Jonathan Lethem: Der Garten der Dissidenten

Oktober 6, 2014 in Buch

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein Generationenroman über US-Überzeugungsprotestler

9783608501162Die Kommunistische Partei der USA (KPUSA, englisch: Communist Party USA) ist die bedeutendste marxistisch-leninistische Partei des Landes. Während die KPUSA eine bedeutende Rolle bei der Organisation von Industriegewerkschaften und bei der Verteidigung der Rechte von Afroamerikanern  in den 1930ern und 1940ern spielte, geriet sie infolge der durch den Kalten Krieg verursachten antikommunistischen Hysterie während der McCarthy-Ära  Anfang der 1950er Jahre in die politische Bedeutungslosigkeit.

Dass der begnadete Erzähler Jonathan Lethem nun am Wannsee lebt, hat was. Schließlich ist die Schlüsselszene seines Romans die „Ofenszene“, in der Rose, die rote Queen von Queens, den Kopf ihrer Tochter Miriam ins Gasbackrohr steckt. Eine Erinnerung ans Niemals Vergessen. Und eine Machtdemonstration. Gut, das Klischee der jüdischen Mammes neigt zu Emotionsausbrüchen, und Rose werden ihre nur Einsamkeit bringen … Eine Jüdin, die versucht, ihre Tochter zu vergasen – das ist Lethems gallbittere Art, zu zeigen, dass auch die aufbrausende Rose ein Opfer ist und auf gespenstische Weise noch immer im Bann des Holocaust steht, eine, die mit zum Himmel schreiender Hilflosigkeit ihre Ohnmacht zelebriert, indem sie den Mord an ihrem Volk auf seltsame Weise in ihrer Küche nachinszeniert.

Lethem hat mit „Der Garten der Dissidenten“ einen Generationenroman à la Buddenbrooks geschrieben. Nur in anderen Worten und entgegengesetzter politischer Ausrichtung. Rose Angrush, osteuropäisch-jüdisches Amerika-Auswandererkind lange vor dem Holocaust, glaubt felsenfest an den Kommunismus. Sie heiratet den deutschen Industriellensohn Albert Zimmer, der mit seiner Mutter den Nazis knapp entkommen ist. Man wohnt in der Queens-Kommunistenkommune Sunnyside Gardens. Die Standesunterschiede stehen zwischen den beiden; Rose bekommt ein Kind, Miriam; Albert verlässt sie beide, um seiner Bestimmung nachzugehen: Spion im Dienste der DDR zu werden. Roses Bett bleibt nicht lange leer. Sex spielt im Buch eine wichtige Rolle. Sie angelt sich einen afroamerikanischen Cop, schon allein wegen des öffentlichen Skandals, dessen Frau im Sterben liegt. Er wird ihr bald folgen – und sein Sohn, Cicero Lookins, wird zu Roses Vorzeigeprojekt. Sie drillt den Buben zum schwarzen Collegesuperhirn; er wird mit seinem linken Intellekt, dicker Wampe, Dreadlocks und offen demonstrierten Schwulsein zum außergewöhnlichsten Philosophieprofessor an US-Unis.

Als Stalins Menschheitsverbrechen offenbar werden, zerbröckelt die kommunistische Gemeinschaft. Sie wird auch bereits bespitzelt. Was bleibt ist Verbitterung ob des Verrats. Beharren auf der eigenen Kämpferidentität. Roses Wut bekommt die Wucht einer Rachegöttin. Lenin, genannt Lenny, Roses Cousin, wird ein Opfer des Kapialismus, heißt: erschossen wegen Spielschulden. Miriam flieht vor ihrer Mutter in die Arme des Protestfolksängers Tommy Gogan, Sohn irischer Bauern – und, danke, Mr. Lethem endlich schreibt einer, dass Bob Dylan NICHT the poet laureate of rock ’n‘ roll, the voice of the promise of the 60’s counterculture, ist -, heiratet ihn, bringt Sohn Sergius zur Welt – und geht zur Unterstützung der Sandinisten nach Nicaragua, wo Tommy und sie erschossen werden. Sergius wird in ein Quäker-Internat verbracht und weit weg von der roten Rose und ihren Mord-und-Brand-Reden vom „inneren Licht“ gehirngewaschen. Doch als Erwachsener besucht er Cicero, um etwas über seine Familie zu erfahren. Der hält sich bedeckt, zu viel Schreckliches gäbe es für den unbedarften Sergius zu entdecken. Der mitvierziger Bub lernt derweil auf dem Campus eine Studentin kennen, verliebt sich, und folgt ihr in die Occupy-Bewegung und in Polizeigewahrsam: Wer das Protestlersein im Blut hat, für den gibt es kein Entrinnen …

Lethem schreibt das alles nicht linear; er springt zwischen den Jahrzehnten und den in ihnen handelnden Personen, als hätte er sich H. G. Wells‚ Zeitmaschine ausgeborgt. Erst am Ende des Buches hat der Leser alle Steine auf dem Tisch, so dass sich ihm das Mosaik offenbart. Lethems Sprache ist wie immer überreich, mäandert durch den Erzählfluss, mal langsam dahin, mal wild über Stromschnellen. Alles hier ist larger than life. Jeder Charakter ein Symbol für ein Lebensgefühl seiner Epoche. Durch 80 Jahre und drei Generationen amerikanischen Widerstands führt die trunken machende Geschichte über einen Teil der amerikanischen Geschichte, der in Europa nicht Allgemeinwissen ist. Ein Familiendrama mit den Ausmaßen einer antiken Tragödie. Lethem, selbst in einer Hippie-Kommune aufgewachsen, beschreibt ein furioses Hin und Her aus heftiger Abgrenzung und selbst erzwungener Fortschreibung des Familienauftrags: Du MUSST dagegen sein! Er verfolgt das amerikanische Protestbewusstsein von den Marxisten über die New-Age-Bewegung bis heute, und legt dabei eine Tradition der Deformationen bloß, eine Spur seelischer Verwüstung. Jeder verletzt jeden, weil er Gefangener seiner Überzeugungen ist. Das Politische vergewaltigt das Private – die Figuren heulen darüber vor Schmerzen und wollen doch mehr und können doch nicht ohne.

Lethem verzichtet diesmal auf Ausflüge ins Fantastische, mixt keine Science-Fiction- oder Comicelemente in seinen Text. Zu nah ist die Story an seinem Leben, zu autobiografisch grundiert. Was ganz klar ist, angesichts der großartigen detailreichen Schilderung der „Verwandtschaft“. Die zu früh verstorbene Mutter, die agitatorische Großmutter, „Albert Zimmer“, den dunklen Fleck im Roman, sie alle hat es so oder so wirklich gegeben. Diese Authentizität, dieser (scheinbare?) Einblick, den der Autor gewährt, macht den „Garten der Dissidenten“ einzigartig. Man möchte sich ins nächste Flugzeug nach New York setzen, in die Grünanlage der mittlerweile zum historischen Bezirk erklärten Sunnyside Gardens und warten, welcher Angrush-Zimmer-Lookins auf einen Plausch, nein, eine hochintellektuellpolitische Diskussion, um die Ecke biegt …

Jonathan Lethem: Der Garten der Dissidenten, 476 Seiten. Übersetzt von Ulrich Blumenbach. Tropen Verlag.

Zum Autor: Jonathan Lethem, geboren 1964 in New York, veröffentlichte bisher acht Romane, darunter die New-York-Romane „Motherless Brooklyn“, „Die Festung der Einsamkeit“ und „Chronic City“. Er erhielt zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Am Pomona College in Südkalifornien hat er eine Professur für Creative Writing inne. Zurzeit lebt Lethem in Berlin.

www.tropen.de

www.klett-cotta.de

Interview mit Jonathan Lethem: www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=41793

Wien, 6. 10. 2014