Colm Tóibíns „Brooklyn“ im Kino
Januar 21, 2016 in Film
VON MICHAELA MOTTINGER
Eine Nostalgie über Migrantenschicksale

Saoirse Ronan und Emory Cohen
Bild: © 2015 Twentieth Century Fox
Kitsch? Kitsch ist keine Kategorie. Bester Film, bestes Drehbuch und beste Hauptdarstellerin sind’s. Und in diesen ist „Brooklyn“ für den Oscar nominiert. John Crowley hat den Roman von Colm Tóibín verfilmt, das Drehbuch dafür hat ihm Nick Hornby geschrieben. Was hat man in diesem Roman gewohnt. Mit den Protagonisten gelebt, geliebt, gelitten. Allein die Szene, in der die junge Eilis einen Badeanzug fürs erste Rendezvous kaufen will, ist das Lesen wert.
Der eine macht zu blass, der andere zu dicke Oberschenkel, der dritte ist zu freizügig. Tóibín hat tief in die Frauenseele geschaut. Und nicht nur in sie. Er berichtet davon, wie es ist fremd zu sein. An zwei, nicht an einem Ort, eine grundlegende Erfahrung aller Emigranten. Ein Emigrant hat nicht die alte Heimat verloren, sondern keine neue Heimat gewonnen, sagte Stefan Zweig. „Brooklyn“ ist ein zartes Buch. Von einer Wehmut, die das Herz erwärmt. Umhüllt von feinem Humor. Und das Ende ist zum Glück … Der Film nun zerkocht das Gemüt. Wo Tóibín subtil und zwischen den Zeilen das Schicksal irischer und italienischer Auswanderer in die USA der 1950er Jahre gesellschaftskritisch durchleuchtet, setzt Crowley auf Nostalgie und deren zauberhaft schöne Bilder. Sein „Brooklyn“ erscheint als ahistorische Fantasie in güldenem Sonnenschein. Koreakrieg und Kommunistenhetze? Das muss anderswo gewesen sein.
Tóibín erzählt eine einfache Geschichte. Das irische Mädchen Eilis Lacey geht, weil es daheim keine Arbeit und ergo keine Zukunft gibt, nach New York. Das heißt, sie wird von der Mutter, ihrer Schwester und vom Herrn Pfarrer verpflanzt, soll sie doch monatlich Geld an die Lieben nach Hause schicken. Sie wird in einer Pension für junge Frauen untergebracht und der Obhut eines irischen Priesters überantwortet. Sie nimmt eine Arbeit in einem Modekaufhaus an, in dem bald die ersten schwarzen Frauen shoppen werden, sie geht in den Buchhaltungskurs der Abendschule, sie nimmt an den Aktivitäten der katholischen Gemeinde teil. Sie geht nur zögerlich zum Tanz, bei dem sich einige Italiener unter die Iren mischen. Und sie verliebt sich. In den Italo-Amerikaner Tony, der in der Neuen Welt bereits große Pläne geschmiedet hat. Eine Familie, ein Geschäft, ein bisschen Wohlstand, davon träumt der Sizilianer. Eilis zögert. Lange. Und weil ein schreckliches Unglück geschehen ist, muss sie zurück nach Hause. Wo sie erkennt, dass sie nicht mehr zu Irland, sondern, wenn schon nicht zu den USA, doch immerhin zu Tony gehört.
Zu einer einfachen Geschichte gehören komplizierte Gefühle. Tóibín nähert sich ihnen aus Eilis‘ Perspektive. Leise, ohne Pathos, aber mit großer Präzision, entfaltet er ein Menschenleben im Transit. Eines, dessen Körper schon „da“ ist, dessen Geist und Seele aber noch „dort“ sind. Wie modern das dieser Tage wieder erscheint, dieses Thema Migration, dieses nicht Ankommen im Angekommensein. In Brooklyn ist Eilis ein Niemand, ohne Freunde und Familie, ohne Erinnerungen an Orte oder Menschen, ein Gespenst, dem nichts etwas bedeuten kann, weil es nichts wiedererkennt. Trist ist das. Doch Leben wehrt sich. Und in einer der schönsten Szenen im Buch schildert der Autor den Aufbruch zum bunten Abend im Pfarrhaus, die erste Begegnung der strenggläubigen Irin mit den flotten, lebenslustigen und, ja, ein wenig vom Rotwein angesäuselten Italienern. Wo Menschen sind, ist Hoffnung, heißt das. Gemeinsam feiern bringt die Leute zusammen. Egal, aus welchem Land sie ursprünglich kommen mögen, wo gelacht wird, öffnet sich die Welt.
Dem allen spürt der Film in seiner Weise nach, versteht es jedoch nicht Eilis‘ Coming-of-Age-Geschichte in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Talent und Charme sind den Hauptdarstellern Saoirse Ronan als Eilis und Emory Cohen als Tony zwar nicht abzusprechen, aber ihre beiden Rollen zerlaufen in einer von Nick Hornby verschuldeten Bedeutungslosigkeit. Was im Falle Eilis‘ besonders schmerzt, gibt es doch ohnedies wenig Stoffe, die aus weiblicher Sicht erzählt werden. Hier steht die Frauenfigur für nichts außer sich selbst – und nicht einmal das in irgendeiner Weise charakteristisch. Sie ist weder Spiegel ihrer Zeit noch deren Gegenentwurf, sondern in manchen Fällen einfach eine Trutschn, etwa wenn Spaghetti als das unbekannte Nahrungsmittel zu beträchtlichen Wickeln führen. Bei Tóibín, im Kontext der irisch-italienischen Annäherung, liest sich das weniger peinlich. Doch das Unbekannte mit Eilis Augen zu erkunden, interessierte die Filmemacher offenbar nicht. Crowleys konventionell-angestaubter Blick ruht vielmehr leicht abschätzend auf ihr. Der Regisseur setzt auf Ausstattung statt auf Tiefe. Nach und nach werden die Bilder bunter, die Kleider modischer … das ist zu schlicht und harmlos. Nur weil einem Tóibín das Abgründige nicht um die Ohren schmeißt, bedeutet es nicht, dass es in seinem Buch nicht existiert.
Zum Glück weiß Saoirse Ronan, wie man einen Film trägt. Ihre Leinwandpräsenz ist phänomenal. Von „Abbitte“ bis „Grand Budapest Hotel“ hat sie sich ihre erste Hauptrolle verdient erarbeitet, nun ist ihr reduziertes Auftreten, ihr leichtes, intelligentes Spiel das Beste am Film und das Beste für Colm Tóibín. Ihretwegen braucht man sich nicht zu scheuen, sich der Kino-Romanze hinzugeben. Wie sich ihre Eilis vom zurückhaltenden Mauerblümchen zur selbstbewussten jungen Frau mausert ist allemal sehenswert. Kitsch? Kitsch ist keine Kategorie. Aber Ronan ist eine würdige Oscar-Kandidatin.
Buchtipp: Hanser Verlag, Colm Tóibín: „Brooklyn“, Roman, 304 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Giovanni Bandini und Ditte Bandini. www.hanser-literaturverlage.de
Wien, 21. 1. 2016