Volkstheater: Erniedrigte und Beleidigte

September 16, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Exzellentes Ensemble spielt einen Dostojewski-Exzess

Der genialische Uwe Schmieder spielt einen der drei Wanjas, aber auch den betrogenen, verarmten Gutsbesitzer Ichmenew. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Im gegenüberliegenden Café hat man Sorge sowohl ums Volkstheater als auch um sich selbst. Das Stammpublikum bleibe dort ergo auch da aus, und die Jungen, die wüssten das Traditionslokal nicht zu schätzen: „Die stehen lieber mit der Bierdose vorm Haus.“ So beginnt der Abend zur zweiten Herbstpremiere der Intendanz Kay Voges. Mit erschreckend spärlich besetzten Reihen, und dies durchaus unverdient, denn ein exzellentes Ensemble spielt sich die Seele aus dem Leib.

In Sascha Hawemanns Bühnenfassung und Inszenierung von „Erniedrigte und Beleidigte“ – Dostojewskis Roman reloaded. Der ostdeutsch-jugoslawische Regisseur ergänzt den alten Russen um aktuelle Themen. Klimakrise, Diversität, Gleichstellung, davon war vor 160 Jahren noch nicht die Rede, doch wenn Fürst Walkowski und der Schriftsteller Wanja derlei zur Sprache bringen, gelingt Hawemann die Übung dies nicht als aufgesetzt-modernen Fremdkörper stehen zu lassen. Und apropos, Körper: Dostojewskis Personal nennt er „Splittermenschen“, wozu überaus stimmig passt, dass der Iwan Petrowitsch aka Wanja von den drei Darstellern Frank Genser, Samouil Stoyanov und Uwe Schmieder gestaltet wird (die beiden letzteren auch großartig in „Die Politiker“, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=47410).

Als noch überschwänglich junges, revolutionär mittleres und resigniertes altes Ich, die „Erniedrigte und Beleidigte“ eben erst zu Papier bringen, während sich das Bühnengeschehen darob schon entspinnt, Genser darin auch eingesetzt als nicht-die-hellste-Kerze-am-Kronleuchter Fürstensohn Aljoscha, während Schmieder als zweiten Part den, da vom Fürst betrogenen, verarmten, verhärmten Gutsbesitzer Ichmenew gibt. Der Rest ist schnell erzählt: Wanja liebt Ichmenews Tochter Natascha, Friederike Tiefenbacher, Natascha liebt Wanjas besten Freund Aljoscha, kurz lässt Hawemann sie enthusiasmiert von einer Ménage à Trois träumen. Doch der Fürst hat andere Pläne für seinen Adelsspross, nämlich die Heirat mit der vermögenden Gräfin Katja Fjodorowna, Evi Kehrstephan.

Um die Damenriege zu komplettieren, nimmt sich Wanja des Waisenkindes Nelly, Lavinia Nowak, an, eigentlich des Fürsten Tochter und ihre verstorbene Mutter dessen erstes Opfer bei seinem Jagdsport auf reiche Erbinnen. Kapitalistische Gier und Menschenverachtung, Hawemann zeigt sie als zentrale Krankheiten einer Gesellschaft ohne Utopien. Seine Wanjas sind nicht nur auktoriale Erzähler ihrer Geschichte und gleichzeitig Figuren in dieser, Berichterstatter, Bote und Personage, heißt: allwissend und unwissend in einem, sondern auch Alter Egos des Autors Dostojewski. Wie der Schriftsteller Wanja ums psychische wie physische Überleben kämpft, wie der Epilepsie-Kranke an Krampfanfällen leidet, das gemahnt doch sehr an seinen Schöpfer.

Die drei Wanjas Frank Genser, Samouil Stoyanov und Uwe Schmieder mit Friederike Tiefenbacher und Lavinia Nowak Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Der von Liebesqualen angekränkelte Wanja und Fürst Walkowski: Uwe Schmieder und Andreas Beck. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

● In der ersten Hälfte der 1840er-Jahre stand Dostojewski dem Frühsozialismus nahe, was dem damals 28-Jährigen ein Todesurteil, eine Scheinhinrichtung und schließlich Zuchthaus in Sibirien einbrachte. Vier Jahre verbrachte er in Ketten in Omsk, darauf Jahre im Militärdienst in Semipalatinsk. Erst 1857 erhielt er seine Bürgerrechte wieder. Mit 38 Jahren beginnt Dostojewski seine Arbeit als Seismograph des Zeitgeschehens. Getrieben von Geldnot und um „Erniedrigte und Beleidigte“ veröffentlichen zu können, gründen sein Bruder Michail und er die Monatszeitschrift „Wremja“, in der Dostojewski seinen Roman in Fortsetzungen veröffentlicht. Eine Geschichte voll Daseinsdruck, Lebens- und Liebesdruck in St. Petersburg, der Stadt, die alle auffrisst.

Derart zwischen des Autors Kopfgefängnis und den verheißungsvollen Lichtern der Großstadt wechselt das Bühnenbild von Wolf Gutjahr, mal ein weißer Kubus, in dem lautloser Schnee fällt, mal zwei Riesenleuchtbuchstaben: das kyrillische Я, gesprochen als „ja/ich“ und das ж, erste Letter des Wortes Leben. Das dritte Bühnenobjekt, ein ausgehöhltes Kartonkreuz als mit den Romanseiten tapezierte Wohnstatt, Ikonen-geschmückte Kirche, abgründiger Gulag, zitiert Malewitschs „Schwarzes Kreuz“ aus dem Jahr 1923.

Und so beginnt die Aufführung im Schneeschauer, Schmieder wild um sich schreibend, Genser als Flagellant, Stoyanov, der die Christuspose übt – und abwinkt. Als Schmieder mittendrin zum Gutsbesitzer mutiert, bescheidet er die anderen Wanjas: „Ich bin jetzt der Vater, mach‘ du.“ Andreas Beck zieht vorüber als magerer Smith, dies naturgemäß ein Lacher, Nellys Großvater. Als den ihn Tragikomiker Stoyanov entlarvt, liegend im sich schneller drehenden und Schmieders Schreibtempo beschleunigenden Krankenhausbett. Stoyanov diktiert Schmieder die Zeilen, zu denen er befriedigt feststellt: „Das ist wirklich super.“ Während nebenan Wanja-Genser skurrilsinnig am Feindesnamen in Liebesdingen – Aljoscha – fast erstickt. Ja, das Volkstheater um Kay Voges und seinen Regie-Gästen hat eine expressiv eigene Art zu agieren, doch an dieser Stelle hat man entschieden dies erstmal zu mögen …

Friederike Tiefenbacher als Natascha Nikolajewna und Uwe Schmieder als von der Liebe zu Boden gerungener Wanja. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Im roten Kreuz: Friederike Tiefenbacher, Andreas Beck und Evi Kehrstephan als Gräfin Katja Fjodorowna. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Zum russisch-melancholischen Klavier- und Gitarrensound von Multiinstrumentalist Xell. entwickeln sich die Generationen-/Konflikte parallel, Schmieder gegen Tiefenbacher, Beck gegen Nowak, die Spielerinnen und Spieler oft nur Schatten im gleißenden Gegenlicht, die Konzentration ganz auf die Sprache gerichtet. Intensiv ist die Begegnung zwischen Wanja-Schmieder und Nelly-Nowak, der Engel mit der Erinnerung des Schmerzes und Aljoschas nervös tänzelnder Liebesplatzhalter. Nowak, die mit sexualisierten Gesten für die pädophile Kundschaft Nellys Strumpfhose bis zu den Knöcheln abstreift. Ein Symbol für deren Ausbeutung als Kinderprostituierte, wie Hawemann generell mehr auf symbolhafte Handlungen denn auf fein ziselierte Charakterstudien setzt.

Solcherart sucht er scheint’s das Spezielle ins Universelle fortzuschrauben. Mit subtilem Humor, der tyrannische Patriarch, Achtung: doppelter Wortwert, Beck besucht Opferlamm Natascha im roten Kreuz: „Je tugendhafter eine Handlung ist, um so mehr Egoismus steckt dahinter“; dann wieder plakativem Sarkasmus, Aljoscha zu Wanja: „Pseudoschriftsteller! Du kriegst nicht mal eine Inhaltsangabe hin!“ – und Tschingderassabum. Den Slapstick nicht zu vergessen, wenn die drei Wanjas am Rande des Nervenzusammenbruchs balancieren oder sich ein Klavierkonzert Katjas für Aljoscha zum Orgasmusstück  auswächst, Evi Kehrstephan, eine von vier übernommenen Kräften, die allerdings jetzt erst im Volkstheater so richtig angekommen wirkt.

Friederike Tiefenbacher überzeugt als frühsozialistische Heldin, deren Beispiel Katja dazu bewegt, ihr Erbe fürs Gemeinwohl spenden zu wollen, Andreas Beck als ihr Gegenpol des jovialen Reaktionärs, der seinen Sohn für einen Trottel hält und Wanja vorwirft, sich schriftstellerisch nur für Elend, Revoluzzer und den Rand der Gesellschaft zu interessieren, statt ein Loblied auf Urbanisierung und Industrialisierung zu singen. Alldieweil Schmerzensmann Schmieder als von seinen Figuren heimgesuchter Wanja diese nach und nach entgleiten.

Bei der Bubnowa: Friederike Tiefenbacher mit Lavinia Nowak, Samouil Stoyanov als Wanja und Andreas Beck. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Führt Klage gegen ihre pädophilen Freier: Lavinia Nowak als des Fürsten Fehltritt Nelly und Frank Genser. Bild: © Nikolaus Ostermann / Volkstheater

Es mag ein Seitenhieb aufs Was-bisher-Geschah sein, wenn er die Meinungsmacher und Verfasser schlechter Kritiken auffordert, den ersten Stein zu werfen, oder die Saalflüchtlinge, die es auch bei dieser Premiere gibt, rügt, erst „für die erste Reihe links“ zu zahlen, nur um sich dann „rechtschaffen“ aufregen zu können. Zitat Dostojewksi: „Diese Erneuerung des Schmerzes und der dadurch erzielte Genuss waren mir verständlich: diesen Genuss bereiten sich viele Erniedrigte und Beleidigte, die vom Schicksal niedergetreten sind und sich der Ungerechtigkeit desselben bewusst sind.“

Mit Dostojewskis Reiseskizze „Winterliche Aufzeichnungen von Sommereindrücken“ über seinen Weltausstellungsbesuch des Londoner Kristallpalasts 1862, ihm ein Turm zu Babel und wie eine Prophezeiung aus der Apokalypse, als welche er die nach Westen zu immer stärkere Zusammenballung der Industrie ansieht, die eine Aufhäufung von gewaltigen Reichtümern, aber auch von massenhafter Armut mit Kinderarbeit, Prostitution und Alkoholismus und dazu noch eine hemmungslose Zerstörung der Natur mit sich brachte – heute zu lesen als globale Kapitalismuskritik und jener am Glauben ans unendliche Wirtschaftswachstum, endet das Ganze.

David Bowie singt vom Band „Space Oddity“, man hat bildgewaltige, fieberträumerische Szenen gesehen, ein fabelhaftes Ensemble, das mit Verve durch Hawemanns Matrix aus Begehrlichkeiten, Gewalt und Selbst-/Aufgabe turnt. Einem Storytelling, das etwas Straffung vertragen könnte, in das man sich aber ohne Weiteres auch emotional involvieren darf. Der Applaus des bis zum Schluss verbliebenen Publikums war herzlich. Zugegeben, noch hat Kay Voges‘ Rakete nicht abgehoben, aber die Triebwerke sind schon mal gezündet. „And I’m floating in a most peculiar way / And the stars look very different today …“

www.volkstheater.at           Video: www.youtube.com/watch?v=_zPDiCmq4Pw

  1. 9. 2021

TheaterArche: Odyssee 2021

September 11, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Irrfahrt durch Schauplätze und Seelenräume

Eike N.A. Onyambu, Helena May Heber, Roberta Cortese, Bernhardt Jammernegg, Pia Nives Welser, Marc Illich und Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Es wäre nicht Jakub Kavin, wenn er nicht wieder etwas Besonderes in petto hätte. Der Theatermacher, der seine TheaterArche als einziger am ersten möglichen Tag nach dem Kulturlockdown zur Premiere des überaus passenden Rückzugsstücks „Hikikomori“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=40634) öffnete, hat mit seinem Team nun die „Odyssee 2021“ erarbeitet. Ein Stationentheater, dessen erste zum Prolog ein jeweils anderer Ort im sechsten Bezirk sein

wird, diesmal war’s der Fritz-Grünbaum-Platz vorm Haus des Meeres, bevor es in die Münzwardeingasse 2 geht. Uraufführung ist heute Abend, www.mottingers-meinung.at war bei der gestrigen Generalprobe. Und so beginnt die Irrfahrt durch Schauplätze und Seelenräume. Zu Homer, Dantes „Göttlicher Komödie“, Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ und natürlich James Joyces „Ulysses“, hat Kavin, weil ihm das alles zu männlich konnotiert war, als weibliche Gegenstimmen die Autorinnen Marlene Streeruwitz, Miroslava Svolikova, Lydia Mischkulnig, Kathrin Röggla, Theodora Bauer, Margret Kreidl und Sophie Reyer eingeladen, Texte für die „Odyssee 2021“ zu verfassen.

„Mit dem Resultat“, so Kavin im Gespräch über sein nunmehriges „Frauenstück“, „jetzt vier Odyssas, zwei Penelopes und eine Lucia Joyce zu haben, Lucia, die Tochter von James Joyce, eine Tänzerin, die mit 30 als schizophren diagnostiziert wurde und 50 Jahre in diversen psychiatrischen Kliniken zubrachte.“ – „Errrrrrrrrrrrr wiederholt sich. Sch! Schlauch, Schlund, Schlamassel. Der Schlüssel zum Ödipuskomplex.“ (Margret Kreidl)

Sieben Performerinnen und sieben Performer, Roberta Cortese, Max Glatz, Claudio Györgyfalvay, Elisabeth Halikiopoulos, Helena May Heber, Marc Illich, Bernhardt Jammernegg, Tom Jost, Nagy Vilmos, Manami Okazaki, Eike N.A. Onyambu, Amélie Persché, Pia Nives Welser und Charlotte Zorell, dazu Multiinstrumentalist Ruei-Ran Wu, die meisten davon erstmals im TheaterArche-Engagement, gestalten die Collage. Eine Reise ins Ungewisse, Unbekannte, Untiefe, die sich für jede Zuschauerin, jeden Zuschauer des in drei Gruppen aufgeteilten Publikums anders gestaltet.

Choreografin Pia Nives Welser, hi.: Roberta Cortese und Claudio Györgyfalvay. Bild: © Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg im Inferno mit Max Glatz, Manami Okazaki und Charlotte Zorell. Bild: © Jakub Kavin

Roberta Cortese unter Höllentieren: Claudio Györgyfalvay, Max Glatz und Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg, Roberta Cortese, Charlotte Zorell und Pia Nives Welser. Bild: © Jakub Kavin

Man selbst strandet zuerst im Irish Pub, die Ausstattung aller Räume ist von Schauspielerin und Bildhauerin Helena May Heber, denn wie stets hat Kavin interdisziplinär tätige Künstlerinnen und Künstler um sich versammelt, strandet im Irish Pub also, wo man aber nicht etwa Leopold Bloom, sondern in Marc Illich und Tom Jost zwei Raskolnikows begegnet, die Serviererin-Prostituierter Sonja, Pia Nives Welser, mit Marc Illich und Claudio Györgyfalvay auch für die Choreografien zuständig, und Barkeeper Johannes Blankenstein bei Wodka und Whiskey vom Totschlag der Pfandleiherin berichten.

Dass dabei auch Russisch gesprochen wird, ist in der TheaterArche Programm, später wird’s noch Monologe in Englisch, Italienisch und Japanisch geben, Eike N.A. Onyambu rappt Amanda Gormans Amtseinführungsrede für Joe Biden: „We are striving to forge our union with purpose. To compose a country committed to all cultures, colors, characters and conditions of man.“ Roberta Cortese klagt im „Inferno“: „ich bin verwirrt gewesen, das kommt doch vor. ich hatte die mitte des lebens erreicht, die mitte des horizonts, den halben weg. oder, wo sonst bin ich hier?“ (Miroslawa Svolikova).

Koloratursopranistin und TheaterArche-Co-Leiterin Manami Okazaki spricht und singt zur AKW-Katastrophe in Fukushima: „Die Natur schlug zu und traf das Kernkraftwerk. 120 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt bin ich aufgebrochen und wusste wohin. In ein Zelt. Und was wird sein?“ (Lydia Mischkulnig). Kavin hat den Begriff Odyssee weit gefasst, vom antiken Inselhopping zur Irrfahrt zu sich selbst zur Rückkehr in ein verseuchtes Land.

Bernhardt Jammernegg als Teiresias. Bild: © Jakub Kavin

Fukushima-Monolog von Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Elisabeth Halikiopoulos im Spiegel-Boudoir. Bild: © Jakub Kavin

Bildhauerin Helena May Heber. Bild: © Jakub Kavin

„Es geht mir um die Heimatsuche, die geografische wie die innere“, sagt er. „Meine Figuren sind Weitgereiste, Wartende, vom Schicksal verwehte, Anti-Heldinnen und -Helden, die fehlgehen, wo immer der Mensch nur irren kann. Das heißt“, unterbricht er sich, „meine Figuren sind es nicht, wir sind ein Produktionskollektiv, bei dem alle in die Rolle das Ihre einbringen. Ich vertraue den Spielerinnen und Spielern den Text an, damit sie ihn mit ihren eigenen Subtexten zum Leben erwecken.“

Derart ist die Performance von der ersten Minute an intensiv, durch die Nähe zum Geschehen auch intim, meint: auf spezielle Weise immersiv, die TheaterArche gewohnt innovativ. Weiter geht’s in den Theatersaal, wo sich im von Tom Jost und Nagy Vilmos gesprochenen „Inferno“ Roberta Cortese und Bernhardt Jammernegg in Höllenqualen winden. TheaterArche, das ist immer auch Körpertheater, hier kriecht ein Ensemble aus Unterweltsfratzen gleich Totentieren auf die Unglücklichen zu. Grausam-poetisch ist das, enigmatisch, aufregend, und so findet man sich in der persönlichen Lieblingsschreckenskammer wieder.

Einem Dostojewski’schen Spiegel-Boudoir mit Elisabeth Halikiopoulos als frech-frivole Molly Bloom, Charlotte Zorell als Reitgerten-bewehrte Domina und Nagy Vilmos mit Beißkorb – pst, mehr soll da nicht verraten sein. Nur so viel, um Sartre zu bemühen: Die Hölle, das sind die anderen …

Die Raskolnikows Marc Illich und Tom Jost parlieren im Irish Pub auch auf Russisch. Bild: © Jakub Kavin

Selbst das Klavier ist gestrandet: Amélie Persché, Nagy Vilmos und Charlotte Zorell. Bild: Jakub Kavin

Als Reitgerten-bewehrte Domina mit einem Stammkunden: Charlotte Zorell mit Nagy Vilmos. Bild: © Jakub Kavin

Endlich Penelope und Odysseus: Helena May Heber und Claudio Györgyfalvay. Bild: © Jakub Kavin

Die „Odyssee 2021“ dreht sich kaleidoskopisch um die Achse Homer, bei Kavin reimt sich selbst noch Amanda Gorman aufs Gorman-Gilbert-Schema zum „Ulysses“, Homer also, als dessen antiker Odysseus Claudio Györgyfalvay durch das Labyrinth der Räume rennt, gehetzt von Kirke und eigenen Dämonen, einen Ausweg erflehend, doch von Kavins Assoziationsketten in Fesseln geschlagen. Und apropos, schlagen: Im Foyer findet man erneut Helena May Heber, die während der zweimonatigen Spielzeit einen 300-Kilo-Stein zur Muttergöttin meißeln wird, begleitet von Amélie Persché, mit 17 Jahren die jüngste im Ensemble, auf der Bratsche. Zwei Frauen, Homers Penelope und Theodora Bauers Penny: „Sie haben mir gesagt, ich muss warten. Ich muss immer, immer warten. Ich hasse warten.“

Am Ende, alle versammelt im Theatersaal, gesellt Jakub Kavin zu seinen Protagonistinnen und Protagonisten die Antagonisten: Bernhardt Jammernegg als mittels Kontaktlinsen erblindeter Teiresias im Fake-News-Anzug, Tom Jost als Swidrigailow, Nagy Vilmos als Leopold Bloom und Max Glatz, eben noch Polyphem, als Joyces „Telemach“ Stephen Dedalus. Für Marc Illich als Zukünfigen Odysseus hat Hausautor Thyl Hanscho einen Text geschrieben. So endet nach drei Stunden ein herausforderndes, faszinierendes Theaterereignis, ein Gesamtkunstwerk, dessen Genuss man nur von ganzem Herzen empfehlen kann.

„Zwischen Skylla und Charybdis lassen wir die Ketten zur Brücke werden. Wir befreien die Ungeheuer und damit uns von der Angst in die alten Sprachen zurückzugeraten.“ (Marlene Streeruwitz)

Vorstellungen bis 11. November. Den Spielort des Prologs erfährt man jeweils beim Kauf des Tickets. www.theaterarche.at

TIPP:

Von 11. September bis 11. November findet in der TheaterArche außerdem das Odyssee Festival statt. Zu den 14 Aufführungen zählen: Dione – mit Koloratursopranistin Manami Okazaki präsentiert Scharmien Zandi erstmals alle Elemente des internationalen Kunstprojekts als Opernperformance. Lost My Way von und mit Saskia Norman, Regie: Elisabeth Halikiopoulos. Das Tanztheaterstück Mythos. The Beginning of the End of the Story von Nadja Puttner und Unicorn Art. Das Schauspiel- und Figurentheater Der Sturm, für Kinder ab 6 Jahren, frei nach Shakespeare und inszeniert von Eva Billisich. Stilübungen – Raymond Queneaus Meisterwerk als Theaterstück. Und von 28. bis 30. Oktober Das Dostojewski Experiment, eine szenische Collage der TheaterArche mit großem Ensemble, ein Fest zum 200. Geburtstag des russischen Romanciers.

www.theaterarche.at

  1. 9. 2021

Bronski & Grünberg: Schuld & Sühne

Januar 8, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Aus den Scherzen eine Mördergrube gemacht

Rodion Romanowitsch Raskolnikow hat sehr eigene Rechtfertigungen für den „gerechten“ Mord an jenen Menschen, die er „Laus“ nennt: Charlotte Krenz. Bild: © Philine Hofmann

Als Ansager im Biedermannspulluder, wie Stefan Lasko da anfangs vor dem roten Theatervorhänglein steht, als Bronski-&-Grünberg-Antwort auf Michael Palin, ist vollkommen klar, dass sich hier wieder ein starkes Stück erlaubt wird. Monty Python‘s Staged Punk sozusagen, sind die Bronskisten doch für die Wiener Bühnenwelt, was die Sex Pistols dereinst für die Spikesszene waren – nur weniger sid-vicious denn absurd und grotesk. Diesmal haben, soweit’s Text und Regie betrifft, zwei von drei Prinzipale selbst Hand angelegt, Alexander Pschill und Kaja Dymnicki, alldieweil Julia Edtmeier schauspielert. Worin, das will Lasko ja erklären, im Werk eines berühmten

Russen, wobei geschlagene drei Stunden lang weder an Ausstattung noch Mitwirkenden gespart werde. „Tolstoi!, Tschechow!, Dostojewski!“, klingt’s von diesen aus dem Off, ja, bei jenen Literaten und deren üppigem Personal kann man schon in die Irre gehen, wie Evelyn Hamann im North-Cothelstone-Hall-Sketch, aber tatsächlich wird „Schuld & Sühne“ – die Wiederaufnahme geboten. Frei nach Fjodors Feuilletonroman um den St. Petersburger Studenten Rodion Romanowitsch Raskolnikow und dessen seltsamen Rechtfertigungen für den „gerechten“ Mord.

Und weil ein solches Mammutprojekt für das Müllnergassen-Tschocherl, zwar nicht punkto Intellekt und Irrwitz, aber was den Innenraum betrifft, sowieso zu groß ist, hat man sich gleich ins Guckkastenformat verfügt. Hinterm Hangerl nämlich verbirgt sich eine Handdrehbühne, die per Muskelkraft mal Studentenbude, mal das Zimmerchen der Pfandleiherin Aljona Iwanowna, mal Polizeistube ist. En miniature ist en détail eingerichtet, mit Schlüsselbord, Brausekopf, Blumentopf, Wassili Perows Porträt – und original Rasselbockkopf.

Die Axt im Haus hat Charlotte Krenz als Raskolnikow, sie nicht die einzig cross-besetzte, statt tief gefallener Hochschüler nun gescheiterter Schauspieler, den Aljona Iwanowna samt Schwester Lisaweta bereits als düsterer Tagalbtraum heimsuchen, bevor er überhaupt Geschäfte geheuchelt, dann sie hingemeuchelt hat. Krenz gibt den designierten Mörder mit nach rückwärts gegelter Langhaarmatte, sinister, fiebrig und mit selbstgefälligem Wahnsinnsgrinsen unterm ausgefransten Menjou-Bärtchen. Zum Belächeln wär‘ das, würde Krenz ihren Eigendünkler seine ideologischen Überlegungen über privilegierte Herren-Menschen, denen das „erlaubte Verbrechen“ an der „Laus“ als Geburtsrecht zusteht, nicht mit einem Zynismus Richtung Zuschauer raunen lassen, dass einem nicht jenseitig, sondern ganz jetztzeitig wird.

Boris Popovic, Julia Edtmeier, Alexander Jagsch, Charlotte Krenz, Marius Zernatto, Maddalena Hirschal. Bild: © P. Hofmann

Christian Gnad, Maddalena Hirschal, Alexander Jagsch, Marius Zernatto, Charlotte Krenz, Julia Edtmeier. Bild: © P. Hofmann

Das Totschlagargument bekommt am eigenen Leib bald die wucherische Zinseneintreiberin zu spüren, Doris Hindinger, die mit misstrauisch nach unten gezogenen Mundwinkeln die zu versetzenden Habseligkeiten des übelmeinenden Kunden in Empfang nimmt, eine bauernschlaue, ausgefuchste Alte, deren böse Blicke einen, wenn sie’s denn sprichwörtlich könnten, aus dem Leben beförderten. Wunderbar, wie sie bei jedem Türöffnen vorm ausgestopften Wiesel überm Türrahmen zusammenzuckt, als erkenne da ein Frettchen das andere. Der ganze Abend ist rappelvoll mit solcherlei stummfilmischem Slapstick, vollbelegt wie die Bühne, auf der sich – Platz ist in der kleinsten Kulturhütte – gezählte vierzehn Akteurinnen und Akteure tummeln.

Für Bronski-Verhältnisse erstaunlich werktreu haben Pschill und Dymnicki bei dieser Inszenierung gewerkt, freilich streichen sie, schreiben Rollen neu und um, lassen Soundeffekte von einem Speiseeiswagen, Overacting, Faxen- und Fratzenmachen zu, aber im Kern blieb’s beim Buch. Herr-lich ist Alexander Jagsch als Raskolnikows Mutter Pulcheria Alexandrowa, ein baumlanger Vamp mit inzestuösen Anwandlungen, eine Fleisch gewordene freudsche Traumdeutung, das Über-Ich im 180-Grad-Umbau, wenn sie schnippisch anmerkt, ihres Sohnemanns Depressionsanstrich beschmiere sogar die vierte Wand.

Im Bronski & Grünberg lässt das Publikum gern mit sich spielen, da wird aus den Scherzen im Wortsinn eine Mördergrube gemacht, bei dieser russischen Kasperliade, mit der die Bronskisten definitiv ein neues Level erreicht haben. Kim Schlüter gibt mit Kulleraugen die geistig zurückgebliebene, bei Dostojewski ergo kindliche Unschuld symbolisierende Lisaweta, Thomas Weissengruber Pulcheria Alexandrowas Verlobten Luschin als versnobten „Das wird man doch noch sagen dürfen!“-Neureichen, und stellt sich so als Kapitalist gegen den frühsozialistischen Fast-Sohn, und apropos Kapital: in einer Marx-Brothers-Hommage platzt dessen Kammerspiel-Kämmerlein mittlerweile als allen Nähten.

Ermittlungsrichter Porfirij wagt schon einmal ein Siegestänzchen: Florian Carove. Bild: © Philine Hofmann

Die Untoten und ihr Mörder: Doris Hindinger als Pfandleiherin, Kim Schlüter und Charlotte Krenz. Bild: © Philine Hofmann

Julia Edtmeier hat für sich eine Pate-streichelt-(ausgestopfte)-Katze-Szene erfunden. Sie spielt Raskolnikows Freund Rasumichin, ebenfalls erwerbsloser Mime, der gerade ein Engagement als Kindertheaterpferd hat und mit kriminalistischem Spürsinn den Täter um Kopf und Kragen redet, legt er doch Florian Carove als Ermittlungsrichter Porfirij und Marius Zernatto als dessen diensteifrig-dämmlichem Assistenten die heiße Spur zum Schuldigen. Carove gestaltet den Amtsträger mit seinem subtil-psychologischen Katz-und-Maus-Gehabe als eine Art Columbo. Allerdings hat er den Trenchcoat gegen Ballettschuhe getauscht – und seine wortverdrehenden Pirouetten beim Verhören des Verdächtigen sind schlicht spitze.

Maddalena Hirschals Mixcharakter ist irgendwie auch Dunja, jedenfalls Sofja Semjonowna Marmeladowa, als die sie immer aufs Neue betonen muss, bestimmt keine Prostituierte zu sein. Und während Stefan Lasko, auch dies Michael-Palin‘isch, auf bekochwütige, nachbarliche Nervensäge macht, erscheint aus dem Untergrund Claudius von Stolzmann als Marmeladow und räumt aus dem Unterbühnenraum, das Gesicht bald so hochrot wie Caroves tanzangestrengtes, eine komplette Wohnungseinrichtung, Stehlampe, Sitzkissen, Fernseher, auf die und wieder von der Spielfläche – wozu er dem darob nicht wenig irritierten Raskolnikow seine erlogene Lebensbeichte ablegt. Ein furioser Monolog, ein fantastisches Kabinettstück, ein Höhepunkt der Aufführung. Es macht Spaß zu sehen, mit wie viel Lust und Genauigkeit hier gearbeitet wird.

Boris Popovic, Christian Gnad und Patrick Weiss als weitere Hausbewohner, Schaulustige, Jagsch-Verehrer, Beamte ergänzen den Cast. Hindinger und Schlüter haben noch einen Auftritt als blutüberströmte Untote, Edtmeier liest die Reclam-Ausgabe von „Weh dem, der lügt“. Carove zerbricht sich in Zeitlupe den Kopf übers Schädelspalten, was mit Krenz zu Dialogen à la „Ich war in der Tat dort.“ – „Am Tatort?“ führt, bevor Raskolnikows „Anstrengungen im Sinne des allgemein-menschlichen Fortschritts“ gewürdigt werden, und er abgeführt wird. Dabei, im Bronski & Grünberg kann die übliche Lösung nicht die gängige sein, und so enttarnt sich als wahrer Mörder schließlich … weil gleichermaßen Geldschulden bei und daher Hass auf die Pfandleiherin … Großartig!

 

Trailer: vimeo.com/353973287           www.bronski-gruenberg.at

  1. 1. 2020

Bronski & Grünberg Theater: Der Spieler

März 13, 2017 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

In Saigon spielen die Amis auf Russisch Roulette

Männer am Rande des Nervenzusammenbruchs: Dominic Oley als „Der Spieler“ Alex W. Rodeo würgt den arroganten Franzosen Froggie alias Florian Carove. Bild: © Lukas Wögerer

Im erst diesen Winter aus der Taufe gehobenen Bronski & Grünberg Theater stand am Wochenende „Der Spieler“ auf dem Premierenplan. Die beiden künstlerischen Leiter Alexander Pschill und Kaja Dymnicki haben aus Dostojewskis Roman eine eigene Fassung fürs Haus erarbeitet, haben auch gemeinsam Regie geführt – und einen richtig klasse Abend auf die Bühne gestellt. Die große Kunst, die ihnen hierbei gelang: Wiewohl die Zeit um mehr als hundert Jahre und der Ort um beinah 9.700 Kilometer verschoben wurden, wird dem Nonplusultra aller russischen Schriftsteller keine Gewalt angetan.

Pschill und Dymnicki haben dies Werk der Weltliteratur, wie vom Autor vorgesehen, als burleske Groteske verstanden. Sie setzen in ihrem Text auf Wortwitz und Sprachspielereien, treiben das gegenseitige Miss- und Unverständnis der Figuren auf die Spitze; sie setzen in ihrer Inszenierung alle Mittel der Komödie ein, von Slapstick und Slow Burn bis Sitcom-Off-Gelächter und Klipp-Klapp, und machen so, was für die glänzend agierenden Schauspieler punkto Tempo und Timing eine Tour de Force ist, zur Tour d’Humeur fürs Publikum.

„Der Spieler“ residiert und hasardiert nun im Saigon der Roaring Seventies. In einem versifften Hotel mit ausgeschildert zweideutigen Angeboten, Zigarettenigel auf dem Couchtisch, Captain Kirk im Fernsehen und einem Richard-Nixon-Foto an der Wand langweilt sich eine Gruppe Glücksritter, die ihr Schicksal der erbsengroßen Elfenbeinkugel anvertraut hat. Außer dem Fake-Franzosen de Grieux und seiner angeblichen Schwester Mademoiselle Blanche, entstammen die übrigen Gäste der zweiten Grande Nation, die sich in Indochina blutig geschlagen geben musste – den USA. Der General wurde von der United States Army ausgemustert, „weil es da so einen Vorfall in Pearl Harbour gab“, sein vom Hauslehrer zum Sekretär avancierter Lohnsklave nennt sich Alex W. Rodeo, und alle zusammen warten sie auf das Ableben von Auntie Babushka in Pittsburgh. Leichte Mädchen, malträtierte Marines, eine Fleisch gewordene Discokugel und ein Menschen/Äffchen in Hotelpagenuniform stürmen als Lokalkolorit immer wieder quer durchs Geschehen.

Ansonsten ist die Handlung die gleiche geblieben. Dabei skizzieren Pschill und Dymnicki eine Spaßgesellschaft, wie sie heutiger nicht sein könnte. Das Amüsement um jeden Preis, selbst den der Insolvenz, steht im Lebensmittelpunkt, der Schein – vor allem der Geldschein – gilt mehr als das Sein. Nur, weil dies alles unecht, obwohl doch Authentizität die zur Stunde gebotene Maskerade ist, lauert mitten in der Kokain-highen Society auch die Verzagtheit und die Verzweiflung.

Tagsüber gähnt im Hotel Saigon die große Langeweile: Lisa Reichetseder als Blanche, Martin Zauner als US-General, Florian Carove als Froggie und Julia Edtmeier als Polina. Bild: © Lukas Wögerer

Doch des Nachts kommen die Spielernaturen aus ihren Schlupflöchern: Martin Zauner, Lisa Reichetseder, Florian Carove und Dominic Oley. Bild: © Lukas Wögerer

Das Ensemble ist mit überbordender Spielfreude bei der Sache. Allen voran Dominic Oley als „Spieler“ Alex. Mit hoher Geschwindigkeit turnt er über die Bühne wie durch den Text, ein Wirbelwind, gebeutelt von Roulettesucht und unerwiderten romantischen Gefühlen und Rachegelüsten ob dieses Seelenzustands. Martin Zauner, neben Pschill und Oley der dritte Josefstädter im Bunde, gibt den General als weinerlichen Choleriker, eine asymmetrische Mischung, wie sie wohl nur ihm gelingen kann. Pschill und Dymnicki entfachen für dies dynamische Duo ein Feuerwerk an szenischen Einfällen, die Schwüle der mit viel Liebe für Details ausgearbeiteten Situationen ist dem tropisch-feuchten Klima Vietnams angepasst.

Nach der Pause: Auftritt der vierten Josefstädterin, Alexandra Krismer als Auntie Babushka schrill, schräg, schrecklich, gekommen, um die Mischpoche aufzumischen und, schließlich selbst vom Spielfieber gepackt, deren erwartetes Erbe zu verlieren. Wie von weit her hört man das Klacken der Kugel im Kessel – Rien ne va plus … Oley, Zauner und Krismer gestalten ihre Figuren hart an der Karikatur und schwer satirisch. Die Intimität des Raumes verleiht ihrer Darstellung eine Unmittelbarkeit, der man sich nicht entziehen mag.

Ein zweites Epizentrum des Abends sind die Wortgefechte zwischen Oleys Alex und dessen Love Interest Polina. Julia Edtmeier gestaltet die Tochter des Generals mit spöttisch-sarkastischem Mundwerk, aber heißblütigem Schulterzucken. Lisa Reichetseder macht aus Blanche eine berechnende Möchtegern-Femme-Fatale. Herrlich, wie sie Gilbert Bécauds „L’important c’est la rose“ auf lasziv getrimmt vorträgt. Als Gegensatzpaar fungieren auch David Oberkoglers kühl zurückhaltender, doch berechnender Engländer Astley und Florian Carove als de Grieux, hier Froggie genannt. Wie Carove mit Ustinov’scher Hercule-Poirot-Attitüde seine Intrigen spinnt, ist ein Kabinettstück für sich.

Oh Schreck, die Tante verzockt ihr ganzes Vermögen! Alexandra Krismer als Auntie Babushka mit Lisa Reichetseder, Martin Zauner, Julia Edtmeier, Florian Carove und Dominic Oley. Bild: © Lukas Wögerer

Nach zwei Stunden ist Apokalypse Now. Hochstapler und Hasardeure sind entlarvt, das Geld, statt auf dem Konto eingegangen, auf der Spielbank ausgegeben. Die gar nicht glorreichen Sieben treten den Rückzug an …

Das Publikum im ausverkauften Bronski & Grünberg Theater tobte vor Vergnügen. Zu sehen ist „Der Spieler“ dort bis 9. April; noch bis 4. April zeigt Claudia Kottal ihre Erfolgsproduktion „Vor dem Fliegen“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=24085). Das Bronski & Grünberg entpuppt sich mehr und mehr als wunderbare Bereicherung der Wiener Theaterlandschaft. Prädikat: Sehenswert!

www.bronski-gruenberg.at

Wien, 13. 3. 2017

Salon 5 am Thalhof: Anna Maria Krassnigg im Gespräch

Juni 15, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Sie inszeniert Dostojewskijs „Der Idiot“ und Shakespeare-Texte als musikalische Kinobühnenschau

Anna Maria Krassnigg. Bild: Teresa Zötl

Anna Maria Krassnigg. Bild: Teresa Zötl

Der Salon 5 begibt sich demnächst in die Sommerfrische. Bereits zum zweiten Mal bespielt die kreative Truppe rund um dessen Gründerin und künstlerische Leiterin Anna Maria Krassnigg den Thalhof an der Rax. „Jenseits von Gut und Böse“ lautet das diesjährige Motto unter dem die Theatermacherin ein Schauspiel nach Dostojewskijs Roman „Der Idiot“, die musikalische Kinobühnenschau „Power to Hurt“ nach Shakespeare-Texten, Schnitzler und Jelinek und Herrn Grillparzer versammelt. Die Saison startet am 10. August, der Kartenvorverkauf hat bereits begonnen.

Anna Maria Krassnigg im Gespräch über ein Gebäude, das Geschichte atmet, ihr Programm inmitten einer beginnenden Zeitenwende, die Wiederentdeckung einer alten Kunst für ein junges Publikum und wie sie diesem zeigen will, was „die schrullige alte Tante Theater“ tatsächlich so kann:

MM: Für Theaterbegeisterte, die es noch nicht wissen: Was ist der Salon 5?

Anna Maria Krassnigg: Der Salon 5 ist ein Theaterlabel, das mit einem sehr zeitgenössischen Blick Ausgrabungen verfolgt. Das heißt, Texte, die sonst am Theater nicht vorkommen, sei es, weil sie zu einer Art verdrängter Literatur gehören, sei es, weil man sie nicht auf der Bühne vermuten möchte, obwohl es hochdramatische Texte sind, zur Aufführung bringt. Davor, danach, manchmal auch mittendrin, gibt es intensiven Austausch mit dem Publikum, den wir Salongespräche nennen. Wir möchten zeigen, dass Theater wie ein Musikclub funktionieren kann: dass man sich darüber austauschen und unterhalten kann, ohne, dass Experten von einem Podium herunter dozieren.

MM: Der Salon 5 geht an verschiedene Spielorte, nun geht er in die Sommerfrische an die Rax. Warum bespielen Sie heuer zum zweiten Mal den Thalhof?

Krassnigg: Wir sind verliebt in verwundete Räume, in Orte, die Geschichte haben, Geschichte erzählen aufgrund der Menschen, die an ihnen jahrhundertelang ein- und ausgegangen sind. Das betrifft die alte Turnhalle im Brick 5, den Nestroyhof, das Metrokino – und ganz stark den Thalhof. Er hat mich nach Reichenau gelockt. Ich bekam vor dreieinhalb Jahren das Angebot, dort etwas zu machen, hab‘ ihn mir angeschaut und bin ihm sofort verfallen. Das Gebäude hat etwas Magisches, eine märchenhafte, mystische Ausstrahlung. Man spürt auf eine merkwürdige Art, dass dort 400 Jahre lang gedacht und gedichtet wurde. Das belegt das berühmte Gästebuch. Die Wiener Bohémiens haben dort den Sommer über geschrieben: Freud einen Teil der „Traumdeutung“, Schnitzler, Grillparzer, Hebbel, Ebner-Eschenbach … Leo Perutz und Felix Salten. Man hat das Gefühl, die großen Geister leben immer noch in diesem Speisesaal. Und obwohl wir wahrlich genug Baustellen habe, sagte ich spontan, in dieser Atmosphäre möchte ich Geschichten erzählen.

MM: Am 10. August startet die zweite Saison nach der höchst erfolgreichen ersten. Wie funktioniert die Nachbarschaft mit den sehr arrivierten Festspielen Reichenau?

Krassnigg: Ich kenne die Festspiele als Zuschauerin und als Beteiligte, ich habe dort schon inszeniert, Daniel Kehlmanns „Ruhm“, das war eine sehr schöne Arbeit. Danach hat sich zwar keine Zusammenarbeit mehr ergeben, aber nun haben wir vergangenen Sommer auf die gute Nachbarschaft getrunken, denn es geht sich beides wunderbar aus. Die Festspiele toben im Juli, wir toben im August. Man kann in Reichenau also von Juli bis September durchgehend Theater, Diskussion, Geist, Lust, Unterhaltung erleben.

MM: Ihr Programm passen Sie sozusagen an den Spielort Thalhof an.

Krassnigg: Ja, da bin ich wieder bei den großen Geistern, deren Schätze wir zu heben versuchen. In diesem Sinne haben wir 2015 mit Robert Neumanns „Hochstaplernovelle“ eröffnet, auch er ja ein ehemaliger Thalhofgast und heute ein leider eher unbekannter, nicht ausreichend geschätzter Autor. Dieser Raum schreit nach bestimmten Stoffen, das ist ein austriakischer Speisesaal in all seinem Prunk, der mitten in den Bergen stehend eine stark italienische Ausstrahlung hat. Die Südbahnstrecke Wien-Triest scheint sich in diesem Saal zu treffen. Wir suchen also Stoffe, die dort ihre Wirkung entfalten können, mehr, als es ihnen auf einer Guckkastenbühne gelingen könnte, auch wenn diese Bühne technisch besser ausgestattet ist. Der Genius loci ist die Inspiration für unsere Inszenierungen.

MM: Es gibt zwei Mottos: Für den Salon 5 ist es „In plot we trust“, für die diesjährige Thalhof-Saison „Jenseits von Gut und Böse“. Was wollen Sie damit sagen?

Krassnigg: „In plot we trust“ ist aus einem sehr ernsthaften Scherz entstanden. Wir haben etwas gesucht, an das alle, vom Autor über den Schauspieler bis zum Bühnentechniker, glauben. Da sind wir auf den Plot gekommen, die Narration, weil wir alle der Meinung sind, dass Geschichte und Zeitgeschichte über Geschichten zu erzählen lustvoller, genauer erfassbar und näher am Publikum ist, als wenn man das Erzählen lässt. Wir sind also alle leidenschaftliche Erzähler, aber mit sehr unterschiedlichen ästhetischen Verfahren und einem jeweils anderen Rhythmus. Ich arbeite sehr gerne mit Spielplanklammern, die es allerdings bei mir vor dem Spielplan gibt, nicht erst, wenn die gezeigten Stücke schon feststehen. „Jenseits von Gut und Böse“ ist etwas, das uns im Moment umtreibt. Damit meine ich das Phänomen, dass die Grenzen, die Definitionen diesbezüglich nicht erst seit vergangenem Sommer verschwimmen. Diese moralphilosophischen Fragen nach Gut und Böse und einem jenseits davon, wollen wir anhand des Spielplans abhandeln.

MM: Beispielsweise mit Ihrer großen Produktion, einem Schauspiel nach Dostojewskijs „Der Idiot“. Sie haben die Spielfassung erarbeitet und führen Regie.

Krassnigg: Das ist der klassische Stoff zum Thema, weil er sich an den Fragen „Wer ist der gute Mensch?“ und „Was würde er in der Gesellschaft anrichten, wenn er in Reinkultur wirksam würde?“ abarbeitet. Im Roman ist Fürst Myschkin eine Art wiedergeborener St. Petersburger Jesus, der – flapsig gesagt – die Stadt aufmischt, in Liebesgeschichten und Rivalitäten gerät, und eine unglaubliche Bewegung auslöst, von der Walter Benjamin sagt, sie sei ein „ungeheurer Kratereinsturz“. Das Bemerkenswerte am Roman ist, dass er tatsächlich gut, böse, hell, dunkel auf eine sehr tiefe, existenzielle, radikale Weise abhandelt. „Der Idiot“ ist spannend wie ein Krimi und dabei wahnsinnig komisch. Dazu kommt, dass man diese Menschen kennt; die sind nicht aus der Vergangenheit, die könnten heute aus der Straßenbahn steigen. Das Ganze gipfelt im Sommer in Pawlowsk – da kann der Thalhof dann seine Datscha-Qualitäten ausspielen.

Raphael von Bargen performt "Power to Hurt". Bild: Nora Scheidl

Raphael von Bargen performt „Power to Hurt“. Bild: Nora Scheidl

Der Thalhof. Bild: Christian Mair

Der Thalhof: Im ehemaligen Speise-, heute Theatersaal lebt der Geist seiner berühmten Gäste weiter. Bild: Christian Mair

MM: Eine weitere Premiere ist „Power to Hurt“, eine Weiterentwicklung des Abends, der schon im Brick 5 zu sehen war. Nun wurde aus der Aufführung eine Kinobühnenschau. Diese Form darstellender Kunst haben Sie voriges Jahr mit „Pasada“ wiederentdeckt. Was kann man sich darunter vorstellen?

Krassnigg: „Power to Hurt“ ist ein Projekt, das vernäht ist zwischen dem Schauspieler/Sänger Raphael von Bargen, dem Musiker/Komponisten Christian Mair und mir als Film- und Theaterregisseurin. Es ist eine extreme Teamarbeit, bei der ich uns eher als Band sehen möchte. Wir wollten es noch einmal genauer, größer und für mehr Publikum machen. Es passt zum Motto, denn Raphael von Bargen singt und spielt die größten Bösewichte der Theaterliteratur, zum anderen ist es auch ein wenig unser Beitrag zum Shakespeare-Jahr. Es ist eine sehr spezielle Bergung von Monologen und Sonetten, die als Kinobühnenschau dargeboten wird, also als Verschmelzung von Bühnen- und Filmelementen mit Musik. Da kommt eine opulente, sinnliche dritte Form heraus. Die Welle aus Musik, Bild, einem Extremschauspieler und dieser unglaublichen Literatur, die auf einen zurollt, ist sehr eigen und sehr traumartig.

MM: Das heißt, es wird nicht mit Live-Kamera gearbeitet, sondern der Film ist ein eigenständiges, vorher gefertigtes Element der Aufführung? Kinobühnenschau ist die Korrespondenz zweier Medien?

Krassnigg: Das drückt es exakt aus. Diese Form des Theaterspielens ist an der Schwelle vom Stummfilm zum Tonfilm entstanden. Da gab es große Schauspieler, begnadete Erzähler, die live zu den Bildern Text gesprochen haben. Das Publikum hat das sehr geliebt. Man hat das dann weitergesponnen und das Live-Element Theater in Verhältnis zum Medium Film gesetzt. Damit wurden bestimmte Ebenen, die sich dafür eignen, Visionen, Träume, Zeitsprünge, Nachtsequenzen, erarbeitet, und dazu gab’s Schauspiel auf der Bühne. Es ist überhaupt nicht zu vergleichen mit Videozuspielungen oder Live-Kamera, weil zwei unabhängige künstlerische Erzählweisen nur durch die Geschichte zusammenkommen. Der große Spaß daran ist die Kunst der Übergänge, wie die Film- und die Bühnenwelt ineinander verschmelzen, damit der Zuschauer sie als zwei Hälften einer ganzen Geschichte sieht. Es gibt auch im „Idiot“ einen gewissen Anteil kinobühnenschauhafter Elemente. Das hat sich inhaltlich aufgedrängt und ist auch optisch sehr stark.

MM: Sie gehören dem Leitungsteam des Max-Reinhardt-Seminars an, Sie unterrichten Regie. Studenten können sich am Thalhof mit einer eigenen Produktion erproben, sind aber auch als Publikum herzlich willkommen. Es gibt U25-Tickets um 2,50 Euro?

Krassnigg: Genau, das ist ein Teil meiner Welt. Ich hätte ein schlechtes Gewissen, größere Kontexte wie ein Festival programmatisch zu bevölkern, ohne meine Studierenden einzubeziehen. Das ist mir ein Herzensanliegen. Dieses Jahr gibt es eine Sonderkooperation mit der Internationalen Sommerakademie der Universität für Musik und darstellende Kunst. Jens Bluhm beleuchtet das Thema „Jenseits von Gut und Böse“ aus der Geschlechterperspektive, er wird einen unbekannten Schnitzler, „Die Braut“, eine Vorstudie zur „Traumnovelle“, Jelineks „Krankheit oder moderne Frauen“ entgegensetzen. Die Collage wird gespielt von Studenten des Max-Reinhardt-Seminars. Dazu musizieren Studierende des Joseph Haydn Instituts. Das freut mich besonders, weil Kollege Johannes Meissl, der dortige Institutsvorstand und wunderbare Geiger, sie das Thalhof Quartett genannt wird. Was nun das Publikum betrifft, so wollen wir eine Einladung aussprechen an all die Menschen, die Sommerfestivals sonst nicht besuchen – beispielsweise aus Kostengründen. Wir haben eben das U25-Ticket, aber auch weitere Ermäßigungen, Vorteilscards und Abos.

MM: Sie gehen täglich in ein Haus voller enthusiastischer junger Theaterschaffender. In den Zuschauerräumen ist diese Generation dünn gesät. Woran liegt das? Was läuft da falsch? Das Angebot?

Krassnigg: Die Frage ist sehr gut. Ästhetiken altern halt wie Menschen auch. Meiner Ansicht nach sind drei Dinge wichtig: Es muss eine Preispolitik geben, die für junge Leute erschwinglich ist. Die gibt es vielerorts, daran liegt es nicht hauptsächlich, dennoch ist das wahnsinnig wichtig. Zum zweiten: Es wird überall über Kulturvermittlung gesprochen, aber was diese schrullige alte Tante Theater tatsächlich kann, wird nicht vermittelt. Das muss man jeder neuen Generation neu sagen, das geht nicht von selbst. Dazu darf es ruhig originellere Anstrengungen geben. Und das dritte, das ich an meinen Kindern oder deren Freunden oder auch Studierenden beobachte, ist, dass es letztendlich zu wenige Geschichten gibt. Im Gegensatz zum Kino, wo derzeit eine Menge großartiger Drehbuchautoren intelligentes Storytelling entwerfen. Jugendliche wären also sowohl über ihre Ästhetiken abholbar, als auch mit gut gemachter Narration. Oder anders gesagt: Theater als reine Kunstanstrengung ist für Unter-25 überhaupt nicht interessant.

MM: Eine klare Absage ans L’art pour l’art!

Krassnigg: Ich halte dieses „Wir wissen, wie’s geht, und daher ist es uns schon fad“ für falsch. Wir wissen nie, wie es geht. Große Werke verändern sich mit der Zeit, man liest nach zehn Jahren ein Stück ganz anders, hört ganz andere Stimmen. Die Partitur ist plötzlich wie neu. Damit muss man als Theaterarbeitender umgehen. Man bewegt sich auf dem Grat zwischen Zeitgenossentum, zwischen Frische und dem Das-Heute-Erzählen, und der Werktreue. Es kann beim Inszenieren nicht darum gehen, ein Profipublikum von Theater heute abwärts mit der außergewöhnlichsten Neuverwurschtung eines Klassikers hinter dem Ofen hervorzulocken, weil, gähn, das haben wir ja alles schon x-mal gesehen. Das als einziger Angang an die dreidimensionale Narration eines großen Textes ist sehr, sehr dünn. Damit kann man Berufsbeschäftigte erfreuen und für sich ein gewisses Ranking erzeugen, aber nicht Zuschauer. Die haben ganz andere Sehnsüchte.

MM: Sie bilden einen Gutteil der kommenden Regiegeneration aus. Wenn Sie selbst inszenieren, wie sehr stehen Sie bei Ihren Studierenden auf dem Prüfstand punkto Vermittlung und deren Umsetzung?

Krassnigg: Total! Als ich noch im Ausland inszeniert habe, war mir wohler in meiner Haut, das war gemütlicher. Ich habe es mit den härtesten aller Kritiker zu tun, denn Studierende, das kennen wir von uns selber, reklamieren für sich das Weltwissen. Das ist nicht immer leicht zu ertragen, aber es hat in der Gegenseitigkeit eine große Fairness. Meine Professur ist ein Beruf, den viele gerne hätten. Es ist eine Gnade, etwas, das man liebt, weitergeben zu können, und damit auch noch Geld zu verdienen. Ich hatte Glück dahin zu kommen, da darf man dann auch nicht wehleidig sein und Kritik nicht aushalten. Von meinen Studierenden „begutachtet“ zu werden ist unbequem und anstrengend, aber das hindert mich am Einschlafen.

Das Leitungsteam des Salon5 am Thalhof: Christian Mair und Anna Maria Krassnigg. Bild:Martin Schwanda

Das Leitungsteam des Salon 5 bereitet die aktuelle Thalhof-Saison vor: Christian Mair und Anna Maria Krassnigg. Bild: Martin Schwanda

MM: Sprechen wir über die Menschen, die dieses Jahr den Thalhof bevölkern werden …

Krassigg: Die italienische Schriftstellerin Natalia Ginzburg hat einmal auf die Frage, warum sie beim damals sehr kleinen Einaudi Verlag bleibt, geantwortet, er sei eine Familie, mit der man arbeitet. Sie meinte damit nicht, dass man gemeinsam Eierspeis‘ kocht, sondern, dass sehr unterschiedliche Menschen eine enthusiastische thematische Verbundenheit für ein Produkt haben. So ist das bei uns auch. Der Salon 5 besteht aus zum Teil sehr gegensätzlichen Menschen. Ganz wichtig ist da Christian Mair, einer der besten Komponisten, die ich kenne, der, weil Musiker auch oft Zahlengenies sind, „so nebenbei“ auch noch unser kaufmännischer Leiter ist. Er ist der ruhende Pol in unserem Wanderzirkus. Lydia Hofmann ist ein Faun, eine der größten Bildbegabungen dieser Tage, eine noch junge Bühnenbildnerin aus der Wonder-Klasse, außerdem Malerin, Skulpteurin, die es immer noch mit uns aushält, obwohl unser Budget viel zu klein ist für das, was sie eigentlich könnte. Sie prägt die Ästhetik des Salon von unseren berühmt-berüchtigten Foyers mit den Lampenschirmen bis zur Bühne. Und Antoaneta Stereva ist eine Designerin, die ihren sensiblen und exzentrischen Stil jahrelang in Theater und Film sowie der internationalen Mode geschliffen hat.

MM: Dann gibt es alte Wegbegleiter …

Krassnigg: … wie eben Raphael von Bargen oder Daniel F. Kamen, der mein Myschkin sein wird. Er ist in Österreich viel zu wenig bekannt, ein einmaliger Darsteller, zutiefst dramatisch und dabei extrem komödiantisch. Dazu laden wir gern Gäste ein, wie Maxi Blaha, die mit ihren eigenwilligen Projekten nicht in den Mainstream gehört. Heuer zeigt sie ein Doppelporträt Bachmann/Jelinek, „Es gibt mich nur im Spiegelbild“, darauf freue ich mich schon sehr. Eine Neuentdeckung ist Michaela Saba. Von ihr wird man ganz viel hören. Sie ist eines der eigenartigsten, schönsten und begabtesten Wesen, die das Reinhardt-Seminar in den vergangenen Jahren ausgespuckt hat.

MM: Werden all Ihre Bemühungen auch von den Subventionsgebern gewürdigt?

Krassnigg: Wie kann ich das formulieren, ohne zu klagen? Denn es gibt in dem Sinn nichts zu klagen, weil wir erstaunlicherweise, obwohl Geld überall knapper wird, doch arbeiten können. Wir entwickeln Konzepte weiter, wir erforschen neue Formen. Wir wollen nicht nur – hoffentlich – ein Publikum beschenken, sondern uns ganz ernsthaft fragen: Was geht mit dieser Kunst? Uns interessiert dieses Laborhafte. Die Anerkennung dafür differenziert. Der Bund fördert unsere Arbeit konsequent nicht – so geht es vielen geschätzten Kolleginnen und Kollegen. Wir werden subventioniert von der Stadt Wien und vom Land Niederösterreich, da ist es sehr schön, dass es kein Topferldenken, keine Bundeslandgrenzen mehr gibt. So können Produktion, wie „Pasada“ vom Thalhof ins Metro Kinokulturhaus wandern. Das Publikum ging da sehr mit, es wollte sehen, was der neue Raum mit der Produktion macht – und das ist ja auch etwas, das uns interessiert.

MM: Apropos, wandern: Eine kleine Herbstvorschau?

Krassnigg: Anna Poloni wird ihre über „Camera Clara“, „Carambolage“ und „Pasada“ geführte Tetralogie mit „Albergo Dante“ beenden. Das wird eine Art von höllischem Hotel, in dem eine Untersuchung von privat und politisch stattfinden wird, die großen Kämpfe im Kleinen – und die falschen Leute werden sie austragen. Und es wird der Spielfilm von „La Pasada“ herauskommen. Wir sind gerade im Endtonschnitt, jetzt gilt es Dinge wie, welcher Verleih, welches Festival zu entscheiden.

salon5.at

Wien, 15. 6. 2016