Theater in der Josefstadt: Der Besuch der alten Dame

Oktober 20, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Alle Kameras sind auf Güllen gerichtet

Das Fernsehen filmt Claire Zachanassians Ankunft in Güllen: André Pohl, Siegfried Walther, Arwen Hollweg, Andrea Jonasson, Alexandra Krismer und Lukas Spisser. Bild: Herwig Prammer

Breaking News, Live-Schaltungen, Society-Berichterstattung. Ein Imagefilm des Zachanassian-Konzerns und Kinderfotos von dessen Inhaberin. Medienhype wird Medienhatz wird Medienschelte. So will es Regisseur Stephan Müller, der mit seiner Interpretation des Dürrenmatt-Klassikers „Der Besuch der alten Dame“ am Theater in der Josefstadt sein Debüt am Haus gibt. Nur wenige Monate nach der so zeit- wie ereignislosen Inszenierung der Tragiposse am Burgtheater versucht es Müller mit einem Deutlichmachen des Zeitungeists – und reüssiert damit. Lehrt er doch dem bis zum Gehtnichtmehr gesehenen Stück tatsächlich ein paar neue Tricks.

Dabei tut er der heimtückisch lehrreichen Hochkonjunktur-Komödie niemals unrecht, die offenbare Ewiggültigkeit dieser grotesk-bösen Parabel auf die korrumpierende Wirkung von – prognostiziertem -Wohlstand und die darob Krisenanfälligkeit von Rechtsprozessen bleibt unangetastet. Müller dreht die Dürrenmatt’sche Schraube sogar noch fester, bei ihm hat sich der Kapitalismus, dies sehr frei nach Peter Rüedi, demokratisiert, gleichzeitig die Gesellschaft entsolidarisiert. Und zwar ohne viel Steigerungsform, sondern von Anfang an.

Jeder geifert nach seinem Stück vom Kuchen, die Geldgier regiert Güllen – und ergo wird die wichtigste Vertreterin des Systems mit allen Ehren empfangen. Und dank ihres Auftritts sind nun alle Kameras auf Güllen gerichtet. Die meineidigen Kastraten und allerlei anders Surreales hat Müller gestrichen, dafür in seiner Turbo-Bearbeitung die Rolle der „Lästigen“ groß gemacht: Martina Stilp und Alexandra Krismer kommentieren, analysieren, diskutieren als krawallige Fernsehleute mit gekonnter Privatsender-Schnappatmung die Situationen, in die sich die kleingeistigen Kleinstädter mit ihren Machenschaften manövrieren. Auf fünf Monitore wird das übertragen (Bühnenbild und Video: Sophie Lux, sie lässt auf transparenten Screenfronten auch Wald, Scheune und einen Flugzeugstart entstehen), und doch bleibt diese von sensationsgeil zu skandallüstern sich auswachsende Journaille immer irgendwie außen vor, wird mit blödsinnig-banalen Informationsfetzelchen genarrt und vorgeführt und durchschaut nichts. Bis sie am Ende sogar fröhlich das Herzversagen aus Freude frisst.

Spielmacherin in dieser „Schulden, Schuld & Sühne“-Satire ist selbstverständlich Milliardärin Claire Zachanassian, und Grande Dame Andrea Jonasson für die Figur, deren Darstellung sie davor drei Mal ablehnte, eine Idealbesetzung. Die Jonasson changiert wie das ihr von Birgit Hutter angepasste schwarze Designerkleid, zwischen mephistophelisch, mondän, monströs. Sie ist ganz gelassen, stoisch und seelenruhig abwartend und süffisant, die Stimme moduliert sie von gefährlich schmeichlerisch zu scharfzüngig bedrohlich. Dieses ehemalige „Wildkätzchen“ Ills ist ein geschmeidig auf seine Beute lauerndes, gleichzeitig seine Wunde leckendes, denn wie alle Diven hat es eine, Raubtier. Gleich dem Panther, der der Zachanassian noch entlaufen wird.

Wie ein Panther belauert Claire die Bürger: Andrea Jonasson, Oliver Huether, Elfriede Schüsseleder, Alexander Strobele, Michael König, Siegfried Walther und André Pohl. Bild: Herwig Prammer

Aus gefährlich schmeichlerisch wird schnell scharfzüngig bedrohlich: Andrea Jonasson und Michael König. Bild: Herwig Prammer

Sogar ein Volksschulfoto von „Kläri“ und Alfred wird den Journalisten gezeigt: Siegfried Walther, Michael König, Martina Stilp und Michael Würmer. Bild: Herwig Prammer

Den Alfred Ill gibt Michael König zunächst mit dem Image eines gealterten Don Juan, bis seine Verve in wütende Verzweiflung, schließlich in Weltmüdigkeit umschlägt. Sehr schön ist zu sehen, wie diesem einstigen Schwerenöter die Selbstgefälligkeit aus dem Gesicht fällt, filigran, fast jedermännisch gestaltet König dessen Verwandlung vom eitlen Protz zum Leidensmann, ein einstiger Täter, der Opfer wird. Die Güllener Honoratioren, die opportunistischen Speichellecker, die scheinheiligen Moralapostel und Spekulanten mit, schließlich willige Vollstrecker von Ills Tod, verkörpern:

Siegfried Walther als unverschämt manipulativer Bürgermeister, André Pohl, der als Lehrer larmoyant vorgibt, den Humanismus hoch zu halten, von beiden eine Glanzleistung, Johannes Seilern als bigotter Pfarrer, Alexander Strobele als schleimiger Mitläufer-Arzt und Oliver Huether als auf Streit gebürsteter Polizist. Bravourös wird hier vorgeführt, wie schnell Worte Werte ummünzen können.

Witzig auch, wie sich das Ensemble je nach dargestelltem Charakter ein für ihn typisches Verhalten vor der Kamera ausgedacht hat, von augenaufreißend eingeschüchtert – der Lehrer, der Arzt – bis zum belehrend dozierenden Bürgermeister, der es auch nicht verabsäumt, „die Bürger an den Bildschirmen“ zu begrüßen. Lukas Spisser macht aus dem Gatten VII bis IX kleine Kabinettstücke, Markus Kofler ist als Butler ein sinistrer Handlanger seiner Herrin.

Elfriede Schüsseleders Frau Ill ist unterkühlt und verhärmt, dabei unter dieser Oberfläche brodelnd, bis auch sie – samt ihren in der Elternliebe elastischen Kindern: Gioia Osthoff und Tobias Reinthaller – vom Aufschwung etwas mitkriegt. In ihrem Fall ein neues rotes Kleid, während die Konsum-„Gleichschaltung“ allgemein über die berühmten schandfarbig-gelben Schuhe funktioniert.

Auch sprachlich hat Regisseur Müller die Aufführung ins schlagzeilen- und parolengebeutelte Heute geholt, von der dringend notwendigen Aufwertung des Wirtschaftsstandorts Güllen ist die Rede, aus dem Zachanassian-Geld soll in der Vorstellung mancher ein bedingungsloses Grundeinkommen werden, der Lehrer referiert über „abendländische Prinzipien“. Die Lacher hat diesbezüglich Andrea Jonasson auf ihrer Seite, einmal, als sie den Butler anweist, Tesla-Aktion zu kaufen – Zuruf aus dem Publikum: „Jetzt geht sie pleite!“ -, einmal, als sie Claire bei deren x-ter Hochzeit, Ölbarone und Oligarchen als Gäste, verkünden lässt: „Putin kommt nicht.“ Zum Schluss lässt Müller die Ermordung Ills hinterwandfüllend via Video vorführen. Keine Ahnung, warum es ihm wichtig war, die Gewalttat in dieser Drastik vorzuführen. Gebraucht hätte man’s nicht. Man weiß auch so, dass dies eine Welt ist, in der tagtäglich Unbequeme für politische und Industrie-Interessen aus dem Weg geräumt werden.

Video: www.youtube.com/watch?time_continue=1&v=gDoFpKBCkWQ

www.josefstadt.org

  1. 10. 2018

Burgtheater: Der Besuch der alten Dame

Mai 27, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Güldener Humor in Güllen

Geld, nicht Gefühl, regiert die Welt: Burghart Klaußner als Alfred Ill und Maria Happel als Claire Zachanassian. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Frank Hoffmann inszenierte Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ am Burgtheater, und was man dazu sagen kann, ist: Keine besonderen Vorkommnisse. Der Luxemburger Regisseur und Intendant der Ruhrfestspiele – die Aufführung ist eine Koproduktion – ließ seiner Riege Burgstars Raum und Zeit, ihr ganzes Können zu entfalten, setzte dabei zumindest anfangs ganz aufs Komödiantisch-Groteske.

Und fiel weder angenehm noch unangenehm durch überbordende Regieeinfälle oder zwanghaftes Aktualisieren auf. Güldener Humor in Güllen, sozusagen. Alles schön solide. Handwerklich perfekt, aber mit wenig Kontur. Dass Dürrenmatt in Anmerkungen davon abriet, sein Stück als Allegorie zu sehen, und damit wohl vor verfremdendem Pathos warnen wollte, nimmt Hoffmann allzu genau. Er lässt das Geschehen weitgehend wie vom Blatt abrollen, und findet dabei weder Distanz noch Nähe dazu. Was die Tragikomödie hergibt, wenn hier „Im Namen von Europa“ die „abendländischen Prinzipien“ beschworen werden, muss man sich schließlich selber zusammenreimen. Hoffmann überlässt sich über weite Strecken einem kommentarlosen, einem so ort- wie zeitlosen Ablauf der Handlung.

Im düsteren Bühnenbild von Ben Willikens entfaltet sich, was ein Albtraumspiel hätte werden können; wie in einer unaufgeräumten Lagerhalle auf einem verlassenen Industriegelände liegen und stehen die Reste menschlicher Existenzen herum. Darin die Güllener, bis auf Petra Morzé als Mathilde Ill, ein sangesfreudiger Männerchor, Dietmar König als freigeistiger Lehrer, Daniel Jesch als athletischer Polizist, Marcus Kiepe als hinterfotziger Arzt, Michael Abendroth als doppelzüngiger Pfarrer, aufgescheuchte Honoratioren, Opportunisten und Pragmatiker, die das Geld schon verplanen, bevor Korruption überhaupt geschehen ist. Seltsam drübergespielt wirkt das alles.

Nur Roland Koch gibt den geschwätzigen Bürgermeister als Kabinettstückchen, immer wieder wird er von lauter Musik, von krachenden, scheppernden Industriegeräuschen in die Schranken gewiesen. Der berühmte Panther rührt sich lauthals aus dem Off – Raubtierkapitalismus, eh klar. Petra Morzé gelingt als Mathilde ein eigenes Kunststück. Wie sie mit ihrem Alfred einen Ausflug im Auto genießt, von dem sie weiß, dass es sein letzter sein wird, drückt sie in einem Jammerschrei aus, der angstvoll klingen soll, aber schon ein Leben ohne ihn anstimmt.

Die Güllener spekulieren aufs große Ganze: Burghart Klaußner, Michael Abendroth, Marcus Kiepe, Daniel Jesch, Petra Morzé, Dietmar König und Roland Koch. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Und mitten drin die Happel mit konkavem Hütchen und kess ausgestelltem Rocksaum. Maria Happel glänzt als Milliardärin Claire Zachanassian, ist als solche hier weder Monster noch Kunstmenschin, sondern eine aus Fleisch und Blut, keine Dämonin, sondern eine geschäftstüchtige Multikonzernmanagerin, der auch einmal die Gefühle aufsteigen. Wiewohl die schnell wieder weggedrückt werden.

Wie Happel von skurriler Fröhlichkeit zu eiskaltem Furor wechselt, ist sehenswert, am eindrücklichsten die Szenen mit dem großartigen Burghart Klaußner als Alfred Ill, da wird ein Übers-Haar-Streichen gleichsam zum Todesurteil. Wobei Klaußner den Ill nicht als vordergründig rattig-ängstlichen Kleinbürger, sondern als Mann mit stolzer Würde anlegt. Gegen Ende nimmt der Abend Fahrt auf, wenn die finale Bürgerversammlung Ill aburteilt und die abgewrackte Stahlhütte bis fast an die Rampe heranrückt. Da geht das Saal-Licht an und mit den Bürgern, die unter Ausreden, mit Ausflüchten und zugunsten der Konjunktur über den Tod befinden, sind natürlich die Zuschauer gemeint. Das ist zwar keine nagelneue Inszenierungsidee, aber immer noch eine wirkmächtige. Wie aus dem langen, zufriedenen Applaus zu schließen.

www.burgtheater.at

  1. 5. 2018

Dürrenmatt – Eine Liebesgeschichte

Januar 26, 2016 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Humor ist, trotzdem der Dichter lacht

Lotti und Friedrich Dürrenmatt im Garten beim Poolreinigen Bild: © Thimfilm

Lotti und Friedrich Dürrenmatt im Garten beim Poolreinigen
Bild: © Thimfilm

Vera Borek, die Grande Dame des Wiener Theaters, erzählte einem als erste, dass Friedrich Dürrenmatt eigentlich ganz anders war. Mit Helmut Qualtinger war sie beim berühmten Autor zu Besuch, und erinnerte sich nicht nur an ein beeindruckendes Wandbild und davor geistreiche Gespräche, sondern auch an einen fabelhaften Gastgeber. Einen Mann mit viel Humor, gesegnet mit einer ansehnlichen Hausbar, der gerne und dann vor allem laut lachte.

Es sind diese Momente, das Aufblitzen von Intimität, von Authentizität, auf die man in Sabine Gisigers Film „Dürrenmatt – Eine Liebesgeschichte“ wartet. Auf einen Schlüssellochblick auf das Schweizer Schreibgenie. Der Film ist ab 5. Februar in den heimischen Kinos zu sehen.

„Als Kind“, erinnert sich die Regisseurin, „fand ich Dürrenmatt ziemlich gruselig. Ein dicker, mächtiger Mann mit wirrem Haar und ziemlich gefräßig. Wenn ,Fridu‘ bei uns zum Nachtessen erschien, musste meine Mutter Berge von Fleisch braten. Die verschlang er zu meinem Ärger und dem meines Bruders in großen Teilen ganz allein.“ Als Dank gab’s eine Widmung in einer Erstausgabe – „für den Salat“. „Ein Witz“, meinte die Mutter. Den Geist dieser Abende versucht Gisiger in ihrem Film einzufangen. Den Privatmann Dürrenmatt. Im Zentrum der Doku steht die große Liebe zu seiner ersten Frau Lotti; die Kinder Peter und Ruth und seine Schwester Vroni kommen zu Wort. Entstanden ist so eine Collage, eine Annäherung. Denn Dürrenmatt verschließt sich und erschließt sich nicht, das ist sein gutes Recht, selbst seine nächsten Verwandten, fühlt man, scheinen ihn eigentlich nicht gekannt zu haben. „Er hat ja sowieso fast immer nur gelesen“, sagt die Schwester. „Die Stimmung in der Familie war abhängig vom Arbeitszyklus des Vaters“, sagt der Sohn.

Dürrenmatt, der Krimiaffine, war ein Meister der Verstellung. Wie er seine Stücke schrieb, so inszenierte er sein Leben. Zumindest für die Kamera. Und so wirkt alles, was sich in öffentlichen und privaten Archiven finden lässt, wie großes Theater. Eine Selbstpersiflage, offenbar sein bevorzugtes Stilmittel zum Selbstschutz. Dürrenmatt kannte seine Dämonen. Gisiger zeigt ihn beim Schnäbeln mit seinem Kakadu, beim Poolreinigen, als schwer schnaufenden „Sportler“ auf dem Hometrainer. Doch da stimmt was nicht. Da spielt eine Beklemmung mit, dieselben tragisch-grotesken Elemente, als ob man sie vom Lesen kennen würde. Vera Borek saß vor Varlins Kolossalgemälde „Die Heilsarmee“ und irrte. Der virtuose Spaßmacher hält seine Schattenseite bloß gut verborgen.

Dieses Gefühl, Gisiger spürt ihm nicht genug nach. Vielleicht ist sie an der Geschichte zu nah dran. Die blinden Flecken in ihrem Porträt sprechen Bände. Der Film zeichnet den Lebensweg Dürrenmatts aus dem Emmental auf die Theaterbühnen dieser Welt nach. Er befasst sich mit dem Werk und dessen Werden. Und dann natürlich Lotti. An ihrem Tod wäre er beinahe zerbrochen. 40 Jahre waren die beiden ein Paar, mit ihr dachte er laut, diskutierte jeden niedergeschriebenen Satz, nahm sie als Prüforgan mit auf Proben. Als sie 1983 ging, schwieg er lange. Auch literarisch. Das kommt im Film nicht vor. Überwältigende Gefühle zu äußern war nichts für den Verfasser gewaltiger Wortketten. Man muss es in den Zwischentönen hören, wenn die Tochter sagt, eine traurige Stimmung der Mutter hätte sich auf den Vater übertragen. Und die Mutter sei oft traurig gestimmt gewesen. Es sind diese Nuancen, die Gisigers Doku doch sehenswert machen.

80 Stunden Bild- und Tonmaterial, mittels dessen Dürrenmatt über sich und die Welt sinniert, hat die Regisseurin durchgeackert. Herausgekommen ist keine Homestory. Natürlich. Sondern? Höchstens ein nächster Schritt Richtung Planet Dürrenmatt. Man könne der Wirklichkeit nur mit einer Komödie beikommen, hat er einmal gesagt. Darauf lässt sich nur erwidern: Gut gespielt, ,Fridu‘.

www.duerrenmatt-derfilm.ch

Wien, 26. 1. 2016

Volkstheater: Die Physiker

November 15, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Genie getarnt als Wahnsinn

Rainer Frieb, Thomas Kamper, Erich Schleyer Bild: © Christoph Sebastian

Rainer Frieb, Thomas Kamper, Erich Schleyer
Bild: © Christoph Sebastian

Es ist eine Schande. Dass Elias Perrig so lange brauchte, um seinen ersten Dürrenmatt zu inszenieren. Es ist ein Glück. Dass er damit ausgerechnet am Volkstheater begonnen hat. Die Eidgenossen verstehen einander augenscheinlich prächtig. Denn da hat es einer gewagt, dem Schweizer Nationalheiligtum das Pathos, das hohe Lied, das „Intellektuelle“ runterzuräumen, den Dichterfürsten vom Olympier-Sockel zu stoßen – und auf ein Zirkuspodest zu stellen. Großartig! Und das alles, ohne Friedrich den Großen auch nur eine Sekunde zu „verraten“. „Die Physiker“ – er selbst nannte sein Werk eine Komödie. Perrig nutzt das genussvoll und zum Vergnügen des Publikums aus und versteht es trotzdem, nicht den Text detailtreu darzustellen (beziehungsweise darstellen zu lassen), sondern das wirklich Wichtige. Das zwischen den Zeilen steht. Bühnenbildner Wolf Gutjahr – die passenden Kostüme sind von Katharina Weissenborn – hat auf wunderbare Weise auf alles Sanatoriumsweiße verzichtet; er hat die Bühne mit einer Reproduktion von Rudolf Ritter von Alts „Das Atelier vor der Versteigerung“ tapeziert, setzt also auf Hans-Makart-Opulenz, und eine Unzahl plüschiger Sitzgelegenheiten. Die zur Nervenheilanstalt umfunktionierte Villa des Fräulein Doktor Mathilde von Zahnd ist damit fertig. Für die Krimisatire, die Mordstravestie, die Spionagegroteske, die da kommen mag. Für das Vorgeben, die Unwahrheiten, die Lügen, die Geheimnisse, den Schrecken.

Nun ist diese Rezension natürlich eine Hommage an Grande Dame Vera Borek. Keine spielt Dürrenmatt wie sie. Die Borek-Stimme, sie ist unverkennbar und sollte als solche in die Bücher eingehen. Wie ihre „buckelige, alte Jungfer“ Zahnd lakonisch und mit staubtrockenem Humor auf die Strangulierung ihrer Krankenschwestern reagiert, gleich darauf in gespenstisches Gekicher verfällt, das ist schon große Kunst. Irr-Witz. Da ahnen selbst die Unbedarften, welch Ungeheuer sich da noch aufblähen wird, die Kapitalismushexe, die längst die Fäden zieht, längst ausgewertet hat, was es auszuwerten gab – und mit ihrem neu gegründeten Konzern nun die Ländern, ja selbst das Universum ausbeuten will. Genie und Wahnsinn sind Geschwister. Manchmal Kinder, an deren Entwicklungen man Freude haben kann, manchmal garstige Teufel, zuständig für die menschheitliche Höllenfahrt. Nur wenige große Geister waren in der Zeitgeschichte in der Lage zwischen dem Gut und Böse ihrer Erfindungen, ihrer Entdeckungen zu unterscheiden. Und unwillkürlich fällt einem während des Spiels ein, wie enttäuscht Einstein – vermutlich auch, weil er im Stück noch vorkommen wird – in Princeton war, dass so viele Wissenschaftler, die er vor der Phrenesie des Dritten Reichs in die USA retten konnte, sich dem Manhattan-Projekt  anschlossen.

Dürrenmatts Protagonist, der Physiker Johann Wilhelm Möbius, hat sich für einen anderen Weg entschieden. Er hat die „Weltformel“ entwickelt und das verheerende Resultat ihrer Nutzbarmachung erkannt. Eingedenk der Folgen ließ er sich folglich einweisen, mimt den von König Salomo Heimgesuchten, hofft, dass zumindest im Irrenhaus die Gedanken frei sind, und bedenkt nicht, dass die Zahnd einen Kopierer hat. Thomas Kamper ist fabelhaft als Normaler unter den „Narren“, als vernunftbegabter Mensch, den die Seelenqual schier um den Verstand bringt. Der vor der Wirklichkeit nicht kapituliert, sondern, wie er glaubt, ihr sein Wissen genommen hat. Ihm zur Seite stehen die Patienten Beutler (Erich Schleyer), der sich für Newton hält, und Ernesti alias „Einstein“ (Rainer Frieb). Die tatsächlich ebenfalls nicht krank, sondern Physiker (Um nicht aufzufliegen, nahmen die drei selbst die Tötung der Pflegerinnen in Kauf. Das Schweigen der Schwestern.), das heißt: Geheimdienstler feindlicher Nationen sind, die Möbius, den größten Kopf aller Zeiten, dieses „Allgemeingut“ für die Gemeinschaft, auf ihre Seite ziehen wollen. Ihm sogar den Nobelpreis – man kennt die Geschichte seiner Erschaffung – verschaffen wollen. „Ob die Menschheit den Weg zu gehen versteht, den wir ihr anbieten, ist ihre Sache“, so ihr Credo.

Bis es dahin kommt, gibt es eine Menge zu Lachen. Erich Schleyer ist als Sir Isaac mit langlockiger Perücke und spitzenmanschettigem Hausmantel zum Niederknien. Wie er auf seinen drei Grundgesetzen der Bewegung herumreitet, so macht es Rainer Frieb mit der Relativitätstheorie – die Newtons Überlegungen zur Mechanik übrigens als Spezialfall enttarnte. Frieb ist entzückend mit wallendem Haar und Schnauzer, mehr Tschapperl als Weiberer, wie’s der wahre war, sich an der Geige (Beethovens „Kreutzersonate“, deren gefidelter Versuch die anderen schon aufjaulen lässt) abmühend – worüber er sich noch ausführlich beschweren wird. Mit einem dann doch nicht ausgeführten Pistolenduell legen die beiden ein Kabinettstück hin. Unterstützt wird das Forschertrio unter anderem von „Oberschwester“ Claudia Sabitzer und „Kriminalinspektor“ Thomas Bauer, der sich einen Kojaklolli in Grün zugelegt hat.

Am Schluss gewinnt die Zahnd. Die Opulenz ist mit ein paar Handgriffen abgeräumt. Newton, Einstein und Möbius verschwinden in einer Holzkiste. Eine Botschaft von Elias Perrig. Am Ende jedes Sieges steht da immer für jemanden ein Sarg.

www.mottingers-meinung.at/elias-perrig-im-gespraech/

www.volkstheater.at

Wien, 15. 11. 2014

Elias Perrig im Gespräch

November 14, 2014 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Volkstheater: Die Physiker

Rainer Frieb, Vera Borek, Thomas Kamper, Günther Wiederschwinger, Erich Schleyer, u.a. Bild: © Christoph Sebastian

Rainer Frieb, Vera Borek, Thomas Kamper, Günther Wiederschwinger, Erich Schleyer, u.a.
Bild: © Christoph Sebastian

Am 14. November hat am Volkstheater Friedrich Dürrenmatts 1962 am Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt Groteske „Die Physiker“ Premiere.  Um die Menschheit vor einer Katastrophe zu bewahren, begibt sich Möbius, einer der führenden Wissenschaftler, ins Irrenhaus. Hier hofft er am ehesten verbergen zu können, was er entdeckt hat: eine ungeheure Energien ermöglichende Technik, die keinesfalls in die falschen Hände geraten darf. Sein Ziel: den Fortschritt in die Katastrophe aufzuhalten. Seine Methode: einen Irren zu spielen, der vom Geist Salomons besessen ist. Das gleiche tun zwei andere, ebenfalls nur scheinbar Geisteskranke. Sie halten sich für Einstein und Newton, doch sind sie in Wirklichkeit hinter Möbius’ Geheimnis her. Als sie zu Mördern werden, dringt die Wahrheit ans Licht. Doch längst hat sich die einzig wirklich Wahnsinnige, die Irrenärztin Dr. von Zahnd, in den Besitz der Geheimnisse gebracht und die Katastrophenmaschine in Gang gesetzt. Der Irrsinn, der durch Verstellung verhindert werden sollte, ist längst Realität und alles, was den Simulanten bleibt, ist, nun eingesperrt im Irrenhaus und ohne Aussicht auf Entkommen, tatsächlich irre zu werden. Es spielen unter anderem Vera Borek, Thomas Kamper, Erich Schleyer und Rainer Frieb. Ein Gespräch mit dem Schweizer Regisseur Elias Perrig:

MM: Warum jetzt Dürrenmatts „Die Physiker“? Ist die Zeit wieder reif?

Elias Perrig: Als Schweizer bin ich natürlich mit Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch aufgewachsen, ich hatte aber bis jetzt Scheu, einen der beiden zu inszenieren. Mir kamen „Die Physiker“ wieder in die Hände und ich dachte: Wahnsinn, weil ich es vorher für verstaubt hielt. Weil es in der Zeit des Kalten Kriegs spielt und über die Erfindung der Atombombe. Jetzt ist das Stück wieder so brisant – was die weltweite politische Lage angeht, dass wieder die Großmächte gegeneinander stehen, und auch in der Frage: Was ist die Verantwortung von Wissenschaft? Die Verantwortung von Wissen beispielsweise übers Internet, wo fast jeder an fast jede Information kommen kann. Ist da nicht auch eine Gefahr im Wissen? Man kann sich die Anleitung zum Bombenbauen runterladen. Die Frage, die sich im Stück stellt, ist, kann man Wissen, eine Entdeckung rückgängig machen, wenn man merkt, dass sie gefährlich ist?

MM: Sie haben ursprünglich Biochemie studiert. Da muss sich diese Frage besonders stellen?

Perrig: Ja, aber wenn ich eine Erfindung, die potenziell gefährlich ist, vernichte, wird sie dann nicht ein anderer erfinden. Manche Dinge liegen in der Luft, für die ist die Zeit reif, die werden gedacht. Es ist ja manchmal zum Zeitpunkt einer Entdeckung noch nicht abzusehen, was daraus gemacht wird. Zyklon B sollte auch einmal in der Landwirtschaft Ungeziefer vernichten. Oder man erfindet ein Medikament, mit dem man Krebs heilt, das auch als biologische Waffe verwendet werden kann. Da hat man verschissen. Zum Glück gibt es heute Ethikkommissionen, ein Bewusstsein dafür, dass Wissen nicht immer „gut“ sein muss.

MM: Die Welt ist ein Irrenhaus – in Volkstheater-Inszenierungen besonders gern so dargestellt. In diesem Fall hat ja auch die Profitgier und der (politische) Geltungsdrang der Wissenschaftler etwas Wahnhaftes …

Perrig: Das ist eine interessante Konstruktion, denn in diesem Irrenhaus sind die Wissenschaftler sehr vernünftig. Sie schließen sich und ihre gefährlichen Ideen sozusagen weg. Das ist ein visionärer Gedanke: den Elfenbeinturm zum Elfenbeinturm zu deklarieren. Deshalb sitzen bei mir auch alle in einem sehr speziellen Raum, der nichts mit „Spital“ zu tun hat, der ein ideales Leben suggeriert, ausgekleidet mit einem Hans-Makart-Bild, mit sehr luxuriöser Möblierung. Problematisch wird es – und das ist heute auch brisanter als damals – wenn die Chefin der Anstalt eigentlich die Verkörperung des Kapitalismus ist und das Wissen Ihrer Insassen kommerziell verwertet wird. Das ist die eigentliche Katastrophe. Sie ist natürlich irre, aber in dem Sinne, wie europäische Firmen in Afrika heute das Wasser kaufen, das eigentlich ein Grundrecht der Menschen ist. Was heißt also heute irre? Oder irre ich mich in allem?

MM: Vera Borek als Fräulein Doktor von Zahnd hat Dürrenmatt ja noch gekannt. Sie hat am Haus auch die „Alte Dame“ gespielt. Ist ihr Bezug zum Autor herauszulesen?

Perrig: In gewisser Weise natürlich. Sie kennt seine private Welt. Sie hat ein sehr feines Gespür für den Dürrenmatt’schen Humor, der gar nicht so einfach zu knacken ist. Es gibt ja das Klischee Komödien müssten schnell sein, hier ist es das Gegenteil. Das ist eine sehr schweizerische Komödie, da geht’s langsam zur Sache.

 MM: Wie beim slowburn von Laurel und Hardy. Dürrenmatt nannte sein Stück ein „Satyrspiel vor der Tragödie“. Hat er wirklich darauf gewartet, dass es rumst?

Perrig: Genau. Das wäre das Stück vor der Katastrophe, wenn dann Beckett danach ist. Beide schrieben ja Satyrspiele und ließen die eigentliche Katastrophe aus. Beide sperrig vom Text her, surrealistisch auch. Was mit der Welt passiert, ist bei Dürrenmatt das Danach. Ich suche die „Realität“ seiner Figuren, das ist mir sehr wichtig. Man könnte es ja auch ganz artifiziell angehen, aber das hätte mich nicht interessiert, mich interessiert die Zuspitzung der Gedanken. Man kann bei Dürrenmatt keinen Satz wegstreichen, jeder Satz ist ein Gedanke.

 MM: Grauenhaftes ist zumindest auf der Bühne oft sehr komisch. Dazu gehört die Doppeldeutigkeit, mit der eine Krankenschwester den Patienten vorwirft, dass sie „verrückt spielen“.

Perrig: Das ist der Kern, der Grundplot. Eine ganze tolle Setzung, auch für die Welt. Wie sehr muss ich mich einem generellen Irrenhaus anpassen, um vernünftig zu scheinen.

MM: Bei Dürrenmatt geht’s um eine Massenvernichtungsmaschine. Glauben Sie, dass ein globaler Konflikt noch einmal möglich wäre, oder war die Menschheit nach dem Zweiten Weltkrieg klug genug, Institutionen wie die UNO, die EU da zwischen zu setzen?

Perrig: Natürlich war’s klug, das zu schaffen. Ich frage mich nur, wie nachhaltig es wirkt. Wenn ich mir im Moment die eskalierenden Konflikte angucke und wie nichts dagegen unternommen wird, halte ich es durchaus für möglich, dass wir in dieselbe Scheiße noch mal rasseln. Die Situation ist nicht so unähnlich wie in den 60er-Jahren. Es bildet sich tatsächlich wieder etwas heraus wie der Kalte Krieg, was die UNO letztlich handlungsunfähig macht. Seit es die Vetoregelung gibt, ist kein Beschluss gefällt worden. Das heißt: Letztlich sind diese Institutionen auch alle Feigenblätter, siehe Klimarat gegen die Klimaerwärmung. Es gibt ein Patt der Supermächte. Und der Kapitalismus sagt: Am Ende gewinne sowieso ich, egal wie alt und runzelig ich bin – Geld ist Geld.

 MM: Meine Dystopie ist das Beispiel China: politische Unfreiheit bei größtmöglicher marktwirtschaftlicher Freiheit. Verdienen, aber kuschen.

Perrig: Genau, wobei ich meinen würde, dass wir da alle langsam hinrutschen. Spätestens seit dem NSA-Skandal fragt man sich, was der Unterschied zwischen USA und China ist. Vielleicht war’s nur eine Illusion zu glauben, dass wir demokratisch sind.

MM: Da muss ich, auch weil der Protagonist so heißt, an die Möbiusschleife denken.

Perrig: Und der Mensch kann nicht zwischen unten und oben oder zwischen innen und außen unterscheiden. Er steckt fest. Schöner, schrecklicher Gedanke. Wiewohl der Möbius im Stück ja Physiker, nicht Astronom ist. Da ist Dürrenmatt schon sehr geschickt, wie er diesen Namen wählt. Hat man gehört und lockt einen somit auf die falsche Fährte.

 MM: Ist es bei all diesen Dingen nicht tröstlich, dass wir am Theater niemanden ernsthaft gefährden können, außer ihn zu langweilen?

Perrig: Natürlich. Ich will damit nicht schmälern, dass das auch ein immenser Schaden ist, wenn man es tut, aber natürlich. So sehr ich es manchmal auch bedaure nicht bei den Naturwissenschaften geblieben zu sein – Mensch, da hätte ich jetzt an der Ebola-Forschung helfen können -, so sehr liebe ich es, dass wir am Theater uns um die moralischen Fragen kümmern können. Heute behandle ich die Psyche statt der Physis. Ich finde die Überschneidungsflächen interessant. Ein Stück zu proben ist gar nicht so viel anders. Die Mechanismen sind ähnlich: Es geht auch hier darum eine Hypothese aufzustellen, diese zu beweisen, zu überprüfen, wenn man merkt, sie ist falsch.

MM: Nur, dass hier, nicht wie in der Petrischale, dann Schauspieler wütend oder weinend raus laufen …

Perrig: Es gibt in jeder Forschung einen Tiefpunkt. Den hatten wir bei den „Physikern“ auch schon. Jetzt geht’s voran, hoffe ich (er lacht). Es gibt nur Innovation, wenn vorher totale Verdunklung eintritt, wenn man nichts mehr weiß. Das hat man bei jeden Proben, den Tag, wo man das Gefühl hat, das ist alles gar nichts, das ist für die Katz’ – und über Nacht kommt man drei Schritte weiter.

 MM: Gibt es an Dürrenmatts Werk etwas, von dem Sie sagen würden, das ist typisch Schweizerisch?

Perrig: Wie schon gesagt: die Langsamkeit. Er lässt sich gar nicht schnell spielen, sonst verliert es den Witz. Die Schweizer sind langsam, bedächtig. Wir haben ein anderes Tempo. Wir empfinden Zeit anders. Ich vermute, das ist auch der Grund, warum die Schweiz in gewissen Dingen so erfolgreich ist, weil wir einfach alles aussitzen. Es ist sprachlich total schweizerisch, viele Worte würde man in Deutschland oder Österreich nicht sagen. Sie ist umständlich in den Formulierungen, weshalb sie nie Alltagsgebrabbel. Es ist ganz lustig: Nur um den Gestus klarzumachen, spreche ich den Schauspielern manchmal Sätze auf Schweizerdeutsch vor. Da klingt es ganz normal, die Überhöhung zur Kunstsprache kommt erst mit dem Hochdeutschen. Sie sehen also dank mir, wenn bei unseren Proben Tränen fließen, dann vor Lachen.

www.volkstheater.at

Wien, 14. 11. 2014