Academy Awards Streaming: Sophia Loren in La vita davanti a sé“ / „Du hast das Leben vor dir“

April 16, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Edoardo Pontis Oscar-nominierter Film mit La Mamma

Madame Rosa mit Momò in ihrem Schutzraum im Keller, der von Momò so genannten „Batcave“: Sophia Loren und Ibrahima Gueye. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Mehr als zehn Jahre ist es her, dass Sophia Loren zuletzt in einem Film zu sehen war, nun kehrt die italienische Diva mit einem fulminanten Auftritt zurück – im auf Netflix zu streamenden Drama „La vita davanti a sé“, deutsch: „Du hast das Leben vor dir“, ihres Sohnes Edoardo Ponti. Regisseur und Drehbuchautor Ponti hat die Geschichte nach

dem gleichnamigen Prix-Goncourt-Gewinner-Roman des französischen Autors Romain Gary selbstverständlich ganz auf La Mamma zugeschnitten – und allüberall befand das Feuilleton, dass sich die Loren für dies perfekte Spiel ihren dritten Oscar verdient hätte. Ponti führt mit dem 12-jährigen italienisch-sengalesischen Filmdebütanten Ibrahima Gueye außerdem einen beachtenswerten Jungschauspieler ein. Dennoch konnte sich die Academy punkto des andernorts gerne ausgezeichneten Films – etwa mit dem Grand Dame Award for defying ageism oder den Capri Hollywood Awards für die Loren und Ponti – „nur“ zu einer Nominierung für den Besten Filmsong durchringen, „Io si“ von Diane Warren und Laura Pausini, und von Pausini im Abspann auch gesungen.

Jene Madame Rosa, die der 86-jährige Leinwandstar hier verkörpert, mag nicht die uneingeschränkte Hauptrolle des Films sein, dessen Herzschlag aber ist sie allemal. Sophia Lorens Art, sich Figuren anzueignen, ist es in großem Maße zu danken, dass „La vita davanti a sé“ nicht Richtung Rührstück verrutscht. In Madame Rosas behaglich abgenutzter Wohnung lehnt sie am Türstock, wie sie es immer getan hat. Die Arme unter der Brust verschränkt, den Kopf ein klein wenig zur Seite geneigt, sodass ihr Stolz und ihre Resolutheit deutlich gemacht sind, im Bedarfsfall schon mal Blitze aus den Augen schießend, in dieser Pose betrachtet sie wortlos die Szenerie, bevor sich das Temperament Bahn bricht.

Die Loren im nachlässig übergeworfenen Hauskleid, das hochgesteckte Haar in Auflösung begriffen: Sie ist eine ewige Filumena, deren Feuer Funken sprüht. Der Typ hart, aber herzlich, erschöpft, aber niemals ausgeknockt liegt der Charakterdarstellerin seit den Arbeiten mit Vittorio De Sica, und auch ihre Madame Rosa legt sie ohne großes Getue an – die Holocaust-Überlebende, die sich im apulischen Bari als Prostituierte durchschlug und die nun die Kinder anderer Sexarbeiterinnen betreut.

Da kommt eines Tages Hausarzt Dr. Cohen, Renato Carpentieri, zu ihr und bittet sie, den 12-jährigen Momò, eine Waise aus dem Senegal, aufzunehmen. Ausgerechnet den kleinen Gangster, der sie gerade eben auf dem Markt beklaut hat. Doch Dr. Cohen gibt ihr die gestohlene Einkaufstasche zurück, und weil Rosa das Geld braucht, das der Mediziner ihr für Momòs Unterbringung anbietet, willigt sie schließlich ein. Ein schönes Früchtchen hat sie sich da mit dem ungezogenen, zornigen Momò ins Haus geholt. Also sind die nächsten 90 Filmminuten darauf verwendet, zu zeigen, wie die Ziehurgroßmutter den Jungen mit sanfter Seelengüte und fester Hand auf den Pfad der Tugend scheucht. „Basta, stronzetto!“, das sagt die Loren eben wie keine andere. Ihr Humor, ihr vollmundiger neapolitanischer Tonfall erden den Film dort, wo er ins Melodramatische abdriftet könnte.

Ibrahima Gueye ist eine Entdeckung. Sein Momò, Mohammed, der im Übrigen als Ich-Erzähler seiner Story fungiert, ist scheu und angriffslustig zugleich, und beileibe kein hilfloses Ausländerkind. Von den beiden Beinen, mit denen er im Leben steht, steckt er mit einem zwecks Drogendealen zwar im Kriminal, aber Momò – und durch die Kopfhörer schallt der HipHop – nimmt’s Gesetz der Straße locker. „Ich werde dem Glück nicht in den Arsch kriechen“, ist sein Motto. Die Dreistigkeit und der schlitzohrige Charme, die frühreife Männlichkeit, mit der Ibrahima Gueye das rüberbringt, erinnern an einen jungen Omar Sy – und eine ebensolche Karriere, Sy zuletzt als „Lupin“ zu sehen (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=44044), wünscht man Gueye auch.

Filmdebütant Ibrahima Gueye liefert als Momò eine grandiose Performance. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Madame Rosa quält Iosif mit Hebräisch-Stunden: Iosif Diego Pirvu. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Signor Hamil soll Momò einen Job in seiner Greißlerei geben: Babak Karimi. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Ein flottes Tänzchen mit der Trans-Nachbarin: Abril Zamora als Lola. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Die in die Schusslinie der Scharmützel zwischen Madame Rosa und Momò geraten sind: Madames zweiter Schützling Iosif, Iosif Diego Pirvu gleichfalls in seinem ersten Film, den sie mit ihrem Hebräisch-Unterricht für die Bar Mizwa traktiert. Und die Prostituierte Lola, deren Baby Babu ebenso von Rosa betreut wird, und die als Transfrau und ehemaliger Boxchampion im Mittelgewicht an einem ausgewachsenen Vaterkomplex knabbert – gespielt von der spanischen Trans-Schauspielerin Abril Zamora, was erwähnt, aber nicht betont wird. Oder wie Zamora im Golden-Globes-Interview sagt: „Die Transsexualität ist eine weitere ,Info‘ zur Figur und es ist wunderbar, dass sie natürlich behandelt wird und dass sich die Handlung nicht darauf konzentriert. Dies ist der nächste Schritt bei der Trans-Integration in das Audiovisuelle. Nicht alle Trans-Charaktere konzentrieren sich auf Sexualität. Es ist viel integrativer, einen LGTB-Charakter außerhalb eines LGTB-Plots zu haben.“

Es dauert, bis sich die Jüdin und der junge Muslim annähern. Wundersame Szenen entstehen so. Er bemerkt beim Abwaschen die tätowierte Nummer auf ihrem Unterarm, sie erklärt „Damals war ich so alt wie du“ und „Ich habe mich in Auschwitz unter der Baracke versteckt“, doch von Drittem Reich und Konzentrationslagern hat Momò noch nie gehört. Einmal folgt er Madame Rosa in den Keller und stöbert sie dort in einem vollständig möblierten Versteck auf. „Ihre Batcave“, meint Iosif, und dass Madame mutmaßlich Geheimagentin sei.

Sie wiederum beobachtet Momò, als Iosif von seiner Mutter abgeholt wird, Momò, der von seiner Mutter nicht einmal ein Foto hat, und wie Sophia Loren den Jungen in diesem Moment wahrnimmt, seinen Schmerz erkennt und dieses Erkennen mit einem fast unmerklichen Straffen ihres Körpers und mit dem plötzlich wachen Blick der nahenden Rettung spielt, ist großartig. Als Madame Rosa sich allerdings mit Momòs imaginärer Löwenmutter konfrontiert sieht, fragt sie Signor Hamil um Rat. „Sie üben die Kunst der Verführung mit Ihren Augen und Ihrer Stimme aus“, antwortet der versonnene Philosoph verzückt.

Der iranische Schauspieler Babak Karimi, den die Berlinale 2011 für seine Rolle im Drama und späteren Auslands-Oscar-Gewinner „Nader und Simin – Eine Trennung“ mit einem Silbernen Bären auszeichnete, spielt diesen Hamil, einen muslimischen Greißler, dem Rosa einen Job für Momò abschwatzt. Karimi spielt ihn auf so leise Weise, so beharrlich gut, dass man sich neben ihn setzen und seinen Geschichten lauschen möchte, während er mit bedächtigen Bewegungen und in tiefer Ruhe die Seiten von Victor Hugos „Les Misérables“ zusammenklebt – das Buch, das Momò in einem Wutanfall nach ihm geworfen hat. Signor Hamil wird zur Vaterfigur für Momò und versucht ihm die Religion und Kultur seines Geburtslandes nahe zu bringen.

Das alles bebildert Edoardo Ponti mit einer abgesofteten, poetischeren Spielart des Neorealismo, mehr à la De Sica als Luigi Zampa. Schriftsteller Romain Gary war selber Jude, diente in der französischen Luftwaffe und floh rechtzeitig nach England, von wo aus er mit Charles de Gaulle den Widerstand gegen die Nationalsozialisten organisierte. Immer wieder schrieb er über das Überleben, das Weiterleben nach der Shoa oder die Unmöglichkeit, dies zu tun. In „La vie devant soi“ hat er sich für den Altruismus als Überlebensweisheit entschieden. Madame Rosa tut Gutes. Basta!

Momòs imaginäre Löwenmutter: Ibrahima Gueye. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Madame Rosa in katatonischem Zustand: Sophia Loren. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Das Ensemble am Set mit Regisseur Edoardo Ponti. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Sophia Loren und Sohn Edoardo Ponti. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Ponti fügt dem eine Fußnote hinzu. Wenn’s passiert, dass die Kinder Madame Rosa in katatonischem Zustand vorfinden, einmal regungslos während des Wäscheaufhängens im strömenden Regen. Wenn sie „Sie sind auf der Treppe!“ schreit. Als sie sich weigert ins Krankenhaus gebracht zu werden, weil die Ärzte allesamt Folterer seien, die an ihr Experimente durchführen wollen. Seelische Gebrochenheit und ungebrochene physische Präsenz, nur die Loren kann das so gekonnt in einem Charakter vereinen, der US-Kritik fiel dafür immer wieder das Wort „königlich“ ein. Falsch ist das nicht.

In Madame Rosa und Momò prallen die Traumatisierten zweier Generationen aufeinander, kurz zeigt Ponti „Illegale“, Miganten, Frauen, Kinder, die von der Polizei in Autobusse gezerrt werden, Momò will das sehen, Madame schnell weg. Eine subtile, melancholische Kritik an der Festung Europa, in der man nach wie vor Jagd auf Menschen macht. Keine Frage, der Film „La vita davanti a sé“ ist der Loren würdig.

Schließlich nimmt Rosa ihren Schutzbefohlenen in ihrem Kellerschrein mit, die mit Erinnerungsstücken aus ihrem Elternhaus gefüllte Batcave, sie ziehe sich hierher zurück, wenn sie schutzbedürftig sei und Sicherheit brauche, sagt sie, und auch Momò findet zwischen kolorierten Fotografien und dem Grammophon bald zu einer ungeahnten Unbeschwertheit und beim Arm-in-Arm-Einschlafen mit Rosa eine ungekannte Geborgenheit …

„La vita davanti a sé“ ist ein Film voller Ecken und Kanten, und gerade in seiner Kargheit sympathisch. Edoardo Ponti hat Romain Garys Roman, knapp nach Erscheinen in den 1970er-Jahren mit Simone Signoret als Madame Rosa schon einmal verfilmt, geschickt nach Italien und in die Gegenwart geholt, mit Elementen, wie den übers Mittelmeer kommenden Flüchtlingen, der Transgender-Nachbarin Lola oder dem Koran-kundigen Hamil und deren Erfahrungen als Bürger zweiter Klasse.

Die Themen, um die es Gary in den Siebzigern ging – das Aufeinandertreffen und gegenseitige Verständnis verschiedener Generationen, Kulturen und Religionen -, sind heute so dringlich wie damals. Mit der superben Sophia Loren und ihrem charismatischen Co-Star Ibrahima Gueye hat dieser mit viel Empathie erzählte Film alles, was großes Kino braucht. Wenn derzeit auch nur auf den Bildschirmen.

Trailer OV/dt.: www.youtube.com/watch?v=En1jkf34xjc  www.youtube.com/watch?v=PGpSQm-oPWo           Sophia Loren und Edoardo Ponti im Gespräch, ital.: www.youtube.com/watch?v=b7QCmMlJ8zk           www.netflix.com

16. 4. 2021

Cirque du Soleil: Mit neuer Show „Corteo“ in Wien

Januar 25, 2020 in Tipps

Die Meisterakrobaten sind ab 25. März in der Stadthalle

Bild: Dominique Lemieux

Mehr als 50 Artisten Musiker, Sänger und Schauspieler aus aller Welt machen ab 25. März die Wiener Stadthalle zum Zirkuszelt. „Corteo“, italienisch für Festzug, heißt die aktuelle Show des legendären Cirque du Soleil, in der auch diesmal wieder die Gesetze der Schwerkraft scheint’s mühelos überwunden werden. Neu ist eine Drehbühne, auf der die atemberaubenden Vorführungen und Weltklasse-Stunts an den Chandeliers oder mit den Bouncing Beds gezeigt werden.

Sie teilt das Publikum in zwei gegenüberliegende Bereiche, womit die Zuschauer die Vorstellung auch aus der Perspektive der Artisten erleben können. Die wie stets tragikomische Geschichte: eine fröhliche Prozession, eine festliche Parade, in der Inszenierung von Daniele Finzi Pasca, die sich in der Fantasie eines Clowns abspielt.

Bild: Dominique Lemieux

Bild: Dominique Lemieux

Bild: Dominique Lemieux

Dieser erlebt das Ende seiner Zeit auf Erden in einer karnevalsartigen Atmosphäre, während über allem mitfühlende Engel wachen. Corteo stellt das Große dem Kleinen gegenüber, das Lächerliche dem Dramatischen und die Magie der Perfektion dem Charme der Unvollkommenheit. Damit werden gleichermaßen Stärke und Zerbrechlichkeit des Clowns hervorgehoben. Dessen Weisheit und Liebenswürdigkeit symbolisieren die Menschlichkeit, die in uns allen lebt. Die Musik, abwechselnd lyrisch oder spielerisch, trägt Corteo durch ein zeitloses Fest, bei dem die Illusion die Realität neckt.

Bild: Dominique Lemieux

Bild: Dominique Lemieux

Die Show verbindet die Leidenschaft des Schauspielers mit der Anmut und Kraft des Akrobaten. Das Publikum betritt eine imaginäre Welt voller Spaß und Spontaneität an einem magischen Ort zwischen Himmel und Erde. Das Bühnenkonzept versetzt die Zuschauer in eine Theateratmosphäre, die in dieser Form bei Cirque du Soleil-Arenashows noch nicht gesehen wurde. Die durch den Eifelturm inspirierten Vorhänge wurden handgemalt und verleihen der Bühne ein grandioses Aussehen. Die Bauten geben dem Ganzen einen poetischen Rahmen. Seit seiner Premiere begeisterte die Show mehr als acht Millionen Zuschauer in 19 Ländern auf vier Kontinenten.

Über Cirque du Soleil: 1984 aus einer Gruppe von Straßenkünstlern hervorgegangen, hat Cirque du Soleil die Zirkuskunst komplett neu erfunden. Aus Montreal kommend, hat die kanadische Truppe Staunen und Begeisterung bei mehr als 180 Millionen Zuschauern mit 42 Produktionen hervorgerufen, die in fast 450 Städten in 60 Ländern gastierten. Cirque du Soleil beschäftigt derzeit etwa 4.000 Mitarbeiter, darunter 1.300 Künstler und Artisten aus mehr als 50 Ländern.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=ajB8hcmjvFk

www.cirquedusoleil.com           www.stadthalle.com

25. 1. 2020

Daniel Kehlmann: Du hättest gehen sollen

Januar 26, 2018 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine fantastisch gruselige Erzählung

Knapp vor seinem neuen Erfolgsroman „Tyll“ erschien von Daniel Kehlmann das schmale Bändchen „Du hättest gehen sollen“, eine im doppelten Wortsinn fantastische Erzählung, mitreißend spannend und von hohem Gruselfaktor. Vorliegt dem Leser ein Notizbuch, ein Ich berichtet darin über die seltsamen Geschehnisse in einem Ferienhaus in den Bergen.

Dorthin hat sich ein Ehepaar samt Kind, man hat die besten Verliebtheitszeiten schon hinter sich, zurückgezogen, weil er – das Ich – an einem Drehbuch arbeitet. Heißt: An der hanebüchenen Fortsetzung von etwas, das schon beim ersten Mal banal war, wie Fernsehen eben so ist. Die Frau, Schauspielerin, lässt es ihm gegenüber an Verachtung nicht fehlen, so erzählt das Ich die Lovestory seiner Figuren parallel zur eigenen Ehegeschichte.

Bald wird klar, dass mit dem Haus etwas nicht stimmt. Immer mehr Gänge, immer mehr Zimmer tun sich auf, Türen führen ins Nichts, „… wir hatten das Wohnzimmer verlassen, aber die Tür, durch die wir gegangen waren, hatte uns wieder ins Wohnzimmer geführt …“

Es gibt Albträume von einer erschreckenden Frau, deren Foto neben der Waschmaschine hängt, leere Fenster, wo ein Spiegelbild sein sollte. Der Gemischtwarenhändler im Dorf fragt: „Schon was passiert?“, eine seiner Kundinnen rät: „Geht schnell weg!“ Im Kinderzimmer ereignet sich scheinbar Grauenhaftes: „… als ich den Flur entlang zum Wohnzimmer ging, hörte ich die Stimme wieder, und sie sprach Worte, fremd und alt, ein Flüstern halb, halb ein Seufzen, und als ich das Zimmer erreichte und auf dem Bildschirm eine große Gestalt sah, die sich über Esthers Bett beugte, war mir, als bliebe mein Herz stehen. Dann erst sah ich, dass ich das war.“

Bild: pixabay.com

Bild: pixabay.com

Ebenso wie der Verdacht, dass seine Frau fremd geht, erhärtet sich im Ich-Erzähler auch jener, dass er das Haus nicht mehr verlassen kann. Er bleibt in den vier Wänden wie eingekerkert. „Geh weg“ steht auch in seinem Notizbuch, obwohl er sich nicht daran erinnern kann, es hineingeschrieben zu haben. Und dann das: „Vorhin war ein Mann im Zimmer. Er sah nicht gefährlich aus, eher müde … Ich konnte es nicht gut erkennen, weil er nicht auf dem Fußboden stand, sondern an der Decke, und er sah auf mich herunter, als wollte er um Hilfe bitten …“

„Du hättest gehen sollen“ ist eine raffinierte, abgründige Schauergeschichte. Halb Familiendrama, halb Geisterstory. Und unbedingt für eine Verfilmung geeignet. Des Rätsels Lösung ist, es gibt mehr Dimensionen als die Schulweisheit sich träumen lässt, und Raum und Zeit fordern ihren Tribut. Mehr und mehr wird das Geschriebene zu Halbsätzen, bis … letzten Seiten des Notizbuches bleiben leer …

Über den Autor: Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem WELT-Literaturpreis, dem Per-Olov-Enquist-Preis, dem Kleist-Preis und dem Thomas-Mann-Preis ausgezeichnet. Sein Roman „Die Vermessung der Welt“ ist zu einem der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit geworden. Zurzeit unterrichtet er an der New York University und ist Fellow am Cullman Center for Writers and Scholars der New York Public Library.

Rowohlt, Daniel Kehlmann: „Du hättest gehen sollen“, Erzählung, 96 Seiten

www.rowohlt.de

www.kehlmann.com/

  1. 1. 2018

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du

Oktober 9, 2017 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Unheimliche im eigenen Heim

Dann schlaf auch du von Leila Slimani

„Das Baby ist tot“. Mit einem stärkeren, erschreckenderen, abscheulicheren Satz kann ein Buch wohl kaum beginnen. Leïla Slimani verwendet ihn für ihren jüngsten Roman „Dann schlaf auch du“. In Frankreich bereits mit dem Prix Goncourt und dem Publikumspreis Grand Prix des Lectrices de Elle ausgezeichnet, ist Slimanis Arbeit für die deutschsprachige Leserschaft die Sensation dieses Herbstes. Durchaus auch ein Aufreger. Die junge Autorin berichtet ohne Sentiment, in einem kühlen, lakonischen, reportagehaften Tonfall über eine grauenhafte Familientragödie. Den Stil muss man aushalten, jeder Satz wie mit der Rasierklinge geschrieben, in die Seiten gekratzt von einer Betrachterin, die sich nie involviert, die ihre Figuren vom Spielfeldrand aus beobachtet.

Der in diesem Fall quasi ein Spielplatz ist. Das Ehepaar Myriam und Paul nämlich sucht für die Kinder Mila und Adam ein Kindermädchen. Wie Mary Poppins landet punktgenau Louise. Eine Perle, diese Nounou. Nicht nur, dass sie Kleinen mit ihrem Mutterwitz gleich im Griff hat, sie macht Myriams und Pauls Zuhause zu einem kuscheligen Heim. Sie kommt gern früher, bleibt gern länger, putzt, kocht vor, macht die Hausfrau.

Sie nistet sich ein, macht sich das fremde Leben zu eigen, und niemand merkt es. Die Eltern – schwerbeschäftigt, zwei Workaholics, er Musikproduzent, sie Staranwältin, die sich den Nachwuchs angeschafft haben, wie ein Accessoire, das zu einem gewissen Lifestyle einfach dazugehört. Lass‘ uns Familie spielen, ist das nicht chic? Nein, sympathisch sind einem die beiden nicht. Nicht einmal die Kinder sind es. Baby Adam vielleicht noch, aber die ältere Mila ist eine anstrengende, raunzige Nervensäge. Am ehesten fühlt man mit Louise. Von der man von Anfang an weiß, dass sie zur Mörderin werden wird. Dieses Mitgefühl, das ist das Irre an diesem Buch. Dann der erste Gruselsatz: „Sie hat die stille Wohnung ganz in ihrer Gewalt, wie einen Feind, der um Gnade bittet.“ Sukzessive, so langsam wie eine Depressionen heranschleicht, deckt Slimani auf, wer diese Frau ist. Entfaltet ihre Fallstudie.

Wie zwischen den Zeilen erfährt man vom Unheimlichen, blitzt Louises Biografie in Momentaufnahmen durch – und keiner dieser Momente ist schön. Tod des Mannes, der einen nicht zu bewältigenden Schuldenberg hinterließ, Verlust des Hauses, Verlust der Tochter, die die Mutter nicht länger ertrug. Prügel von der Kindheit bis zur Ehe. An einer Stelle steht das Wort Psychiatrie. Affektive Störung. „Ihr Herz ist hart geworden. Die Jahre haben es mit einer dicken, kalten Kruste überzogen, und sie hört es kaum noch schlagen. Nichts vermag sie mehr zu berühren.“ Louises Wohnsituation wird beschrieben. Erbärmlich im Vergleich zum Appartement im 10. Arrondissement, wo Louise bald auch die Badewanne in Besitz nimmt. Herrlich, und erst die schönen Handtücher.

Myriam und Paul wollen lange nicht sehen, was ihre Work-Life-Balance aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Doch es spitzt sich zu, die Konflikte mehren sich. Die Spannung wird von Tag zu Tag greifbarer, aufgeputscht auch durch die Diskrepanz zwischen einem selbst als wissendem Leser und den arglosen Eltern. An seinen besten Stellen ist das Buch eiskalter Suspense.

Bild: pixabay.com

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Louise übernimmt das Kommando, und duldet bald keinen Widerspruch mehr. Sie sieht nicht ein, warum man ein verlegtes Jäckchen von Mila nicht einmal ansatzweise sucht, sondern Myriam sofort ein neues kauft. Sie hat kein Verständnis für Myriams Lebensmittelverschwendung, bereitet ein bereits weggeworfenes Hühnchen als Abendessen zu und drapiert das Gerippe als Mahnung auf dem Esstisch: „Myriam nähert sich dem Tier, das sie nicht zu berühren wagt. Das kann kein Irrtum, kein Versehen Louises sein. Noch weniger ein Scherz. Nein, das Gerippe riecht nach Spülmittel mit Mandelduft.“

Der Umgang miteinander wird gezwungener. Myriam und Paul, ganz liberale Bobos, wollen nicht in Arbeitgeber-Attitüde verfallen. Ihre Gedanken kreisen zunehmend um Louise. Stößt man sie vor den Kopf, lässt man sie spüren, dass sie nur Personal für Besserverdienende ist? Man betrachtet Louise nun mit einer Mischung aus Abscheu, Mitleid und Ärger über die Abhängigkeit, in die man sich ihr gegenüber gebracht hat. Doch man nimmt die Nounou mit in den Griechenlandurlaub, teil aus schlechtem Gewissen, teils aus dem Eigennutz, abends kinderfrei zu haben. „Dann schlaf auch du“ ist ein Buch über Geben und Nehmen. Die Arbeit und die Existenz. Existenz hier auch als Synonym für Leben.

In Frankreich wurde diese politische Brisanz des Buches diskutiert. Denn Slimani hat provokant klug die Verhältnisse umgekehrt, die Klischees zur Kenntlichkeit entstellt. Bei ihr ist die erfolgreiche Myriam ein Mensch mit „Migrationshintergund“. Sie hat wie die Autorin nordafrikanische Wurzeln. Die Ur-Französin ist aus dem Kleinbürgertum ins Prekariat abgerutscht. Im Park ist sie die einzige Weiße unter „farbigen“ Kindermädchen, die reichen Pariserinnen nutzen den Spielplatz als Arbeitsmarkt: „Jeder weiß, dass bestimmte Mütter, die cleversten und gewissenhaftesten, hierher ,auf den Markt‘ kommen, so wie man früher zu den Docks oder in eine Seitenstraße ging, um ein Dienstmädchen oder einen Lagerhalter zu finden.“ Derlei Textstellen waren dem einen oder anderen Rezensenten durchaus eine Bemerkung über die Wohlstandsverlierer der Grande Nation, über den Umgang mit Migranten und einer gegenüber beiden hilflosen Politik wert …

Bild: pixabay.com

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Louise interpretiert die Feriensituation freilich als Aufnahme als Familienmitglied. Eine fixe Idee nistet sich in ihr ein: Myriam muss ein drittes Kind bekommen, damit Louise endgültig unentbehrlich ist. Atemberaubend, was sie alles unternimmt, um ihren Plan in die Tat umgesetzt zu sehen. Doch Myriam und Paul sind viel zu müde für Sex, und in Louises in „delirierender Melancholie“ versunkenem Kopf legt sich endgültig der Schalter um. Leïla Slimani lässt dem Leser keinen Ausweg, sie unterbindet alle Fluchtversuche vor diesem grausigen Wiegenlied. Sie bietet keine Erklärung, keine Er/Lösung. Unausweichlich geht es dem bekannten Ende zu. Ein Sushimesser ist zur Hand. Mila wird im Krankenhaus ihren Verletzungen erliegen, Louises Selbstmordversuch befördert sie fürs Erste ins Koma. „Das Geschrei der Kleinen geht ihr auf die Nerven, sie würde auch gern schreien. Das aufreibende Piepsen der Kinder, ihre schrillen Stimmen, ihr ewiges ,Warum?‘, ihre egoistischen Bedürfnisse spalten ihr den Schädel … ,Ich werde dafür bestraft werden‘, hört sie sich denken. ,Ich werde dafür bestraft werden, dass ich nicht mehr lieben kann.“

Über die Autorin:
Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani gilt als die aufregendste literarische Stimme Frankreichs. Slimani wurde 1981 in Rabat geboren und wuchs in Marokko auf. Nach dem Studium an der Pariser Eliteuniversität Sciences Po arbeitete sie als Journalistin für die Zeitschrift „Jeune Afrique“. „Dann schlaf auch du“ wurde mit dem höchsten Literaturpreis des Landes, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet und erscheint in 32 Ländern. Ihr ebenfalls preisgekröntes literarisches Debüt „Dans le jardin de l’ogre“ wird derzeit verfilmt. Leïla Slimani ist verheiratet und Mutter zweier Kinder. Sie lebt in Paris.

Luchterhand Literaturverlag, Leïla Slimani: „Dann schlaf auch du“, Roman, 224 Seiten. Übersetzt aus dem Französischen von Amelie Thoma

www.randomhouse.de

  1. 10. 2017

Wiener Festwochen: Tianzhuo Chen – 自在天 / Ishvara

Mai 14, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Magic Mush/Room im MuseumsQuartier

Ein einzigartiges Performerpaar spielt mit Religionen und Riten: Beio (li.) und China Yu (re.) verkörpern den Gegensatz von Fleisch und Geist. Bild: Zhang Yan

Premiere eins unter dem neuen Festwochen-Intendanten Tomas Zierhofer-Kin war nun also … und sie war … weniger spektakulär sensationell, als es die Vorablobpreisungen erwarten hätten lassen. Aber immerhin: sehr schön anzuschauen. Die paar Buhrufer hatten zweieinhalb Stunden Zeit, um sich zu verabschieden, der große Rest des Publikums warf sich einander am Ende glückselig in die Arme. Man selbst warf zwei Kopfschmerztabletten ein.

Was nichts mit der Qualität der Aufführung, sondern lediglich mit den blendenden Lichteffekten zu tun hatte. Tatsächlich forderte eine männliche Stimme mittendrin lautstark „Scheinwerfer aus!“ – was immer sie damit sagen wollte. Und apropos, Kopfschmerz: Beipackzettel gibt es genug. Im – vielen Dank! – immer noch erhältlichen Gratisprogramm findet sich eine präzise Erklärung des zu Sehenden, dazu gibt es ein Beiblatt mit deutschsprachiger Übersetzung der chinesisch gesprochenen Textstellen.

Zierhofer-Kin, der Sprechtheater fad und Musiktheater altvaterisch findet, so zumindest lässt sich seine Pressekonferenz interpretieren, die den „Salon Burgtheater“ gleich mal auf die Barrikaden trieb, eröffnete mit seiner Vorstellung von Festwochen. Er lud den Shootingstar der chinesischen Performerszene, Tianzhuo Chen, Jahrgang 1985, zum Tanz – und das Ergebnis ist – ein Magic Mush/Room im MuseumsQuartier. Der Querdenker der Bejinger Kunstszene arbeitet sich in „自在天 / Ishvara“ an so ziemlich jeder Religion und jedem Ritus ab, den’s/die es überhaupt gibt.

Heißt: Als Vorlage für seine siebenszenige Aufführung dient ihm der indische Mythos Bhagavad Gītā, ein Teil des Mahabharata, der Gesang des Erhabenen im Endloskrieg der Generationen durch die Gezeiten. Darin begegnen einander drei Konzepte, das sterbliche Fleisch, die ewige Seele und die ehrfürchtige Hingabe, und treten von Dämonen gepeinigt in einen Wettstreit ums Überleben. Drei Temperamente gibt es außerdem, davon das liebste „Rajas“ – leidenschaftlich, missgestimmt, sehnsüchtig. „Ishvara“ selbst bezeichnet den jeweils höchsten Gott, egal, ob man – im Hinduismus ist das möglich – diesen als Vishnu oder Shiva glaubt.

Was Tianzhuo Chen daraus entwickelt ist, als hätte sich Monty Python (tatsächlich hält eine Comic-Gotteshand den Kopf eines Enthaupteten, siehe auch die Göttin Durga) mit einem Manga-Mädchen verpaart. Diese wird später zu einer Art Heiliger Sebastian, die Heiligen Drei Könige setzen auf Golgatha vor das Kreuz einen Halbmond, halt: falsch, das sind schon besagte Dämonen. Einer schlägt die Trommel, einer lässt den Zopf kreisen, ein Paar tanzt in Zeitlupe Jive, Darsteller tragen einen aufgemalten Davidstern. Kakushin Nishihara spielt die Satsuma Biwa bis die Ohren bluten, und die Schweizer DJane Aïsha Devi orchestiert das Geschehen mit ihren grandiosen Klagelauten.

Tradition knüpft an Moderne: China Yu spielt mit Geschlechterrollen … Bild: Zhang Yan

… und zerstört in einer späteren Szene eine aufblasbare Riesenfrau. Bild: Zhang Yan

Und dies das tatsächliche Problem des Abends: Man kann der ultimativen Ekstase nicht in Reih und Glied sitzend beiwohnen, da hilft’s auch nichts, dass sich die Herren im Ensemble beim frenetischen Schlussapplaus ihrer Lendenschurze entledigen und wie die Götter sie schufen über die Bühne hüpfen …

Anyway, im Mittelpunkt der Aufführung stehen die beiden exzeptionellen Performer Beio und China Yu, ersterer unverkennbar Butoh-geschult und mit zweiterem Gründer der Asian Dope Boys, schon aufgrund ihrer Körperlichkeit zeigen sie die Gegensätze von Fleisch und Geist an, Prakrti und Bhakti, der Sinnenmensch und der Gläubige am Teichufer. Der Sound wummert in den Eingeweiden, die Augen kämpfen gegen das Licht, die Darsteller wiegen und verbiegen sich höchst ästhetisch, während „Handlung“ abläuft.

Kostüme und Ganzkörperbemalungen sind opulent, wie schade, dass vieles oft im künstlichen Nebel außer Sicht gerät. Manieristisch? Ist dieser Abend zweifellos. Tianzhuo Chen setzt mehr auf Effekt denn auf Erleuchtung, setzt auf Eskapismus statt auf Erklärungen.

In zwei vergleichsweise stillen Szenen schildert die junge JoJo den mehrfachen Mord an ihrem immer wiederkehrenden Ehemann (daher: vorher Text lesen!), China Yu zerstückelt später eine aufblasbare Riesenfrau, entreißt ihr Gedärme und Nabelschur – und lässt so JoJo wieder in die Welt treten. Provokation mag das in Bejing gewesen sein, beim abgeklärten Wiener Publikum lösen diese Sequenzen freundliches Interesse aus. Eine Gruppe in den oberen Reihen hat sich entschlossen, jeden Bühnenfurz zu bejubeln, um den Schimpf-Zuschauern etwas entgegenzuhalten. Die opulenten Bilder werden von unzähligen Handykameras dokumentiert.

Der Rave erreicht den Höhepunkt, im orgiastischen Geschehen hat man längst kapiert, dass hier mehr Event-Fashion-Show als sonst was abläuft. Und dann – haut’s einem Tianzhuo Chen um die Ohren – die Emotion – in einem berührenden Schlussbild. China Yu hält JoJo in einer Art Pietà fest und singt mit ihr ermattet-grotesk ein berührendes Pop-Liebesduett. Danach dreht er wieder, wie zu Anfang, Schirmchen … Der bildende Künstler Tianzhuo Chen changiert bei seiner ersten Theaterarbeit zwischen symbol/trächtig und bedeutungs/schwanger. Der Mensch unterwirft das Göttliche, um selbst gottgleich zu werden, und das alles ist dann wie ein Ecco homo. Oder ist das schon zu viel interpretiert? Man sollte „Ishvara“ einfach einsickern und wirken lassen – die #viennapartyweeks 2017 sind jedenfalls eröffnet.

www.festwochen.at

Wien, 14. 5. 2017