Schaumrolle gezogen ist, gestern gelang das Eva Hofer um 19.14 Uhr – und während man vorm Bildschirm sitzt und lauscht und staunt, windbeutelt einen die Frage: Wie viele Schaumrollen, bis es zum Speiben ist? Klar hat die Performance keinen anderen Mehrwert als den, ein Stimmungsbild, ein Sittenbild des derzeitigen Zustands der Republik darzustellen. Wobei die TiBler bei ihrer mehlspeisigen Lottoziehung trotz aller Dreistigkeit allesamt Waisenkinder gegen die Chuzpe der rochierenden Parteiwiedergänger und Volksverdreher sind.

Immerhin: Welch ein Einfall, Schaumrollen für die ihre Rollen spielenden politischen SchaumschlägerInnen! Und so momentan das Ganze daherkommt, gilt es den Hut zu ziehen vor den Umbauarbeiten, die die vergangenen Tage wohl mit sich brachten. Einen Brief jetzt mit MFG enden lassen? Der Freiheitsruf der DDR-Bürgerinnen und Bürger „Wir sind das Volk!“ nun rausgebrüllt vom rechten Rand der gegen den „Impfzwang“ Demonstrierenden? Wie Worte doch im Munde umgedreht ihre Bedeutung ändern.

Eva Hofer. Bild: © Johannes Gellner

Lorenz Kabas. Bild: © Johannes Gellner

Monika Klengel. Bild: © Johannes Gellner

Die Radikalisierung der Sprache ist denn auch Thema vieler Briefe. Martina Zinner hat einen von M.J.Z. mit dem Wunsch um mehr Dialog und der Bitte, Kinder nicht als Superspreader zu bezeichnen. Die Leiterin eines steirischen Pflegeheims beschwert sich bei Landeshauptmann Schützenhöfer über den Bogner-Strauß-Sager von Pflegeeinrichtungen als „Sarggassen“ und ungeimpftem Pflegepersonal als „Todesengel“.

M.W. kritisiert als Losnummer 18 und via Pia Hierzegger Werner Kogler für seine „versaute Annäherung an die Fremdenfeindlichkeit“ des Koalitionspartners, Neo-Bundeskanzler Nehammer muss sich – noch als Innenminister – „zynische Ressentiments“ und „eine Show ohne jede Substanz“ vorwerfen lassen. Eine irakische Schutzsuchende, Künstlerin, 2015 nach Österreich gekommen, schildert ein Über-/Leben ohne gültige Papiere. Eine ehemalige Ostdeutsche adressiert Alexander van der Bellen. Österreich erinnere sie mehr und mehr an die DDR: „Politik und Medien auf der einen Seite, die Menschen auf der anderen Seite, und die beiden hatten nichts miteinander zu tun.“

Alldieweil zeichnen, eigentlich karikieren gerade nicht lesende PerformerInnen auf einem Flipchart die Elli Köstinger, den Mückstein, die (sic!) Edtstadlerin, den neuen Bildungsminister Martin Polaschek – ein Gruß aus Graz an den gewesenen Grazer Uni-Rektor -, und sie tun dies per Schlafbrille blind gemacht wie die Justitia. Ein Zeichen für die Unparteilichkeit des Abends. Hier werden nämlich auch Schaumrollen gegessen, die dem Ensemble nicht schmecken … Die Gesichter röten sich, nach den Lippen die Augenlider, die Wangen; die Getränke zum Runterspülen jedwedes Süßen wechseln von Tee und Frucade zu Rotwein und Wodka-Stoli.

PolitikerInnen blind skizziert: Juliette Eröd, Monika Klengel und Lorenz Kabas. Bild: © Johannes Gellner

Eva Hofer mit einem Foto von Bildungsminister Martin Polaschek und Lorenz Kabas. Bild: © Johannes Gellner

Pia Hierzegger hat Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein an die Wand gemalt. Bild: © Johannes Gellner

Lena Rucker begleitet die Live-Lese-Performance musikalisch. Bild: © Johannes Gellner

A.E. hat gedichtet, Gabriela Hiti trägt vor: „Der neue Innenminister / nie den Basti vergisst er /  er baut ihm in Wien ein Museum / und das andere schließt er …“ Zum Schluss: Christa Wolf, Kassandra. „Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen, in Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter ändern Sätzen: Lasst euch nicht von den Eignen täuschen …“

„Aus dem Bauch der Republik“ hat das TiB Sprachtheater auf höchstem satirischem Niveau gestaltet und dem Anlass entsprechend getragen vorgetragen. Heute, bei der zweiten Lesung, kann und wird alles so ähnlich und doch ganz anders sein. Schauen, hören Sie sich das an. Die Hoffnung, etwas bewirken zu können, stirbt bekanntlich zuletzt.

Zoom-Link an fünf Abenden bis 22. 12. ab 17.50 Uhr. Die Teilnahme ist kostenlos, Spenden gehen am Heiligen Abend an den Verein Doro Blancke Flüchtlingshilfe. Die Briefe, aber auch Bilder, Objekte und andere Left-Overs aus den Performances, werden danach als Installation „Liebe Regierung. Das Studio“ zugänglich sein.

Link für die ZOOMVERANSTALTUNGEN           SPENDE statt KARTE

www.theater-im-bahnhof.com

  1. 12. 2021

Theater in der Josefstadt: Der Weg ins Freie

September 4, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Arthur Schnitzler scharfsinnig aktualisiert

Michaela Klamminger, Julian Valerio Rehrl, Alexander Absenger, Elfriede Schüsseleder, Raphael von Bargen und Tobias Reinthaller. Bild: © Roland Ferrigato

Nun ist es doch meist so, dass, betitelt sich eine Neu-, Fort- oder Überschreibung, eine Dramatisierung als Uraufführung, ein Hauch Hybris in der Luft hängt. Nicht so bei der Saisoneröffnungspremiere des Theaters in der Josefstadt. Autorin Susanne Wolf hat Arthur Schnitzlers Roman „Der Weg ins Freie“ für die Bühne nicht „adaptiert“. Sie hat den 113 Jahre alten Text hellsichtig und der aktuellen Zustände ansichtig ajouriert. Hat durchs Brennglas aufs Bestehende geguckt,

Schnitzlers Sprachgebäude entkernt und stilistisch aufs Vortrefflichste ergänzt. Kurz, das heißt: drei Stunden lang, die Intention des Meisters der geschliffenen Gesellschaftsanalyse anno Jahrhundertwende nicht nur verstanden, nein, vielmehr weist Wolf auch diese Tage als ein Fin de Siècle aus, in dem Anstand und Anständigkeit verlorengehen, während allerorts die – was auch immer diese sein sollen: abendländischen – Werte beschworen werden. Antisemitismus, Fremdenhass, Selbstbefragung und politische Sinnsuche, aufs Parteibanner geheftete Parolen von Christlichkeit und Nächstenliebe – „für die unseren“, das alles macht schmerzlich bewusst, dass Geschichte sich nicht wiederholt, aber reimt.

„Mit uns gewinnt man Wählerstimmen“, lässt die Wolf Julian Valerio Rehrl als jüdischen Kadetten Leo Golowski an einer Stelle sagen, einen anderen, dass er nicht für jede „Idiotie eines Juden“ mitverantwortlich gemacht werden wolle. Et voilà. So wird „Der Weg ins Freie“ an der Josefstadt zu den, wie Schnitzler im Briefwechsel mit Literaturkritiker Georg Brandes selbst eingestand, zwei Büchern in einem – zur tragischen Liebesgeschichte zwischen dem Komponisten Baron Georg von Wergenthin und der bürgerlichen Klavierlehrerin Anna Rosner.

Und zu einem Panorama jener jüdischen, nunmehr zu die „Heimat überflutenden“ erklärten „Fremden“, die in Zionismus, Sozialismus, assimilationswilligem Humanismus, ja selbst im Katholizismus ihren Fluchtpunkt vor dem dräuenden „Heil!“ wähnen. Dass die Josefstädter den gepflegten Salonton beherrschen, ist hundertfach geübt, doch Susanne Wolf stattet diesen mit einer beißenden Tiefenschärfe aus. Dem adrett gruppierten Sittenbild stellt sich die Regie von Janusz Kica entgegen, der mit dem ihm üblichen Esprit, mit Sensibilität, seinem Blick fürs Wesentliche und seinem Sinn für Psychologisierung der Figuren ans Werk geht.

Alexander Absenger und Alma Hasun. Bild: © Roland Ferrigato

Alexander Absenger und Raphael von Bargen. Bild: © Roland Ferrigato

Katharina Klar und Alexander Absenger. Bild: © Roland Ferrigato

Im raffinierten Setting von Karin Fritz, einer von oben herabschwebenden Salon-Ehrenberg-Ebene, als Unter- geschoss eine Art Bedrohlichkeit atmender Bunker, die der Epoche entsprechenden Kostüme von Eva Dessecker, springt die Handlung gleich zu Anfang in eine der Soireen der Madame Ehrenberg: Elfriede Schüsseleder, die mit pointiert trockenem Humor glänzt, und der die Lacher gewiss sind, ist die arme Leonie doch von allem und jedem entsetzlich ermüdet. Ihr zur Seite steht Siegfried Walther als Oberzyniker Salomon Ehrenberg, der statt des amüsierten Treibens in seinem Hause lieber angeregte Debatten zur Lage der Nation führen würde.

Doch es sind vor allem Alexander Absenger als Georg von Wergenthin und Raphael von Bargen als Schriftsteller Heinrich Bermann, die das Spiel machen, von Bargens Autor als sich mit Leidenschaft selbst zerfressender Intellektueller, der es lautstark leid ist, auf sein Jüdisch-Sein reduziert zu werden, Absengers Aristokrat als der ewige, bis zur Unverantwortlichkeit törichte Bub, ein „arischer“ Realitätsverweigerer mit nur ab und an hellen Augenblicken. Beide liefern eine fulminante Charakterstudie, wunderbar österreichisch Bermanns Satz: „Die Entrüstung ist hierzulande ebenso wenig echt, wie die Begeisterung, nur Schadenfreude und Hass sind echt“, Absenger brillant als trotziges Kind, das Zeter und Mordio schreit, als sich Anna endgültig von ihm abwendet.

Als diese hat Alma Hasun ihre starken Momente, die geschwängerte Geliebte, die aus Egoismus und „Künstlertum“ so lange beiseitegeschoben wird, bis ihr Selbstbewusstsein als Frau ihr die Rolle des benützten und fallen gelassenen Opfers verbietet und Anna beschließt auf eigenen Beinen zu stehen. In diesem Sinne modern auch Katharina Klar als sozialistische Revolutionärin Therese Golowski, eben erst aus dem Gefängnis entlassen und schon wieder als Frauenrechtlerin auf den Barrikaden. Klar gestaltet diesen Freigeist, der sich die Männer nach Belieben nimmt und abschiebt, mit großer Intensität, spröde und glühend kämpferisch zugleich; die Emanzipation, man kauft sie ihr in jeder Sekunde ab – und schön zu sehen ist, wie sich Klar, bisher als Gast in „Rosmersholm“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=35913), ins Ensemble einfügt.

Stets eine Freude ist es, Julian Valerio Rehrl zu erleben, als verzweifelt aufbegehrenden Leo Golowski, dessen Demütigung als Jude beim Militär mehr Raum als im Roman gegeben wird, ist die Dramatisierung doch angereichert mit persönlichen Notizen Arthur Schnitzlers und originalen politischen Zeitstimmen. Rehrl weiß seinen Auftritt als Duellant zu nutzen, ebenso wie Michael Schönborn, dem die Figur des Rechtspopulisten Ernst Jalaudek auf den Leib geschrieben wurde, ein Deutschnationaler, der den Antisemitismus so lange hochhält, bis seine Fraktion den Nutzen der jüdischen Bankiers für die Bewegung ins Visier nimmt.

Oliver Rosskopf und Alma Hasun. Bild: © Roland Ferrigato

Alexander Absenger. Bild: © Roland Ferrigato

Absenger und Katharina Klar. Bild: © Roland Ferrigato

Klamminger, Rehrl, Siegfried Walther, Joseph Lorenz und Elfriede Schüsseleder. Bild: © Roland Ferrigato

Schönborn, Beweis dafür, dass es keine „kleinen Rollen“ gibt, lässt seinen Jalaudek im gemütlichsten Wiener Plauderton derart vor den sattsam bekannten Ressentiments triefen, dass es einen tatsächlich ekelt. Und sagt er „Wir sprechen aus, was der kleine Mann denkt“, so lauert die Gefahr in jeder Silbe, die Argumente, sie scheinen so hieb- und stichfest wie Waffen. Die Paranoiker in der Runde, sie behalten im Zeitalter des strategischen Antisemiten und Wiener Bürgermeisters Karl Lueger niederschmetternd recht. Weitergedacht mag via des Wahlkampfauftakts in Oberösterreich werden, Deutschkenntnisse als Daseinsberechtigung und Null-Asylwerber-Quote sind – hier die jüdischen Zuwanderer betreffend – auch Thema bei Susanne Wolf.

In dem Zusammenhang und um die politische Stimmung festzumachen, wurde mit Jakob Elsenwenger die Figur von Annas Bruder Josef Rosner, einem Parteiblatt-Redakteur aufgewertet. Tobias Reinthaller frönt als Jockey und Bonvivant Oberleutnant Demeter Stanzides dem Alltagsrassismus. Eine Idealbesetzung ist Michaela Klamminger als schöne, kluge, vergeblich in Georg verliebte, nichtsdestotrotz leichtfüßige Else Ehrenberg. Als Vater und Sohn Stauber überzeugen Joseph Lorenz, sein Doktor Stauber sen. selbstverständlich Schnitzler vom Feinsten, und Oliver Rosskopf, als ebenfalls Arzt und sozialistischer Abgeordneter ein Ehrenwerter in dieser Gesellschaft.

Zwischen Kulturdebatten über Kunst als Mittel zu Propaganda und Agitation, zu blütenweiß-grell erleuchteten Albtraumbildern, erweitert sich die Kluft zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten, der vielstimmige Chor der Salonière Ehrenberg zerfällt in gequält grüblerische Einzelgänger. Einzig ihre gebrochenen Herzen sind noch ineinander verwoben, so zeigt das erste Bild nach der Pause: alle Darstellerinnen und Darsteller auf langer Bank aufgereiht, in parallele Dialoge verstrickt, sich selbst und die anderen beobachtend, mit dem Selbst- und dem Fremdbild ringend, all dies dargeboten in einem steten Changieren zwischen Drama, Lakonie und Sarkasmus, die k.u.k. Oberfläche, die Oberflächlichkeit der besseren, der gutbürgerlichen Leut‘ von Janusz Kica ausgeleuchtet bis in ihre impertinente Bodenlosigkeit.

„Der Weg ins Freie“, so ist in dieser Aufführung zu lernen, ist ein innerer, verbunden mit Charakterprüfung, Gewissenserforschung, dem täglichen Versuch, auf dem Pfad der Menschlichkeit und des Mitgefühls nicht zu straucheln. Dies das Private, was das Politische betrifft: Wehret den Anfängen! Immer! Jetzt!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=GPWEsZfVoL4             www.josefstadt.org           www.susannewolf.at

  1. 9. 2021

Kosmos Theater online: Fight Club Fantasy

Februar 17, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Anarchistische Farce über den Faschismus

Tyler Durden als Hohepriester seiner fellbemützten Proud Boys: Thomas Frank mit Hanna Binder und Nicolas Streit. Bild: © Bettina Frenzel

“Du bist nicht deine Arbeit. Du bist nicht dein Kontostand. Du bist nicht das Auto, das du fährst. Du bist nicht der Inhalt deiner Geldbörse. Du bist nicht deine scheiß Cargohose. Du bist der singende und tanzende Abschaum der Welt.” Schon gut, schon gut, Regel eins und zwei: Man redet nicht über den Fight Club. Wenn einem aber das Kosmos Theater in Koproduktion mit wirgehenschonmalvor eine „Fight Club Fantasy“ präsentiert, die mitten rein schlägt in die Realität –

was soll man machen, außer über ein paar Wahrheiten zu sprechen? Viel wurde um den Roman von Chuck Palahniuk gedeutelt, da braucht’s gar nicht, mit des Autors Mitgliedschaft in der Cacophony Society und deren Verbindungen zum Suicide Club of San Francisco anzufangen. Ganze Bücher wurden verfasst, von Andreas Köhler eines über Kastrationskomplex, Ich-Spaltung, Narzissmus, Sadomasochismus und Todestrieb. Palahniuks Schreibfaust ist eine Southpaw, und Regisseur Matthias Köhler nutzt den Rechtsausleger nun für seinen Theater-Film-Hybrid, wobei ihm die kritische Betrachtung der Angry White Men zur anarchistischen Farce über die Mechanismen des Faschismus gerät.

Dass er dabei eng an der Buchvorlage bleibt, ist so erstaunlich wie erfreulich. Nicolas Streit, Thomas Frank und Hanna Binder spielen im Wesentlichen die Palahniuk-Charaktere des namenlosen Erzählers/Protagonisten, von Tyler Durden und Marla Singer, Nestroy-Publikumspreisträger Frank außerdem hinreißend – und mit beachtlicher Körbchengröße – „Bob“ aus der Hodenkrebs-Selbsthilfegruppe „Wir bleiben Männer“.

Und darum geht’s – samt eines Kommentars zur konsumistischen Kultur und deren Gier – im Geheimkampfbund: die gesellschaftlich abgehängten jener sogenannten Mittelklassemänner, die sich von der „Gleichmacherei“ Frauen-Farbige-soziokulturelle-Diversität bedroht fühlen. Politkonservative Angstmache und der Ruf nach welche-auch-immer Traditionen befeuern Verschwörungstheorien und die Furcht vor dem Verlust eines Status‘, der vor gar nicht langer Zeit als gottgegeben galt. „Mann, im Fight Club sehe ich die stärksten und klügsten Männer kämpfen, die jemals gelebt haben. Ich sehe all dieses Potential und ich sehe die Verschwendung. Verdammt, eine gesamte Generation zapft Benzin, räumt Tische ab oder sie sind Bürosklaven in Anzügen.“

Tyler besiegt den Protagonisten im Kampf: Thomas Frank und Nicolas Streit. Bild: @ Bettina Frenzel

Hanna Binder als Marla Singer, Nicolas Streit und Thomas Frank im Batik-Dashiki. Bild: © Bettina Frenzel

Hodenkrebs-Selbsthilfegruppe „Wir bleiben Männer“: Thomas Frank als Bob. Bild: © Bettina Frenzel

Dass ihre Men-Only-Welt am Abgrund steht, kann einem schon die Watschen geben, die die Clubmitglieder sich gegenseitig austeilen. Nach einiger Überlegung soll, für die Handvoll, die weder Roman noch den David-Fincher-Film kennen, der Clou hier nicht verraten werden, aber kaum weit hergeholt ist angesichts der fellbemützten Darstellerin und Darsteller der Konnex zum Sturm aufs Washingtoner Kapitol am 6. Jänner: Jake Angeli, der Recke mit der Büffelhorn-Kojotenschweif-Kopfbedeckung ist Anhänger der QAnon-Lehre und Schamane der Star Seed Academy. Und hier setzt Köhler an.

Beim Project Mayhem / Projekt Chaos, Tylers Plan, sich die Handlungsmacht zurückzuerobern, mit einer auf Krawall getrimmten Truppe, die zwecks Destabilisierung der öffentlichen Ordnung Angriffe auf ebendiese unternimmt, Frank dabei ganz Guru, ein Esoteriker, mal im Thawb, mal im Batik-Dashiki, ein Geistführer mit Muschelkette und Mediator- wie Meditationsqualitäten, schließlich von Kostümbildner Ran Chai Bar-zvi angetan als Papst, als Hohepriester seines Irrglaubens. Bis es zum ersten Kampf kommt. Einem Schattenboxen, das Hanna Binder und Eva Jantschitschs Stimme mit dem Björk-Song „It’s Oh So Quiet“ begleiten. Bis die namenlose, im Abspann als „Lost Boy“ geführte Streit-Rolle zum Proud Boy wird. Und unterm Dashiki/Thawb die Springerstiefel und die Schusswaffe sichtbar werden.

Gleich Tylers „Nur eine Krise kann uns zu neuem Leben erwecken“-Sprüchen läuft Derartiges über den Bildschirm: „Bis der #Schmerz umschlägt in #Lust“, „Eines Tages wirst du sterben, und solange du das nicht weiß, bist du #nutzlos“. Bei der gemeinsamen Lektüre der Men’s Health erfährt man, dass Body Shaming auch ein Männerthema ist: (aus der aktuellen Online-Ausgabe) „So rettest du deinen Sixpack im Lockdown“, „So nimmst du zehn Kilo in acht Wochen ab“, „So kommst du mehrmals zum Höhepunkt“ … Ach, das schwache starke Geschlecht. Darauf ist ein Ekstase-Tanz im Seifenblasenhimmel angesagt, für Tyler ist Seife ja ein wichtiges Thema. Und irgendwo auf dem Weg zur Mannwerdung wird der Jekyll zum Hyde.

Ein Tänzchen mit Seifenblasen und den Bee Gees: Hanna Binder, Nicolas Streit und Thomas Frank. Bild: © Bettina Frenzel

Stark agiert das Trio infernal, Streits identitätskriselnder Nobody im – und wer führt den nicht? – Kampf gegen sich selbst, Franks Tyler, der mit einem Wimpernschlag von gemütlich auf gemeingefährlich switchen kann. Hanna Binders Marla ist der Katalysator fürs Kriminelle, des einen Mannes Leid, des anderen Freud, sie lässt die Buben zwischen Lust und Frust hängen, mal lautstarkes Extremisten- liebchen, mal Mauerblümchen auf Selbstmord- trip. Immer wieder arbeiten sich die drei in Bewegungschoreografien auf der Zuschauer- tribüne ab. Die mangels Livepublikum leeren Sitzreihen, das Bühnenbild von Thomas Garvie, fungieren gleichsam als pseudo-urbanes Gefälle.

Zur Musik von Eva Jantschitsch – und ein wenig Bee Gees-„I Started A Joke“-Karaoke – fallen Gänsehautsätze über „unsere Welt“ und ein „Alles zerstören, was man nicht haben kann“. Unterm Schwenken von Riesenfahnen, und ein Schelm, wer an den Karlsplatz am 13. Februar denkt, will Tyler seine Mannschaft „aus der Dunkelheit ans Licht führen“: „Die Kämpfe dauern so lange, wie sie dauern müssen“ wird eingeblendet. Die Männerbündler, ein gesichtsloser, gewalttätiger und für andere destruktiver Kader, dessen Lebensanschauungen in den Faschismus führen können, sie sind es, die „Fight Club Fantasy“ vorführt. Die Frage, wo der Männerverstand ins Toxische abgeglitten ist, kann letztlich aber nur behandelt, nicht beantwortet werden, und die Setzung des Bühnenfilms bringt’s mit sich, dass die Kellerkämpfe verhandelt, nicht ausgetragen werden können.

Doch apropos, Parallelgesellschaft, Tarnkleidungstrottel, Radikalrandalierer: Neue Videos aus dem US-Kapitol legen nahe, dass der Angriff vom 6. Jänner koordiniert wurde. Ex-Präsident Trump lässt sich derweil in Florida von Anhängern bejubeln. Man muss nicht besonders dystopisch denken, um zu vermuten, dass er 2024 – vielleicht sogar mit eigener Partei – den Wiedergänger gibt. In Österreich mischen sich derweil angegraute Neonazis und Identitären-„Führer“ unter Anti-Corona-Spaziergänger.

Der Roman endet mit dem Un-/Heilsversprechen „Alles läuft nach Plan. Wir werden die Zivilisation zerstören, damit wir etwas Besseres aus dieser Welt machen können. Wir freuen uns, Sie schon bald wieder bei uns zu haben.“ Im Kosmos Theater singen The Wailin‘ Jennys „Light of A Clear Blue Morning“.

On demand bis 20. Februar: kosmostheater.at/blog

kosmostheater.at          Trailer: www.youtube.com/watch?v=GjLXhIPyvsk

  1. 2. 2021

Landestheater NÖ online: Erleichterung

Februar 12, 2021 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Árpád Schillings Meisterwerk im Stream

Schriftsteller Felix kämpft mit mehr als nur einer Schreibblockade: Michael Scherff. Bild: Alexi Pelekanos

Mit dem Hashtag #wirkommenwieder streamt das Landestheater Niederösterreich aus seinem Archiv. Ab dem 19. Februar ist nun „Erleichterung“, ein von Publikum und Kritik heftig akklamiertes Theaterprojekt von Árpád Schilling zu sehen. Hier die Rezension vom Dezember 2017:

Das bröckelnde Bürgerhaus neu verputzt

Beim Satz, man könne doch alle Flüchtlinge in klimatisierten Bussen nach Wien schicken, wird natürlich gelacht. Sein Wahrheitsgehalt ist ja noch frisch im Gedächtnis. So ist das, wenn der ungarische Regisseur Árpád Schilling Theater macht, immer ein Versuch, die Wirklichkeit zur Kenntlichkeit zu entstellen.

Seine jüngste Versuchsanordnung wurde Freitagabend am Landestheater Niederösterreich uraufgeführt: „Erleichterung“. In diesem Fall eine Familiengeschichte. Das Politische im Privaten. Schilling zeigt, wie dünn der Firnis von Zivilisation und Zivilcourage ist, von dem wir uns zum ersten so gut geschützt, zur zweiteren so kämpferisch bereit fühlen. Er zeigt, wie schnell im Zweifelsfall eine gutbürgerliche Fassade bröckelt, und wie schnell sie sich neu verputzen lässt.

Eine messerscharfe Analyse. Schwarzer Humor. Die Gesellschaftsschelte sitzt diesmal in den eigenen Knochen. Freilich, Orbán weht’s durch alle offenen Ritzen dieses Abends. Schilling wurde vom Ausschuss für Nationale Sicherheit des ungarischen Parlaments zum „potenziellen Vorbereiter staatsfeindlicher Aktivitäten“ erklärt. Darauf gilt es zu reagieren. Das Landestheater NÖ hat es getan, der steirische herbst, das Burgtheater, wo Schillings „Eiswind“ läuft, ebenfalls – auch dies ein Stück über die Fragilität der „Festung Europa“ und ein neues Salonfähig-Machen von Nationalismus …

Für St. Pölten haben Schilling und seine Co-Autorin Éva Zabezsinszkij zwei Handlungsstränge zu einer Geschichte verwoben. In deren Mittelpunkt steht der Schriftsteller Felix, der an mehr als nur einer Schreibblockade laboriert. Seine Frau Regina, die Vizebürgermeisterin der Stadt, engagiert sich für ein Asylbewerberheim; sein Vater Wolfie, nicht nur politisch der Platzhirsch, möchte stattdessen ein Sportcenter errichten. Das Töchterchen rebelliert.

Da offenbart Felix ein düsteres Geheimnis aus seiner Vergangenheit: Er hat vor 23 Jahren ein Kind mit dem Auto schwer verletzt und Fahrerflucht begangen. Im gehbehinderten Tankstellenwart Lukas glaubt er, dieses Kind zu erkennen. Die Familie lädt den Fremden ein. Doch als sich Tochter Johanna Lukas annähert, stellt die Mutter klar: So ein körperlich Versehrter passt ihr nicht ins Haus …

In bester Krétakör-Manier wird auf schwarzer Bühne gespielt. Das Saallicht ist an. Die Mittel, auch die darstellerischen, werden sparsam eingesetzt. Formal schnörkellos, dabei von großer Intensität und erzählerischer Dichte, so ist sie stets, Schillings Theatersprache. Wenige Versatzstücke, ein Tisch, ein paar Sessel, eine Matratze genügen. Eine Schokoladentorte wird auch zum Verdauungsendprodukt.

Johanna nähert sich dem behinderten Lukas: Cathrine Dumont und Tim Breyvogel. Bild: Alexi Pelekanos

Versuch einer Aussprache zwischen Regina und Felix: Bettina Kerl und Michael Scherff. Bild: Alexi Pelekanos

Michael Scherff spielt den Felix hart an der Grenze zur völligen Verzweiflung, er spielt sich im Wortsinn blutig. „Würde ich mich selbst erkennen, würde ich nie wieder schreiben“, sagt er an einer Stelle. Wie sein Gewissen kommt immer wieder eine Gegenstimme aus dem Zuschauerraum; es ist schon die von Lukas, Tim Breyvogel, der die ganze Aufführung über wie entfesselt agiert und eine körperliche Höchstleistung bietet.

Helmut Wiesinger ist als Patriarch Wolfie ganz Gemütsmensch, so lange alles nach seinem Willen geht. Bettina Kerl mimt als Regina die guten Absichten, die Frau, die Kleinstadt und Familie samt kindischem Ehemann managt, Cathrine Dumont ist als Johanna angemessen aufsässig.

Und dann treibt Schilling die Inszenierung in die Eskalation. Vorurteile werden für den eigenen Vorteil flugs gefällt. Opportunismus allüberall. Die ach so guten Menschen fallen aus ihren Mustern, wenn sie plötzlich von ihren Schutzbefohlenen selbst betroffen sind. Der Paradebehinderte ist nicht weniger Ausländerfeind als der Großunternehmer, nur wünscht er sich überdachte Fußballplätze statt des Sportcenters. Fragen kommen auf, wofür man Geld „rauswirft“, und wenn einer sagt, „Wo Araber sind, da gibt es auch Angst“, oder man müsse statt für sie „für die eigenen Krüppel“ was tun, dann ist das schon gruselig. Schilling fährt frontal ins Publikum.

Am Ende wird das Fremde entfernt worden sein. Wird geopfert worden sein fürs häusliche Wohlergehen. Die Familie hat sich gestritten und versöhnt. Man versammelt sich am Frühstückstisch, und Felix erklärt: „Ich habe eine Idee für einen neuen Roman.“ „Wir reden immer von Interessen, Interessen, Interessen …“, sagte Árpád Schilling in einem Interview, „die Menschenrechte interessieren weniger.“ Zur Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27582

Trailer: www.youtube.com/watch?v=zeJd9kKn4ok           www.landestheater.net

12. 2. 2021