Corsage: Vicky Krieps als verbitterte Kaiserin Elisabeth. Ein Film von Marie Kreutzer

Juli 9, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Gefangen im Korsett aus Rollenbildern und Ritualen

Die Kaiserin raucht Kette: Vicky Krieps zeichnet das Bild einer um ihre Backfisch-Prinzessinnen-Träume gebrachte Elisabeth von 40 Jahren. Bild: © Alamode Film

In ihrer Badewanne, den Kopf unter Wasser, hält sie die Luft an, bis den beiden Kammerzofen angst und bang wird. Abtauchen, das kann sie gut, das hat Wien sie gelehrt. Ebenso wie auf Knopfdruck in Ohnmacht zu fallen: Nach hinten wegkippen, bisschen seufzen, die Augen verdrehen, so macht sie’s später beim Flirt mit ihrem Cousin Ludwig II. vor. Heute noch wird sie diese Strategie des zivilen Ungehorsams anwenden. Es ist das Jahr 1877, Heiliger Abend in der Hofburg,

und ergo für die Hofgesellschaft ein höchst willkommener Anlass, Elisabeth bei einem Festbankett anlässlich ihres 40. Geburtstags hochleben zu lassen. Allein, die Kaiserin von Österreich-Ungarn ist so gar nicht in Feierlaune. Mit 40 ist sie im späten 19. Jahrhundert eine alte Frau, und jedes der unzähligen Porträtgemälde im Palast erinnert sie an die Zahl der Jahre, die hinter ihr liegen.

Ihre natürliche Schönheit, die elfenhafte Figur und die ikonischen Flechtfrisuren, für die sie von Volk und Vaterland so verehrt wird, sind mittlerweile zum täglichen Überlebenskampf geworden. Die Angst vorm Älterwerden, vorm Bedeutungsverlust, vorm Schwinden ihrer Jugendlichkeit bekriegt Elisabeth mit Kälbersaft-Diätwahn und Sportsucht. Jedes ihrer beim dreistündigen Kämmen ausgegangenen Haare (bodenlang und geschätzt mehr als zwei Kilogramm schwer, „Ich bin die Sklavin meiner Haare“, ist ein bekanntes Elisabeth-Zitat) wird gesammelt und in einer Hutschachtel aufbewahrt.

Die Kettenraucherin und Hungerkünstlerin hat für ihre Ankleiderinnen nur einen morgendlichen Befehl: „Fester, fester!“ – und meint damit die Schnürung ihres Mieders. Das Schönheitsideal ist zugleich ein Panzer. Taillenumfang 45 Zentimeter, jedes Gramm mehr als 49,7 Kilo auf der Waage eine tiefe Kränkung, eine Mahnung an ihre Disziplinlosigkeit punkto Selbstkasteiung. Franz Joseph hat es seiner Frau beim Dinner für zwei deutlich mitgeteilt: „Halte dich raus aus der Politik, meine Aufgabe ist es, die Geschicke des Reichs zu lenken, deine Aufgabe ist es, mich zu repräsentieren. Dafür habe ich dich ausgebildet, dafür bist du da.“ Die Gesichtsschleier aus schwarzer Spitze, munkelte man weiland, trage die Anorektikerin, um ihre Hungerödeme zu verbergen.

Regisseurin und Drehbuchautorin Marie Kreutzer, bekannt unter anderem für „Was hat uns bloß so ruiniert“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=23103), verwendet sie für eine eigene Lösung. „Corsage“ heißt ihr Film über Ihre Kaiserliche Hoheit Grenzgängerin, und kein Biopic ist, was da am 7. Juli in den Kinos anläuft, sondern ein Spiel mit Stilbrüchen, vom sphärischen Soundtrack der französischen Sängerin Camille, „She Was“ gleichsam das Leitmotiv: https://www.youtube.com/watch?v=Z-YaTKXBNVY, bis zu schwarzweißen Filmaufnahmen, gedreht von Gyula Graf Andrássy, auf denen Elisabeth übermütig über eine Wiese tollt, beinah zwei Jahrzehnte vor den Brüdern Lumière.

Elisabeth-Darstellerin Vicky Krieps gewann für die Hauptrolle im Mai in Cannes/Sektion Un Certain Regard den Preis für die Beste Performance, der ganze Cast liest sich wie das Who‘s Who deutschsprachiger Film- und Theatergrößen: Florian Teichtmeister als Kaiser Franz Joseph, Katharina Lorenz als Hofdame und engste Vertraute Marie Festetics, Jeanne Werner als Hofdame Ida Ferenczy, Alma Hasun als Friseurin Fanny Feifalik – diese drei Elisabeths innerer Kreis,

Manuel Rubey als Bayernkönig Ludwig II., Aaron Friesz als Sympathieträger Kronprinz Rudolf, Alexander Pschill als Hofmaler Georg Raab, Raphael von Bargen als Erster Obersthofmeister Hohenlohe-Schillingsfürst, Regina Fritsch als Gräfin Fürstenberg, Oliver Rosskopf als Kammerdiener Eugen, Marlene Hauser als Kammerzofe Fini, Stefan Puntigam als Majordomus Otto, David Oberkogler als Rudolfs Erzieher Latour von Thurmburg, Norman Hacker als Chefarzt Leidesdorf, Eva Spreizhofer als Marie Hohenlohe, Raphael Nicholas als Earl of Spencer sowie Kajetan Dick als Wiener Bürgermeister Cajetan Felder.

Gewichtskontrolle mit Jeanne Werner als Hofdame Ida Ferenczy. Bild: © Alamode Film

Tägliche Routine – mehrere Stunden Sport: Vicky Krieps als Elisabeth. Bild: ©Alamode Film

Mit den Haaren fallen geschätzt zwei Kilos: Vicky Krieps als Elisabeth. Bild: © Alamode Film

Engste Vertraute: Katharina Lorenz als Hofdame Marie Festetics (li.) mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Doch zurück zur Stillen Nacht, die Strophe „Schön soll sie bleiben“ wird grad gesungen, da wendet Sisi ihren Synkope-Schmäh an, wegkippen, seufzen, Augenverdrehen, so viel Macht bleibt der Machtlosen, sich einem ihr unlieben Umfeld zu entziehen. Es sind vielleicht folgende zwei Szenen, die Marie Kreutzers Film skizzieren. Die eine: Teichtmeisters Franz Joseph, der an der Türe klingeln muss, um in Elisabeths Gemächer vorgelassen zu werden, wo er erst einmal den berühmten Backenbart abnimmt, als säße er, nun da das Happy-Birthday-„Theater“ vorbei ist, in der Garderobe, in der Maske –

die beiden einander Aug‘ in Augenring gegenüber, ausgelaugt, abgehetzt, und ja, da ist noch was, „mon cœur“ nennt er sie, aber sie können’s nicht mehr (be-)greifen. Teichtmeister ist grandios als in Uniform erstarrter, doch innen drin spürbar sensibler Habsburger, „der erste Diener des Staates“, der Soldat, der über seine Völker wacht – und wer jemals des Kaisers karge Gemächer in Bad Ischl besichtigt hat, weiß, was das bedeutet. Heute würde man sagen: Ein Workaholik.

Die andere Szene: Beim Besuch in einer Heilanstalt für nervenkranke Frauen, etwas, das die empathische Elisabeth wie jenen in Feldlazaretten als ihre vornehmste Pflicht ansah, wird sie von Chefarzt Leidesdorf herumgeführt: tobende Kranke in Gitterbetten, fixierte Frauen, frierende in Eiswasserbädern, heulende, halbverbrühte in der gegenteiligen „Therapie“ … und in der Kaiserin Gesicht die Erkenntnis, wärst du nicht von Rang, du lägest auch hier. Doch auch ein goldener Käfig ist vergittert … Der Kontrast zu den mitgebrachten, üppig verzierten und nun hastig verteilten Törtchen könnte größer kaum sein.

In diesem Spannungsfeld von bewusster Provokation, für die Vicky Krieps der Etikette und den hofzeremoniellen Tableaux Vivants gern auch mal den Mittelfinger oder dem Leibarzt die Zunge zeigt, wenn er die durchschnittliche Lebenserwartung von „Frauen des Volkes“ bei ihr als erfüllt ansieht, zwischen draufgängerischer Exzentrik und depressiver Einsamkeit hält Kreutzer den von ihr angelegten Sisi-Charakter in der Schwebe. Die Possenhofener Posse ist passé. Nun ist sie ausrangiert, hat ausgedient als Vorzeige-Majestät. Franz Joseph flaniert derweil ungeniert mit seiner kindfraulichen Geliebten Anna Nahowski durch den Schönbrunner Schlosspark, alldieweil Elisabeth von allen Seiten für ihr Tun, ihr (Da-)Sein getadelt wird.

Von Rudolf, ihrer Schwester Marie, Königin beider Sizilien, ja sogar von ihrem letzten und jüngsten Kind Valerie: „Maman, ich geniere mich für dich.“ Sie sei für Vater ein Grund zur Sorge bescheidet sie die Tochter … „Hauptsache, wir hinterlassen ein hübsches Bild“, sagt Sisi zu einem Porträt ihrer dreijährig verstorbenen Tochter Sophie. Die Manipulation der Menschen, der Massen durch Bilder, ist hier eines der Hauptthemen …

Einbestellt zum Festbankett: Aaron Friesz als Kronprinz Rudolf, Vicky Krieps und Katharina Lorenz. Bild: © Alamode Film

Bereitmachen für den kaiserlichen Auftritt: Florian Teichtmeister als Franz Joseph mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Vater-Sohn-Konflikt nicht zuletzt wegen Non-Kommunikation: Aaron Friesz und Florian Teichtmeister. Bild: © Alamode Film

Seelenverwandt: Manuel Rubey als Bayernkönig Ludwig II mit Vicky Krieps. Bild: © Alamode Film

Vor den Augen aller verschwindet die brüchig gewordene Elisabeth, diese Idealvorstellung einer Niemandin. Längst schon bereitet sie Marie Festetics als Double vor, eine Aufgabe, die in der Realität wegen größerer körperlicher Ähnlichkeit Fanny Feifalik übernahm, hier nun Lorenz‘ Festetics, die sich nach dem ersten Auftritt mit Gesichtsschleier ob der ihr viel zu engen Korsettschnürung in die Waschschüssel übergibt. „Sie werden sagen, dass ich zugenommen habe, und es wird ihnen gefallen haben“, kommentiert Elisabeth. Katharina Lorenz, das heißt: Marie Festetics spielt ihre Rolle mit dem abgehärmten Stoizismus einer Märtyrerin.

Es ist ein sprödes und schmerzliches Bild, das Kreutzer von der Kaiserin und ihrer Entourage zeichnet. Zwischen all deren violett-schwarzen Roben (Kostüme: Monika Buttinger) beleben die betörende Camille und Judith Kaufmanns düster-symbolhafte Kamerabilder sowie ein skurril-subtiler Humor (siehe Backenbart-Abnahme), der sich wie ein seidener Faden durch das Drehbuch zieht, den Film. Aber es ist die vom leibärztlich verschriebenen „Heilmittel“ Heroin berauschte Elisabeth, die einerseits ungeniert ausscherende und zugleich extrem kontrollierte Darbietung der Krieps, die alles zusammenhält.

Ihr Auftritt ist so kühn wie Kreutzers Film, der sich historischen Zwängen wie ins kollektive Gedächtnis eingeschriebenen Klischees in jeder Einstellung klug und mit Nachdruck zu entziehen weiß. Geschichtliche Unstimmigkeiten verteidigt Kreutzer mit Vehemenz. Für eingefleischte Elisabeth-AuskennerInnen hat die wie stets akribisch recherchierende Kreutzer aber weder auf die Anker-Schulter-Tätowierung noch auf die kandierten Veilchen vom Demel vergessen. Dabei istCorsage“ ein vieldeutiger Titel, der Körper, Geist und Seele miteinschließt. Eingeschnürt-Sein in der Epoche, der Gesellschaftsschicht, dem Geschlecht – der Corsage und wegen all dem dieser stete Mangel an Luft zum Atmen. „Fester, fester!“

In ihrer Sommerresidenz 1878 wird sich Sisi des symbolischen Drucks ihrer Frisuren entledigen, indem sie zur Schere greift – was bei Alma Hasuns Fanny Feifalik einen Nervenzusammenbruch auslöst. „Mein Lebenswerk ist zerstört“, heult sie, was Jeanne Werner als Ida Ferenczy lapidar mit „Blöde Gans!“ kommentiert. Sisi wird lose „Reformkleider“ à la Emilie Flöge und ihr nunmehr kinnkurzes Haar vom Wind zerzaust tragen. „As Tears Go By“ erklingt dazu ein Cover des Rolling-Stones-Songs: „It is the evening of the day …“ Marie Festetics hat längst den Anker in die Haut geritzt bekommen und Elisabeths Unterschrift geübt. Für Franzls Geliebte hat Sisi nur einen Rat: „Der Kaiser hat keine Zeit und ist ungeduldig. Empfangen Sie ihn bereits im Bett und ohne Mieder.“

Einen Luigi Lucheni braucht Marie Kreutzer nicht, an Elisabeths Ende steht Selbstermächtigung. Kreutzers Arbeit ist eine avantgardistisch-feministische Perspektive auf ein Frauenleben, ein scharfer Blick auf toxisch-männliche Strukturen, eine konsequent ins Zeitgemäße weitergedachte Erzählung der gereiften Elisabeth. Sich mit dieser modernen Sisi, etwas, das die tatsächliche Elisabeth zweifellos war, zu identifizieren, fällt leichter, als eine Verbindung zur Technicolor-Sissi zu finden, die in der filmischen Nachkriegs-Heile-Welt als nostalgischer Verdrängungsmechanismus perfekt funktionierte.

Den letzten Absatz für Marie Kreutzer: „Wäre es das alles Elisabeths exklusives Problem gewesen, hätte es mich nicht interessiert. Aber an Frauen werden auch heute noch viele der Erwartungen gestellt, mit denen sie zu kämpfen hatte. Es gilt nach wie vor als die wichtigste und wertvollste Eigenschaft einer Frau, schön zu sein. Daran hat die Geschichte, ja auch die Frauenbewegung und Emanzipation, nichts ändern können. Immer noch gelten Frauen als weniger wertvoll, wenn sie übergewichtig sind oder älter werden. Im Jahr 2022 müssen Frauen zwar noch viel mehr können und erfüllen, aber dabei bitte schön schlank und jung bleiben. Ab einem gewissen Alter kann frau es auch nicht mehr richtig machen – denn lässt sie ,etwas machen‘ wirft man ihr Eitelkeit vor, tut sie es nicht, werden ihre Falten kommentiert.“

mk2films.com/en/film/corsage           www.alamodefilm.de/kino/detail/corsage.html

7. 7. 2022

Off Theater/bernhard.ensemble: Der.Semmelweis.Reflex

März 10, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Mann, der das Händewaschen erfand

Kajetan Dick, Sophie Resch und Yvonne Brandstetter. Bild: © Barbara Pálffy

„Das Morden muss aufhören, und damit das Morden aufhöre, werde ich Wache halten, und ein jeder, der es wagen wird, gefährliche Irrtümer über das Kindbettfieber zu verbreiten, wird an mir einen rührigen Gegner finden.“ – Ignaz Semmelweis an Univ. Prof. Joseph Späth, offener Brief 1861

Hände waschen, Hände waschen, Hände waschen … dazu gibt es sogar Kinderlieder und Video-Tutorials.

Gilt doch Hygiene neben dem Impfschutz und der FFP2-Maske als wichtigste Maßnahme gegen Covid-19. Regisseur Ernst Kurt Weigel und das.bernhard.ensemble nähern sich diesem tagesaktuellen Thema via einer mehr als 170 Jahre alten Tatsache. Nämlich, dass der Gynäkologe Ignaz Semmelweis 1847 das Sterben von Frauen nach der Entbindung an Kindbettfieber auf die mangelnde Reinlichkeit der eben noch Leichen aufschneidenden Ärzte, Stichwort: Leichengift, zurückführte – und dagegen das Desinfizieren der Hände mit Chlorkalk empfahl.

Weshalb der „Nestbeschmutzer“ von der empörten Kollegenschaft angefeindet und das Wissen des ersten Aseptikers der Medizingeschichte, dieses Musterbeispiel evidenzbasierter Medizin, die seit Pandemiebeginn erneut und vermehrt diskutiert wird, ignoriert wurde. Was nun am Welttag der Frauen in der White.Box des Off Theater seine Uraufführung hatte, ist das Tanz.Schau.Spiel „Der.Semmelweis.Reflex“, eines von Weigels tragikomischen Reenactments, und apropos: Corona und Impfen sowie dessen Leugner und Gegner, Semmelweis-Reflex ist tatsächlich der Terminus technicus für die unmittelbare Ablehnung einer Information oder wissenschaftlichen Entdeckung ohne weitere Überlegung oder Überprüfung des Sachverhalts. Eine irrationale Realitätsverweigerung mit meistens fatalen Folgen.

Weigels Inszenierung ist weit mehr als ein historischer Abriss. Vielmehr transferiert er die Semmelweis-Story ohne viel Aufhebens in die durchseuchte Jetztzeit. Schon der Einstieg in den Abend ist vom Feinsten. Nachdem man im Foyer mit Schuhüberziehern ausgestattet ist, geleitet einen der unvergleichliche Kajetan Dick in die Prosektur des alten AKH, heißt: den Spielraum, in dem unter Leintüchern und mit Zettel am großen Zeh die Leichen liegen – eine grausliche Führung, bei der das Publikum nicht zum letzten Mal einbezogen werden wird, soll ein Zuschauer doch mit dem Messer hineinschneiden in einen der Körper „zäh wie ein Sonntagsschnitzel“.

Sophie Resch, Gerald Walsberger, Yvonne Brandstetter und Leonie Wahl. Bild: © Günter Macho

Sophie Resch als schmatzende Muschi-Muse Vagina. Bild: © Barbara Pálffy

Geburtshelfer Ignaz Semmelweis: Gerald Walsberger und Sophie Resch. Bild: © Barbara Pálffy

Alldieweil stehen in einem Totentanz die Verstorbenen auf, Gerald Walsberger als „Retter der Mütter“ Semmelweis und Yvonne Brandstetter, Sophie Resch sowie Choreografin Leonie Wahl als demnächst Gebärende und Wöchnerinnen. Weigel setzt seine Erzählung in den Kontext männlich geprägter Medizin, siehe Medikamenten- studien bis heute, gesellschaftlicher Minderstellung der Frau, wissenschaftlicher Konkurrenz. Zu Zirkusmusik (Live-Mix: Indietronic-Musiker und Komponist b.fleischmann) und in übergroßen, verkehrt angezogenen Sakkos wandeln sich die Mütter in absurde Ärzte, die oft onomatopoetisch ihre Theorie-Kämpfe austragen.

Und mitten drin in der AKH-Abteilung und mit dem Stöhnen und Schreien von Niederkommenden als Hintergrundsound Kajetan Dick als Professor Johann Klein, der befindet, die Frauen stürben aus Angst oder aus Scham für ihre unehelich gezeugten Kinder: „Wer hier Leben rettet oder nicht, entscheide ich.“ Dazu steigt er mit Semmelweis mitten in seine brachialen Methoden, den Geburtskanal in blutrotem Licht, wo die Performerinnen (wunderbar: Leonie Wahl als zum 23. Mal schwangere, ordinäre Gunstgewerblerin) sich in einer Mischung aus Aerial Yoga und Vertikaltuchakrobatik üben: Heulen und Zähneklappern, der Schmerz, der Verlust, die Trauer in expressiven Tanzsequenzen um, unter und auf den Seziertischen – und in der k.u.k. emaillierten Badewanne von Bühnen- und Kostümbildnerin Pia Stross, auf der Semmelweis seinen imaginären sterilen Siegeszug antritt.

Walsberger und Resch als Muse Vagina. Bild: © Barbara Pálffy

Walsberger und Yvonne Brandstetter. Bild: © Barbara Pálffy

Sophie Resch und Gerald Walsberger. Bild: © Barbara Pálffy

Dick, Walsberger und Leonie Wahl. Bild: © Barbara Pálffy

Zu b.fleischmanns wummernder Tonkunst gibt Gerald Walsberger den Ignaz Semmelweis als unflätigen, ungestümen, vor Ungeduld brennenden Ungarn, der sich mal feiert („Semmelweis, du geile Sau, du hast es drauf“), mal in Depressionen versinkt. Drei Entbindungen, drei Tote, die er als „Bauchrednerpuppen“ sich post mortem anklagen lässt – welch eine Szene. „Der.Semmelweis.Reflex“ ist eine Aufführung, nach der man nicht allzu bald einen Termin beim Gynäkologen haben möchte… Und als nächstes wiederum Kajetan Dick als Semmelweis‘ Freund und pathologischer Anatom Jakob Kolletschka, der bei einer Obduktion von einem Studenten mit dem Skalpell verletzt wird und an Blutvergiftung stirbt (großartig: Dicks Veitstanz mit Wunde und der Sepsis-Slapstick der Darstellerinnen) –  was Semmelweis erst auf die richtige Spur bringt.

Von Sophie Resch als feucht schmatzende Muschi-Muse Vagina beflirtet und besungen, von den Freunden Hebra, Škoda und Rokitansky punkto Marketingkonzept, Twitteraccount, Webseite und Insta beraten, von Kajetan Dicks aka Dr. Pfizers (!)  finanziellen Angeboten für sein Hygienepatent umzingelt, gerät Semmelweis mehr und mehr in Bedrängnis. Bei einer Sektion zieht er sich eine kleine Wunde zu, die auch bei ihm zu einer Blutvergiftung führt. Unter dubiosen Umständen und nach Expertise dreier Ärzte wird er von seiner Frau in die Landesirrenanstalt Döbling eingewiesen, wo Semmelweis zwei Wochen später verstirbt – für Gerald Walsberger, mit einem Seziertisch und einem „Bitte, helfen Sie mir!“ entlang der Publikumsreihen gekarrt, werden darob die Leintücher zur Zwangsjacke. Nach einer Exhumierung im Jahr 1963 stellt ein Gerichtsmediziner multiple Frakturen an Händen und Armen fest; es muss also davon ausgegangen werden, dass Semmelweis vom Pflegepersonal der Nervenheilanstalt nicht pfleglich behandelt wurde …

„Nur sehr Wenigen war es vergönnt, der Menschheit wirkliche, große und dauernde Dienste zu erweisen, und mit wenigen Ausnahmen hat die Welt ihre Wohltäter gekreuzigt und verbrannt. Ich hoffe deshalb, Sie werden in dem ehrenvollen Kampfe nicht ermüden, der Ihnen noch übrigbleibt. Ein baldiger Sieg kann Ihnen umso weniger fehlen, als viele Ihrer ursprünglichen Gegner sich de facto schon zu Ihrer Lehre bekennen.“ – Frauenarzt Louis Kugelmann an Ignaz Semmelweis, Brief ebenfalls 1861. Einer derjenigen, die vom Skeptiker zum Befürworter von Semmelweis‘ Infektionsbefunden wurden, war Joseph Späth.

Zu sehen bis 9. April.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=5hL3W2L8Ryk           www.off-theater.at            www.bernhard-ensemble.at

  1. 3. 2022

Das Off Theater zoomt: Reenachting Jakob Levy Moreno

April 18, 2021 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Die „Entdeckung“ der interaktiven Mockumentary

Hitler und Stalin spielen „Hamlet“: Isabella Jeschke und Ernst Kurt Weigel. Bild: Günter Macho

Da kein Ende des Kultur-Lockdowns abzusehen ist, will das Off Theater mit seiner Inszenierung „Die grauenvolle Entdeckung des Jakob Levy Moreno“ nun eine andere Richtung im Bereich des virtuellen Theaters einschlagen. Ernst Kurt Weigel und sein Team haben das Stück in die interaktive Mockumentary „REENACTING Jakob Levy Moreno“ verwandelt, zu erleben am 23. und 24. April um 20 Uhr auf Zoom: #werdeteinteildavon

Wer Teil der Gruppe sein oder auch nur zuschauen möchte, kann sich via zoom@off-theater.at anmelden. Nicht vergessen, das gewünschte Datum anzugeben. Welche Gruppe? Dazu mehr in der Rezension der Bühnenpremiere vom vergangenen Oktober:

In Gruppentherapie mit Hitler und Stalin

Ein Podium als Shakespearebühne, an jeder Ecke ein Ausläufer, und mit Drahtkrone thront Kajetan Dick umringt von zwei Elevinnen. Nun erhebt er sich, lädt das ringsum sitzende Publikum zum warming-up auf eine Reise ein, alle aufstehen!, auch die anwesende Kulturstadträtin macht da mit, bei den „Körperübungen im Kosmos“. Bis schließlich alle wohlbehalten im Off Theater ankommen. In dessen White Box hat Ernst Kurt Weigel sein Gedankenspiel „Die grauenvolle Entdeckung des Jakob Levy Moreno“, gezeigt von das.bernhard.ensemble und orgAnic reVolt, zur Uraufführung gebracht.

Kajetan Dick fungiert als ebendieser Moreno, und wer glaubt, der Genialisch-Manische outriere sich mit seinem Mentalcoach-Sprech in erleuchtete Höhen, staunt als am Ende Moreno im beschwörerischen O-Ton vom Band läuft. „Am I nothing or am I God?“ raunt er sein „Sein oder Nichtsein“. Dies die Frage, deren grauenhafte Antworten der Abend aufwirft.

Die Vita von Jakob Levy Moreno lässt sich durchaus als extravagant beschreiben: Aus einer rumänischen Familie sephardischer Juden stammend, studierte er in Wien Medizin und entwickelte schon in jungen Jahren ein großes soziologisches Interesse, das ihn zur Arbeit mit Sträflingen, Prostituierten und im Flüchtlingslager Mitterndorf brachte. Moreno war Begründer der Soziometrie und der Gruppenpsychotherapie. Seine Faszination fürs Stegreiftheater veranlasste ihn, selbst damit zu experimentieren: ohne Regie und in selbstkreierten Raumbühnen. Das war damals revolutionär.

Ganz nah am raunenden O-Ton: Kajetan Dick ist brillant als Jakob Levy Moreno. Bild: Günter Macho

Hitler schlicht durchs „Burgtor“: Isabella Jeschke mit Desi Bonato und Leonie Wahl. Bild: Günter Macho

Josef Stalin erforscht seine Gefühle: Ernst Kurt Weigel und Tänzerin Desi Bonato. Bild: Günter Macho

Foltertanz der Massenmörder: „Hitler“ Isabella Jeschke und „Stalin“ Ernst Kurt Weigel. Bild: Günter Macho

Doch der aufkeimende Antisemitismus der 1920er-Jahre hieß ihn Wien für immer zu verlassen. In New York entwickelte Moreno schließlich seine Methode des Psychodramas, dies heut‘ allgegenwärtige gruppendynamische Rollenspiel: Sage uns, was dich quält und was du für dich gewinnen möchtest! – und Weigel führt die 25 Zuschauer/Probanden nun mitten in die Aktionsphase einer solchen Therapiesitzung. Gemeinsam wird man zur Experimentiertruppe von Morenos Theater der Spontaneität, „wunderbar, großartig“ feuert Theatermacher Moreno-Dick die Anwesenden an.

„Das Schauspiel sei die Schlinge, die uns in das Gewissen bringe“, rezitiert er Hamlet. Denn der soll gegeben werden. Es ist das Jahr 1913, Devi Saha hat die White Box in einen wunderbaren Jahrhundertwendesalon verwandelt, und aus dem Publikum meldet sich Adolf Hitler, um den Dänenprinzen zu spielen. Dies Zusammentreffen der Kunstkniff von Ernst Kurt Weigel. Dass sich der erfolglose Kunstmaler in jenem Jahr in Wien aufhielt, ist historisch verbrieft, ebenso wie Josef Stalin. Weigel als untergetauchter russischer Revolutionär lässt seine Figur auf die anderen beiden „Ausnahmepersönlichkeiten“ der Stadt prallen.

Und wieder einmal begeistert, wie bühnenpräsent Isabella Jeschke ist. Mit Bärtchen-Punkt und in breitem Braunauer Dialekt gestaltet sie den Architektur-Demagogen, nunmehr Morenos „Prinz Adolf“, ihr expressives Spiel, dieser mal blindwütige, mal übereifrig Morenos Anweisungen folgende Schreihals, in hibbelig-verrenktem Gleichschritt zuckend – da ist ein Körper bereits schwer beschäftigt mit „Mein Kampf“.

Die ausdrucksstarke Choreografie, sie im doppelten Sinne eine körperliche Gewalt, hat Leonie Wahl entwickelt, deren famoses Tanz.Schau.Spiel „This is what happened in the Telephone Booth“ Mitte November im Off Theater wiederaufgenommen wird (Rezension von der mittlerweile in einen Live-Stream umgewandelten Produktion: www.mottingers-meinung.at/?p=45762). Sie und Tänzerin Desi Bonato agieren als allerlei seelische Aggregatzustände. Tobt Hitler über die Asymmetrie der Hofburg, rechts Erhabenheit, links nichts, grün, Wildwuchs (Zuschauergelächter!), machen sie ihm mit Armen und Beinen das Burgtor.

Gruppendynamik in der schweißtreibenden Therapiesitzung: Bonato, Weigel, Dick, Wahl und Jeschke. Bild: Günter Macho

Bonato performt vor Stalin sein Gefühl, die Frau verloren und den Sohn verlassen zu haben, und es ist ein ziemlich durcheinander gewirbeltes. Wie Wahl und Bonato den Dirigenten der Todesbürokratien im Takt folgen, ihre Gebärden-Sprache, mit der sie von Mitläufertum, Ekel und Ohnmacht erzählen, ist große Kunst. Andere Gruppenmitglieder werden ins Spiel miteinbezogen, Kajetan Dick fischt sich seine Gottfried Semper von den Stühlen, im #Corvid19-Abstand lernen die Geister unter Anleitung den richtigen Stegreif-Tonfall fürs gespenstische

„Bau‘ mir die Hofburg fertig …“ das.bernhard.ensemble würde sich selbst nicht gerecht, gäbe es nicht einen tagesaktuellen Weigel’schen Exkurs, der kohleschmutzige Stählerne über einen Kapitalismus, der Moria buchstäblich ersaufen lässt, eine Schmährede auf die zaudernde Hamlet-Gesellschaft, eine Anpreisung einer Alle-Menschen-sind-gleich-Gemeinschaft ohne Privateigentum. Da sind’s bis zum Großen Terror noch mehr als 20 Jahre hin, für Morenos Improvisation hat sich Stalin als Claudius gemeldet, der nach anfänglicher Sympathie für den Stiefsohn bei 3.3 endet: I like him not.

Dies die stärkste Szene von Isabella Jeschke und Ernst Kurt Weigel. Hitler entartet sein Leinensackerl zur Gefangenenkapuze, die „Krüppelhand“, das „unwerte Leben“ Stalin muss den Boden wischen, eine perfide Umarmung, ein Foltertanz, bis man sich rechts und links als Führerstatue aufbaut. Stampfend, keuchend, zum monströsen Sound von b.fleischmann die Masse, und ein über seine grauenvolle Entdeckung entsetzt die Augen aufreißender Jakob Levy Moreno.

„Die grauenvolle Entdeckung des Jakob Levy Moreno“ umfängt einen mit einem Sog, dem man sich unmöglich entziehen kann. Ein starkes Stück!, ist das. Die Geschichte lehrt, die dramatische Geste kann das Böse nicht besiegen, weil es sie sich aneignet, die Geschichte lehrt, für den Horror gibt’s kein Heilmittel. Hätte eine frühe Psychotherapie der späteren Massenmörder fürs 20. Jahrhundert das Schlimmste verhindert? Ernst Kurt Weigel probiert’s. Seien Sie dabei … Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=42043

Anmeldung: zoom@off-theater.at           www.off-theater.at          Trailer: vimeo.com/467135177           www.facebook.com/watch?v=141845411159860

18. 4. 2021

Das Off Theater im Live-Stream: This is what happened in the Telephone Booth

April 7, 2021 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Leonie Wahls TanzImOff-Eröffnung via Bildschirm

Die Telefonzell-Membran der verlorenen Seelen: Gerald Walsberger, Michael Welz und Kajetan Dick, im Telefonhäuschen Leonie Wahl und Hannah Timbrell. Bild: Günter Macho

Eigentlich sollte ab morgen im Off Theater das Festival TanzImOff stattfinden, aber aufgrund der Reiserestriktionen vieler internationaler Gäste ist es erst mal auf Dezember verschoben. Das Off Theater zeigt dafür die geplante Eröffnungsvorstellung „This Is What Happened In The Telephone Booth“ von Leonie Wahl und Ernst Kurt Weigel am 8. April um 20 Uhr als Live-Stream. Das Besondere diesmal: Wahl und Weigel beginnen mit einer etwa 15-minütigen Werkeinführung mit allen Beteiligten und starten im

Anschluss mit der Vorstellung – komplett live via der Homepage off-theater.at und der Social Media Channels. Einfach am 8. 4. kurz vor 20 Uhr reinklicken! Hier noch einmal die Rezension vom November 2019:

Den Wahn mit Witz wegtanzen

Die sphärischen Soundscapes von Asfast und die sich zur Crecendo-Klage steigernde Stimme von Tamara Stern schaffen eine stimmige Atmosphäre. Auftritt Leonie Wahl mit butterblumengelbem Haar. „Eines Tages verschwand meine Mutter in einer Telefonzelle um ihren Geliebten anzurufen. Als sie heraustrat, war sie ein komplett anderer Mensch geworden. Sie war völlig außer sich, nicht mehr zu beruhigen. Von da an blieb sie psychisch krank. Ich war zehn Jahre alt und konnte mir nicht erklären, was passiert sein mag. Deshalb begann ich zu tanzen“, sagt sie – und beginnt nun wirklich.

Als Tanz.Schau.Spiel bezeichnet die in Wien lebende Schweizer Choreografin und Tänzerin ihre aktuelle Arbeit „This is what happened in the Telephone Booth“, die Koproduktion von Leonie Wahls orgAnic reVolt und das.bernhard.ensemble an dessen Spielstätte, dem Off Theater, von Regisseur Ernst Kurt Weigel zur Uraufführung gebracht. Das gemeinsame Projekt ist für Wahl ein autobiografisches, die damit einen berührend privaten Einblick in den bisher tiefsten Einschnitt ihres Daseins gibt:

Choreografin und Tänzerin Leonie Wahl … Bild: Günter Macho

… will die Erkrankung ihrer Mutter … Bild: Barbara Pálffy

… für sich performativ verarbeiten. Bild: Barbara Pálffy

Es ist 1987 in der Toskana, und die Familie, Mutter, Schwester, Leonie, Teil einer Aussteigergemeinschaft. Dann die Zellenszene, Halluzinationen, Stimmenhören, Mutter sagt, sie könne „den Tod riechen“. Schock, Carabinieri, Krankenhaus, Diagnose Schizophrenie – und die kindliche Erkenntnis, dass ab nun nichts mehr sein wird, wie es war. Aus Trauma wurde Tanztheater, weil, so Wahl, das Wichtigste ohnedies nicht mit Worten zu erzählen sei. Weshalb sie sich nach der kurzen Einführung in ihre Geschichte gleich aufs Körperliche verlegt, ihr Eingang in die verworrenen Gedankengänge des Wahns von Weigel dabei keineswegs als Krankheitstragödie, sondern als komödiantische Groteske mit spooky Psychothriller-Elementen inszeniert.

Wahl zeigt das Implodieren einer Seele mit explodierender Körpersprache, aber auch umgekehrt, den psychischen Auf- als physischen Stillstand, wobei es ihr mit außerordentlicher Ausdruckskraft gelingt, sowohl Stakkato-Schritte als auch Stasis gleich einer Druckwelle über die Köpfe des Publikums brausen zu lassen. Einziges Requisit, das ihr Ausstatterin Devi Saha an die Hand gibt, ist eben jenes Telefonhäuschen, eine entsetzliche Geisteszelle, die Wände mit einer semitransparenten, pergamentfarbenen Membran ausgekleidet, eine unappetitlich vergilbte Haut, durch die sich Gesichter und Gliedmaßen des Ensembles drücken, eine zwar elastische Zellmembran, die dennoch weder Flucht erlaubt noch Freiheit duldet.

Verwickelt im Kabelsalat: Hannah Timbrell, Kajetan Dick, Gerald Walsberger, Leonie Wahl und Michael Welz. Bild: Günter Macho

Keiner kann rein, keiner kommt raus: Gerald Walsberger, Leonie Wahl, Michael Welz, Hannah Timbrell und Kajetan Dick. Bild: Günter Macho

Im psychedelischen Sinne als One in five bestreiten Tänzerin Hannah Timbrell und die Performer Kajetan Dick, Gerald Walsberger und Michael Welz mit Leonie Wahl den Abend, gespenstische Gestalten, die sich nach und nach aus den Membranwänden winden, Hirngespinste, die sich mal als Wahl’sche Alter Egos, mal als Mutters multiple Persönlichkeiten, vielleicht auch als Wiedergänger des abwesenden Vaters interpretieren lassen. Mit blutroter Telefonnabelschnur verbunden, von ihr wie ein

Hund gewürgt, wie an Marionettenfäden gegängelt, gefesselt oder liebevoll umschlungen oder als Springseil verwendet, führen die Männer diverse Telefonate mit Ehepartnern und Ärzten. „Ich habe das Grauen gesehen“, wiederholt Dick als ob paralysiert, obwohl man’s per hartnäckigem Dauerklingeln eher hört – dieses gleichsam ein Synonym für jene Forderung nach ständiger Erreichbarkeit, die heute tatsächlich krank macht. Dass dann einer auch noch „Du bist nicht allein“ sagt, ist in Anbetracht von Mutters Befinden die Art Irrsinnigkeit, mit der Wahl und Weigel die Darsteller den Wahnwitz der Situationen wegtanzen, wegspielen lassen.

Mit Wahl und Timbrell ist es Gerald Walsberger im blauweiß gemusterten Kittelschürzenkleid, der an die Grenze der totalen Verausgabung geht. Die Tanzpassagen werden mehr und mehr zur Zerreißprobe, die Seelenspasmen zu Körperkrämpfen, jeder Wahl’sche Move ist nun eine Kampfansage ans Erlittene. Und aus dem Orkus der Telephone Booth drängen die Verlorenen vergebens ans Licht, eine Optik, gemahnend an die Verdammten in Rodins Höllentor. „This is what happened in the Telephone Booth“ verzaubert mit einer wundersamen, bizarren Poesie, die sich sanft über eine brutale Geschichte stülpt. Sehenswert … Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=36197

Video: vimeo.com/434756174           www.youtube.com/watch?v=sZw6fV05om4&t=27s                     www.leoniewahl.com           bernhard-ensemble.at           off-theater.at

7. 4. 2021

Das Off Theater online: The.Heldenplatz.Thing.Movie

März 6, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Infiziert mit der österreichischen Virusvariante

Horch, wer kommt von draußen rein: Ernst Kurt Weigel, Isabella Jeschke und Tamara Stern als Forscherinnen- und Forscherteam in Franz-Josef-Land. Bild: © Barbara Pálffy

Wegen des großen Erfolges und weil kein Ende des Kultur-Lockdowns abzusehen ist, verlängert das.bernhard. ensemble den Gratis-Stream von „The.Heldenplatz. Thing.Movie“ via der Webseite www.off-theater.at bis Ende der Saison. Die Produktion, der im März 2020 gerade noch die Premiere gegönnt war, wurde von Philine Hofmann mit der Kamera festgehalten – heißt: nicht abgefilmt, sondern von der jungen Foto- und Videokünstlerin in ein eigenständiges Kunstwerk verwandelt, aufgenommen in der White Box des Off Theater.

„The.Heldenplatz.Thing.Movie“ ist ein weiteres Theater-Mash-up von Regisseur Ernst Kurt Weigel, inspiriert von Thomas Bernhards „Heldenplatz“ und John Carpenters Sci-Fi-Horror „The Thing – Das Ding aus einer anderen Welt“, Kult sowohl das einstige Skandalstück wie der Leinwandklassiker – und wie gut trifft sich’s, dass der Weigel den Kurt im Namen führt, war doch Kurt Russell der große Held in Carpenters Meisterwerk.

Was das.bernhard.ensemble zeigt, ist Polit-Satire de luxe, Thema ist naturgemäß das Virus, die Performance mit jeder Mutation um eine Mundschutzmaske weiterentwickelt, und das Setting wie folgt: Eine Gruppe Forscherinnen und Forscher unter der Leitung des verwegen-verschmitzten „Kört“ haben sich in die klirrende Kälte des Franz-Josef-Land zurückgezogen, um mitten im Nirgendwo die gute österreichische Mentalität zu erkunden und zu dokumentieren.

Die Message und deren Control wird immer wichtiger, sagt Weigel, und so ginge es nicht an, dass auf den Voyager Golden Records von 1977 ausgerechnet Kurt Waldheim seine Affäre ins All geschickt habe – und damit den ganzen Tross des Nationalsozialismus bis hin zum SA-Ross. Was sollen sich etwaige Aliens da denken? Ergo sammelt die ziemlich schräge Truppe neue Daten über heimische Befindlichkeiten: Kristina Bangert als Josephine, Kajetan Dick als Robert und Gerald Walsberger als Lukas.

Isabella Jeschke als Herta – ja, Auge! bei diesen Namen – betreut die wunderbare Chatgruppe „Todessehnsucht“, ist doch „der Österreicher von Natur aus unglücklich und wenn er einmal glücklich ist, versteckt er sein Glück in Verzweiflung“, und Tamara Stern als Frau Zittel den Schweigechat. Was das 90 Minuten beharrlich stille Polarmäuschen deutlich von des Professors Haushälterin trennt, Tamara Stern spielt sich mit viel komödiantischer Mimik in lichte Höhen, will ihr doch keiner zuhören, äh, zuschauen.

The Thing turnt behende übers Iglu-Gerüst: hier Rosa Braber, im Film Desi Bonato. Bild: © Barbara Pálffy

„Boris die Bestie“-Lookalike: Ernst Kurt Weigel als verwegener Teamleiter „Kört“. Bild: © Günter Macho

Die Tiefkühltruhe des Grauens als Frischhalteplatz …: Ernst Kurt Weigel. Bild: © Günter Macho

… für ewiggestrige Untote und zeithistorische Wiedergänger: Isabellla Jeschke. Bild: © Barbara Pálffy

Zugegeben, man muss als Publikum erst durch diese Teamaufstellung turnen, andererseits ist sie zu gelungen, um nicht genannt zu werden. In einer Tiefkühltruhe werden bei minus 70 Biontech-Grad die gewonnenen Erkenntnisse im Hightech-Gerät Cocktailshaker aufbewahrt – und schon steppt der Eisbär im arktischen Außenposten. À la Carpenter und zur hypnotischen Musik von b.fleischmann stürmt ein schwerbewaffneter Norweger die Station, vor der Flinte eine wehrlose Frau, eine Flüchtende, eine Jüdin, doch wer Carpenter kennt, kennt Formwandler – und worin wird sich der Heldenplatz-Anrainer verwandeln, außer in mittlerweile beinah neun Millionen Debile und Tobsüchtige? Genau!

Desi Bonato brilliert als The Thing, sie ist die „Wölfin“ im Schafspelz, im schwarzen Lederoutfit schlängelt sie sich lasziv wie die Verführung selbst und vollführt atemberaubende Akrobatiknummern auf dem Iglu-Gerüst von Julia Trybula. The Thing ist das Virus, und zwar die urösterreichische Variante. Bald ist jedes Crewmitglied mittels Handauflegen „das erste Opfer“, erste Symptome sind stark antisemitische, rassistische Verschwörungshaltungen, denn das Virus holt aus jedem das Schlechteste hervor. Am besten beeinflussbar ist die hyperhippelige Herta der Isabella Jeschke – und schon ist der Satz gesprochen: „Wenn ich eine Nazisau bin, bist du eine Judensau.“

Infiziert ist gleich neo/nazifiziert. Das durch und durch verderbte Land, diese geist- und kulturlose Kloake, hüllt von Neuem ganz Europa mit ihrem Gestank ein. Auf skurrile folgen sinistre folgen spooky folgen Suspense-Situationen, wobei Weigel nie aus dem Blick verliert, dass Thomas Bernhard wie John Carpenter Großmeister des subversiven Augenzwinkerns sind. Philine Hofmann fängt Gesichter in Großaufnahmen und die klaustrophobische Atmosphäre ein, mit wackeliger Handkamera bebildert sie Chaos und Tumult.

Weil das.bernhard.ensemble immer auch Körpertheater ist, wird zu Stevie Wonders „Superstition“ ein Zombietanz aufgeführt. Und was die ewiggestrigen Untoten und die zeithistorischen Wiedergänger betrifft, ist es nur gut, dass es die große Tiefkühltruhe als Frischhalteplatz gibt. Es wird hinausgeströmt in die unbelebte Stadt, zur Ulrichskirche, Genussgruppenleiterin Bangert zum Sluka, und – da fröstelt’s den Kulturmenschen – in die leere Josefstadt. Alle, alle sind sie wieder auf dem Heldenplatz. Und Walsberger, aufgefunden als der letzte lebende Sozialdemokrat, sagt, die Sozialisten seien schuld, dass es wieder nationale Sozialisten gibt.

Die großartige Tamara Stern spielt sich mit komödiantischer Mimik in den Mittelpunkt der Produktion. Bild: © Günter Macho

„The.Heldenplatz.Thing.Movie“ ist eine fulminante Farce, die durch den Zeitungeist galoppiert, ohne auf ihm herumzureiten. Dass in der österreichischen Innenpolitik Waldheims Pferd nicht das einzige trojanische ist, macht Ernst Kurt Weigel im Subtext, sein Ensemble im Subspiel dieser Horrorgroteske fest.

Und wie die großartig agierenden Darstellerinnen und Darsteller um den Cocktailshaker streiten, wie der österreichische Gemütsmensch da zum Gewalttäter wird – plastischer kann man den um sich greifenden Impfdosenneid und die Geimpften-Missgunst, den aufkeimenden Impfdosennationalismus, die Mieselsucht allüberall kaum ausstellen. Man möchte nicht täglich philosophieren, wie das weitergeht.

Am Ende: Anschluss completed. Das politische Hass-Virus hat die klimatische Kälte zur gesellschaftlichen mutiert. Die Tests weisen eine hochinfektiöse minderheiten- und demokratiefeindliche Geisteshaltung nach. In Franz-Josef-Land hat’s die Forscherinnen und Forscher, die Suchenden nach dem Schönen in der österreichischen Seele dahingerafft. Einzig Frau Zittel sitzt noch da. Das Schweigen überlebt – dieses die authentische „österreichische Lösung“: Alles gesehen, alles gewusst, nichts gesagt und nichts getan.

Trailer: vimeo.com/432422601           Full Movie: www.off-theater.at           www.bernhard-ensemble.at           www.philinehofmann.com

TIPP: Heute um 20 Uhr gibt es einen Realtime-Livestream der Produktion „This is what happened in the Telephone Booth“ von das.bernhard.ensemble und orgAnic reVolt auf Facebook. Kamerafrau auch hier Philine Hofmann. Rezension der Live-Performance 2019: www.mottingers-meinung.at/?p=36197, Trailer: vimeo.com/434756174.

Link zur Live-Veranstaltung: www.facebook.com/das.off.theater/live

www.off-theater.at           www.bernhard-ensemble.at

  1. 3. 2021