Neil Gaiman: Nordische Mythen und Sagen

Oktober 24, 2019 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Wissen, wo der Hammer hängt

Adolf Hitler war eigentlich kein Fan des Langhaarigen. Der „Führer“ bevorzugte die Frisuren kurz, mit Undercut und Seitenscheitel. Die nordischen Götter und Helden leider schützten ihre Wallemähnen nicht vorm Dritten Reich, das deren Neun-Welten-Geschichten für seine Zwecke missbrauchte. Heinrich Himmler als NS-Hobbygermanologe und Rassenmetapyhsiker Alfred Rosenberg verbissen sich geradezu in diese vorchristliche Mythologie, um ihrer Wahnsinnsideologie ein „historisches“ Fundament zu geben.

Der Wewelsburgherr faselte bevorzugt von „nordisch-teutschem Blut“, entstellte als Symbol für die SS die Sowilō, die Sonnen-Rune, und hieß seine 5. Panzer-Division „Wiking“. Ergo war die „Edda“ im deutschsprachigen Raum für Jahrzehnte angepatzt, und blieb es bis heute, nicht zuletzt, weil nach den Alt- die Neonazis die fatale Verehrung weitertreiben, als hätte es dazwischen kein „tausendjähriges Reich“ gegeben. Schade um diesen großartigen Sagenzyklus. Möchte man meinen, gäbe es nicht Neil Gaiman, seines Zeichens Fantasy-Autor und bereits im zarten Alter von sieben Jahren von den „Mighty Thor“-Abenteuern eines Jack Kirby und eines Stan Lee fasziniert – einem Thor ganz ohne Steinar.

Gaiman weiß, wo der Hammer hängt. Seit Anbeginn seines Schriftstellerdaseins arbeitet er daran, den Allvater und seine Angehörigen zu rehabilitieren, hingerissen von der Idee, dass deren Legenden „von Menschen stammen, die ihren Göttern nicht über den Weg trauten, sie nicht einmal wirklich mochten, auch wenn sie sie respektieren und fürchteten.“ So formuliert er‘s in seinem neuen Buch „Nordische Mythen und Sagen“, ein schmaler Band zwar, doch auch dank des gut gemachten Glossars ein Kompendium, das durchaus in den Rang von Gustavs Schwabs „Sagen des klassischen Altertums“ zu heben ist. Als Quelle nennt Gaiman den isländischen Skalden Snorri Sturluson, dessen Prosa-Edda-Stil er schön schnoddrig modernisiert, die Dialoge rotzig frech, die Dinge – Sex & Met & Rock’n’Roll – rücksichtslos beim Namen genannt, das Ganze eine vom braunen Ballast befreite Original-Gaiman-Version, heißt: clever, lässig, witzig.

Natürlich ist der nun erzählte Odin nicht mehr der Trickbetrüger Mr. Wednesday aus den „American Gods“, der Donnergott nicht deren tumber Haudrauf und Loki nicht der Lügner Low Key Lyesmith. Doch liest sich die Charakteristik eines Gottes beispielsweise so: Als Thor, „Gott des Donners, Mächtigster aller Asen, Tapferster und Stärkster in jeder Schlacht“ morgens noch halb verschlafen merkt, dass sein mächtiger Hammer Mjöllnir verschwunden ist, macht der Rotbärtige, was er laut Gaimans Lesart stets tut, wenn etwas Seltsames geschieht: „Als erstes fragte er sich, ob Loki dahintersteckte. Dieser Gedanke kam ihm auch jetzt. Doch er glaubte, dass nicht einmal Loki es gewagt hätte, seinen Hammer zu stehlen. Also tat er, was er stets als Zweites tat, wenn etwas schiefging: er machte sich auf, um sich Lokis Rat zu holen.“

Gaiman schildert, wie Odin für mehr Wissen und Weisheit sich erst neun Tage lang an der Weltenesche Yggdrasil erhängte, bevor er an Mimirs Brunnen sein linkes Auge dafür gab, er beschreibt Loki als klügsten Asgard-Bewohner, allerdings auch als den bösesten, weil in ihm „so viel Wut, so viel Neid und so viel Wollust“ gärt. Von den unzähligen Überlieferungen wählt Gaiman die aus, in der der dreiste Riese Thrym als Dank für seine Dienste an den Asen die Vanin Freyja zur Frau will, zur Hochzeit aber Loki samt dem als Braut verkleideten Thor anreist, was dem Geschlecht der Thursen ein letales Ende beschert.

Bild: pixabay.com

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Oder jene, in der Loki Thors Gattin Sif im Übermut die blonden Locken vom Kopf stiehlt, und nach Androhung von Mord und Totschlag, wiewohl die Götter immer wieder auferstehen, die Zwerge anflehen muss, ihr neues Haar aus Echtgold zu schmieden. Man erfährt von der Erschaffung der ersten Menschen Ask und Embla, von den Walküren und Walhall, liest von Odins Raben Huginn, dem Gedanken, und Muninn, der Erinnerung, und Odins achtbeinigem Pferd Sleipnir, von Thors Streitwagenziehern, den Ziegenböcken Grinser und Knirscher, und bekommt erklärt, warum Odins Sohn Vidar, der stille und verlässliche Gott, einen Schuh aus dem Leder aller je weggeworfenen Schuhe trägt …

Mit seiner Schuld an Balders Sterben, dieser Odins zweiter Sohn, so herrlich, dass er jeden Ort erhellte, und von allen geliebt, geht Loki endgültig zu weit. Der Gestaltenwandler wird unter einer Schlange festgebunden, deren Gift unaufhörlich auf ihn herabtropft, während Lokis ob seiner Schmerzen weinende Frau Sigyn es in einer Schale aufzufangen versucht.

Was Gaiman offensichtlich am meisten packt, sind die Ragnarök, sind Götter, die zu Anfang schon um ihr Ende wissen. Drei Jahre wird die Schlacht dauern, gegen die das Armageddon wie eine Rangelei unter Halbstarken wirkt. Lokis Monsterkinder treten gegen die sie ein Leben lang betrogen habenden Götter an, Odin ringt mit dem Fenriswolf, der ihn verschlingt, Thor mit der Midgardschlange, die er zwar tötet, jedoch trotzdem deren Gift erliegt. Loki kämpft gegen den Wächter über Asgard, Heimdall, auch sie erschlagen sich gegenseitig. Schließlich schleudert der Feuerriese Surt eine Waffe und löst damit den Weltenbrand aus.

So überwältigend ist das alles, dass man als jemand, der sich offenen Herzens durch die 40 Lieder der Edda gelesen hat, nur fassungslos sein kann über den Unglückssager eines deutschen Schauspielers und Regisseurs, der an der Staatsoper den „Ring“ mit dem Satz inszenierte, die Nordgötter mit ihren Hörnerhelmen seien primitiv gegen den Götterkosmos der Griechen und Römer.

Wie’s ausgeht? Nach dem Weltuntergang werden zwei Menschen, die sich im Stamm des Weltenbaums versteckt hatten, eine Frau namens Leben, ein Mann namens Lebenswille, die Erde neu bevölkern. Odins Söhne Vidar und Vali werden erscheinen, Thors Söhne Modi und Magni Mjöllnir mit sich tragen, Balder wird aus der Hel zurückkehren. Im Gras werden sie goldene Schnitzereien finden, Schachfiguren – und sich ums Spielbrett setzen. Sie ziehen mit Königin Frigg, dem Läufer-Reifriesen, Balder erkennt sich in einer der Figuren wieder. „Und so beginnt das Spiel von Neuem.“

Über den Autor: Neil Gaiman, geboren 1960 in Portchester, England, hat mehr als vierzig Bücher geschrieben und ist mit jedem Preis ausgezeichnet worden, der in der britischen und amerikanischen Fantasy- und Comicszene verliehen wird. Am bekanntesten wurden seine Graphic-Novel-Serie „Sandman“ und der gefeierte Roman „American Gods“, der als TV-Serie verfilmt Fernsehgeschichte schrieb und 2015 bei Eichborn als überarbeitete „Director’s Cut“-Ausgabe erschien. Im Jahr davor kam sein Schauerroman „Der Ozean am Ende der Straße“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=12029) heraus, erst im April dieses Jahres seine Shortstory- und Gedichtsammlung „„Zerbrechliche Dinge. Geschichten und Wunder“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=32704). Vor einiger Zeit zog Gaiman, Vater von vier Kindern und verheiratet mit der Musikerin Amanda Palmer von „The Dresden Dolls“, in die USA um; heute lebt er in Cambridge, Massachusetts, und träumt dort von einer unendlichen Bibliothek.

Eichborn, Neil Gaiman: „Nordische Mythen und Sagen“, Fantasy, 253 Seiten. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von André Mumot.

www.luebbe.de/eichborn           www.neilgaiman.com

THEATERTIPP: Heidenspaß mit Göttern, Monstern, Helden – „Die Edda“ im Burgtheater, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=35418

  1. 10. 2019

Neil Gaiman: Zerbrechliche Dinge

April 9, 2019 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Skurrile Träume einer schauderhaften Wirklichkeit

In der Nacht kratzt ein Federkiel über Papier. In der Bibliothek seines Schlosses versucht ein junger Schriftsteller, zweifellos ein Mann des viktorianischen Zeitalters, einen Roman zu verfassen. Kein leichtes Unterfangen, ist die Dunkelheit doch voller Geräusche und Gestalten. Der Ghul in der Gruft, die kichernden Stimmen in der verfallenen Abtei, die keinesfalls menschlichen Augen, die aus dem Porträt des Ururahnen auf den Autor blicken, die angekettete Tante Agatha, die unterm Dach zetert und schreit … Sie taugt nichts, seine Geschichte von der im Spukhaus gefangenen Maid Amelia Earnshawe, stellt der Dichter fest.

Der Rabe, der auf einer weißen Marmorbüste hockt, rät ihm, „dieses lebensechte Zeug“, das er da hinkritzelt endlich sein zu lassen – und sich der Fantastik zu widmen. „Ich bin Klassizist“, empört sich der Literat und nennt „Udolpho“, „Das Schloss von Otranto“, „Die Handschrift von Saragossa“ als seine Vorbilder. Hingegen die Gothic Novels mit ihren Themen Börsenmakler, frustrierte Hausfrauen und Polizeieinsätze – „Reinster Eskapismus!“ Trotzdem setzt er sich hin und versucht es. Und während die Worte mit Blut geschrieben werden und Blitze über den Himmel zucken, verwandelt sich seine Geschöpf Amelia.

Sie, die eben noch mit den Mächten der Finsternis rang, steckt zwei Scheiben Vollkornbrot in den Toaster, gießt Orangensaft in Gläser und fragt ihren Ehemann George „Rührei oder ein wachsweiches?“ Und über die Lippen des Schriftstellers gleitet ein zufriedenes Lächeln. Weil er weiß, dass ihm nun etwas wunderbar Sonderbares gelungen ist … „Verbotene Bräute gesichtsloser Sklaven im geheimen Haus der Nacht grausiger Gelüste“ heißt diese Short Story von Neil Gaiman, eine von 31, darunter auch ein paar Gedichte, mit dem Sammeltitel „Zerbrechliche Dinge“, die der Eichborn Verlag nun als Paperback herausgebracht hat. Eine Selbstparodie aufs Leiden an der Autorschaft, die wohl am besten Gaimans im doppelten Wortsinn ungeheuren Humor und sein Faible für verkehrte Wirklichkeiten illustriert. Gaimans Texte sind schauderhaft, skurril, spannend, Reverenzen an Ray Bradbury, Harlan Ellison oder Robert Sheckley, denen er den Band als „Meister ihres Fachs“ auch widmet. Wobei Gaiman diesen Großen mit mehr als vierzig Veröffentlichungen und der Auszeichnung mit jedem nur erdenklichen Preis der Fantasy- und Comic-Szene in nichts nachsteht.

Zu seinen bekanntesten Werken zählen die „Sandman“-Serie, der Roman „American Gods“, und auch das Drehbuch von Robert Zemeckis‘ „Beowulf“, verfilmt mit Angelina Jolie als Grendels Mutter, stammt von ihm. In „Zerbrechliche Dinge“ bewegt sich Gaiman gekonnt zwischen den Genres Science-Fiction, Horror und dem guten alten Schauerroman. Er lässt in Dystopien Aliens die Menschheit knechten, Dämonen aus Männern die Wahrheit foltern, Santería-Priesterinnen brünstige Freier in Zombies verhexen. Er überschreibt Märchen und Mythen, „Goldlöckchen und die drei Bären“ etwa, und bietet mit „Susans Problem“ eine verstörende „Narnia“-Fassung an. Nur so viel: Es kommt zum Sex zwischen Aslan und Jadis … Es gibt eine Blaubart-Variation, selbstverständlich eine Grendel-Story, Scheherazade kommt vor, und Sherlock Holmes. Der in „Eine Studie in Smaragdgrün“ (statt Scharlachrot) den Mord an einem grünblütigen Neffen von Königin Victoria aufklären soll, die Queen hier eine riesenhafte, tentakelbewehrte Invasorin aus dem All, die „Albion“ vor Aberjahrhunderten unterworfen hat, Dr. Watson ein ganz anderer als er scheint.

Viele seiner Einfälle kämen ihm in Albträumen, sagt Gaiman, und immer wieder spricht er in seinen Erzählungen die Leser in Ich-Form an. Manche sind auch Auftragsarbeiten. „Strange Little Girls“ hat er für das Booklet der gleichnamigen CD seiner langjährigen Freundin Tori Amos geschrieben. „Es gibt hundert Dinge die sie fortscheuchen wollte Dinge an die sie sich nicht erinnert und an die sie nicht einmal denken will denn sonst schreien die Vögel und kriechen die Würmer und irgendwo in ihrem Verstand geht ein unaufhörlicher Nieselregen nieder“, kann er’s darin poetisch. „Harlekin Valentin“ entstand für eine Plastik von Lisa Snellings-Clark, ein Riesenrad, für das die Künstlerin pro Fahrgast einen Text haben wollte – Gaiman entschied sich für den Ticketverkäufer. „Sonnenvogel“, die Geschichte eines Gourmet-Geheimbundes, der sich auf der Suche nach der nächsten kulinarischen Köstlichkeit buchstäblich den Mund und mehr verbrennt, war ein Geburtstagsgeschenk an die älteste Tochter Holly.

Mit der Humpty-Dumpty-Vokabel „grausfährlich“ benennt Neil Gaiman sein Werk, die Welt seiner Geschichten bezeichnet er als „Zerbrechliche Dinge“: „Sie bestehen aus nichts Belastbarem, lediglich aus sechsundzwanzig verschiedenen Buchstaben und einer Handvoll Satzzeichen“, manche aber „haben die Menschen überlebt, die sie erzählten, und manche davon haben sogar die Länder überdauert, in denen sie erfunden wurden.“ Juwelen, die von Gaiman neu gefasst werden. Zum Schluss noch einen Witz: „,Sie fragten Saint Germains Diener, ob sein Herr wirklich tausend Jahre alt war, wie er angeblich behauptete. ,Woher soll ich das wissen?‘, erwiderte der Mann. ,Ich stehe erst seit dreihundert Jahren in seinen Diensten.‘“

Über den Autor: Neil Gaiman, geboren 1960 in Portchester, England, hat mehr als vierzig Bücher geschrieben und ist mit jedem Preis ausgezeichnet worden, der in der britischen und amerikanischen Fantasy- und Comicszene verliehen wird. Am bekanntesten wurden seine Graphic-Novel-Serie „Sandman“ und der gefeierte Roman „American Gods“, der als TV-Serie verfilmt Fernsehgeschichte schrieb und 2015 bei Eichborn als überarbeitete „Director’s Cut“-Ausgabe erschien. Im Jahr davor kam sein Schauerroman „Der Ozean am Ende der Straße“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=12029) heraus. Vor einiger Zeit zog Gaiman, Vater von vier Kindern und verheiratet mit der Musikerin Amanda Palmer von „The Dresden Dolls“, in die USA um; heute lebt er in Cambridge, Massachusetts, und träumt dort von einer unendlichen Bibliothek.

Eichborn, Neil Gaiman: „Zerbrechliche Dinge. Geschichten und Wunder“, Shortstorys und Gedichte, 413 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Ruggero Leò, Hannes und Sara Riffel, Dietmar Schmidt und Karsten Singelmann.

www.luebbe.de/eichborn           www.neilgaiman.com

  1. 4. 2019

Neil Gaiman: Der Ozean am Ende der Straße

November 4, 2014 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Böse bei den Bauernhöfen

337991586_af068d910fNormalerweise lese ich Danksagungen am Ende eines Buches nicht. Diese hier sind allerdings aufschlussreich. Neil Gaiman dankt seinen Eltern, seiner Schwester und den Nachbarn, dass er sie sich fürs Schreiben „ausborgen“ durfte, auch wenn die Romanfiguren natürlich nichts mit ihnen zu tun haben. Die Landschaft aber schon. „Der Ozean am Ende der Straße“ beginnt mit einer Beerdigung und endet mit einer Selbstaufopferung. Der Ich-Erzähler, gerade noch Grabredner, kehrt zu jenem Bauernhof der Hempstocks -Großmutter, Mutter, Lettie – zurück, wo er als Siebenjähriger seine wunder- und grausamsten Erfahrungen gemacht hat. Wieder einmal reißt Gaiman das dünne Stück Tapete von der angenommenen Wirklichkeit, um zu zeigen, was auf der anderen Seite, der Seite der Mythen und Legenden, ist. Der Ich-Bub stolpert tollpatschig in eine Geschichte, so seltsam, so beängstigend, so gefährlich, dass sie seinen Verstand weit übersteigt.

Denn da sind Wesen. Ein Wurm, den er sich im Wald eintritt, der zum von Donner und Blitz begleiteten Flattermonster wird, schließlich zu Ichs sexy Kinderfrau, die den Vater anleitet, seinen Sohn beinah in der Badewanne zu ertränken. Da sind Schattenvögel, die ein großes Nichts hinterlassende Löcher in Himmel und Erde reißen. Und da ist selbstverständlich niemand, der ihm glaubt. Außer den Hempstocks. Auch sie sind nämlich aus dieser anderen Welt, jenseits des Ozeans am Ende der Straße, den alle Erwachsenen für einen Ententeich halten. Sie haben das Portal zu Zeit und Raum geöffnet, das das Böse zu den Bauernhöfen gebracht hat. Nichts ist, was es auf den ersten Blick scheint. Ist Oma Hempstock wirklich der Mond? Jedenfalls ist sie mächtig; ihr gehorcht alles und jeder. Die Geschichte geht nicht so gut aus. Lettie rettet Ich vor den Schattenvögeln und wird dabei so schwer verletzt, dass sie vielleicht Jahrhunderte im Ozean heilen muss. Da wacht der erwachsene Ich-Erzähler auf der Bank vor dem Ententeich auf. Ein Traum? Nein, denn Mutter und Großmutter Hempstock, nicht gealtert, immer gleich, bringen ihm Milch und Brot – und Grüße von Lettie aus dem Ozean …

Gaiman ist es gelungen einen Schauerroman in bester Tradition derer aus dem 19. Jahrhundert zu schreiben. Poetisch und voller Liebe schildert er seine braven Protagonisten, die bösen sind dieses überlebensgroß. Raffiniert lässt einem der Autor das Surreale als Realität erscheinen – mit dem Grauen-Grusel-Gänsehaut-Moment, dass die Bedrohung von außen in die Familiengeschichte des Buben eindringt. Fast ist man versucht, unterm eigenen Bett nachzusehen, ob sich dort sicher kein Butzemann versteckt hat. Was mehr an Verzauberung kann man sich von einem Fantasy-Roman wünschen?

Neil Gaiman: Der Ozean am Ende der Straße. 238 Seiten. Übersetzt von Hannes Riffel. Eichborn Verlag.

Zum Autor: Neil Gaiman, geboren 1960 in Portchester, England, hat mehr als zwanzig Bücher geschrieben und ist mit jedem Preis ausgezeichnet worden, der in der britischen und amerikanischen Buch- und Comicszene verliehen wird. Gaiman schrieb eine Vielzahl von Comics für mehrere Verlage. Am bekanntesten wurde seine Serie „Sandman“, deren Protagonist Morpheus der Herrscher des Traumreichs ist. Die 1988 gestartete Serie fand sofort großen Anklang und wurde nach acht erfolgreichen Jahren 1996 eingestellt, allerdings nicht wegen nachlassenden Publikuminteresses, sondern weil Gaiman seine Geschichte zu Ende erzählt hatte. Alle 75 Einzelausgaben wurden nach Abschluss der Serie als zehnbändige Sammlung veröffentlicht. 1992 zog Gaiman, Vater von drei Kindern und verheiratet mit der Musikerin Amanda Palmer von „The Dresden Dolls“, in die USA um; heute lebt er in Cambridge, Massachusetts. Hier entstanden seine ersten Romane, darunter „American Gods“ mit dem sich Gaiman endgültig als Romanautor etablierte.

TIPP: Gaiman-Einsteigern sei „American Gods“ empfohlen. Zentrale These des Buches ist, dass Götter und mythische Kreaturen nur deshalb existieren, weil Menschen an sie glauben. Die Immigranten brachten also Zwerge, Elfen und unzählige andere Geister oder Götter mit nach Amerika. Mit der Zeit und mit dem schwindenden Glauben der Menschen schwand auch die Macht dieser mythischen Wesen. Andere, jüngere Götter erhoben sich aus dem Bewusstsein des Volkes: Die Medien, neue Technologien, Drogen und nicht zuletzt der Kapitalmarkt. Von der erbitterten Konkurrenz zwischen neuen und alten Göttern berichtet dieses Buch. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive von Shadow, einem ebenso mysteriösen wie schweigsamen Protagonisten. Er trifft auf Mr. Wednesday, der sich recht bald als Trickbetrüger outet – und: Wotanstag – natürlich Wotan ist. Schon ist Shadow in die Abenteuer der Götter verstrickt (die Königin von Saba arbeitet als Dirne und hält sich jung und schön, indem sie beim Sex die Freier in sich hineinsaugt), denn Wotan, der afrikanische Spinnengott Anansi, Thoth, Anubis und Bastet, die Nornen und Ostara und viele mehr wollen zu einem letzten Entscheidungskampf antreten. Weil: Ein Gott, den die Menschen vergessen haben, landet verstaubt in einer uralten Museumshalle. Doch Vorsicht vor Wotan: Er hat noch Loki in der Hinterhand …

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Wien, 4. 11. 2014