Theater in der Josefstadt: Marias Testament

Oktober 1, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Schmerzensmutter erhebt ihre Stimme

Bild: Bo Lahola

Woran sie sich erinnert. Dass ihr die Füße weh taten, weil ihre Schuhe fürs lange Stehen nicht gemacht waren. Dass Männer Würfel spielten. Ein anderer einen Raubvogel im Käfig mit lebendigen Kaninchen fütterte. Dass Volksfeststimmung war. Und an den geschundenen Leib. Fünf Männer mussten ihn festhalten, um die Nägel durch seine Handgelenke schlagen zu können. „Das kann ich bezeugen. Alles andere nicht“, sagt die alte Frau auf der Bühne.

Das Theater in der Josefstadt zeigt als Gastspiel der Hamburger Kammerspiele „Marias Testament“. Regisseur Elmar Goerden hat die Spielfassung des Romans des irischen Autors Colm Tóibín erstellt, Nicole Heesters agiert in dem 90-minütigem Monolog als Maria. Durchaus als Schmerzensmutter erhebt sie ihre Stimme, doch weg geht ihre Schilderung vom späteren Bibelwort, dies niedergeschriebene Dogma, das der Nachwelt mehr zu gelten hat, als Marias mündlich erzählte Wahrheit. Dass man von ihr nur diese zu hören bekommen wird, ist ihr Versprechen schon im ersten Satz.

Das ist problematisch. Maria sitzt fest in Ephesos – ihr dortiges Haus, eine heilige Pilgerstätte gibt es tatsächlich – und wird gewissermaßen bewacht von den Evangelisten Johannes und Markus. Deren Schreibmaschine, neben Thermoskanne und Kofferradio ein dezentes Signal fürs Zeigen von Zeitlosigkeit, steht auf einem langen Küchentisch, bereit Marias abzulegendes Zeugnis auf ihr abzutippen. Doch die entzieht sich, sie hat anderes erlebt, hat es anders erlebt, als man von ihr hören will. Ihre gar nicht christliche Botschaft hat nichts mit der, wie sie sie nennt, „erbaulichen Geschichte“ gemein, die ihre Aufpasser zu verkünden vorhaben. Kartoffel schälend und Staub kehrend zieht sie über die „Nichtsnutze“ her, mit denen ihr Sohn übers Land zog. Seinen Namen kann sie nicht aussprechen, und es ist gerade diese Unmöglichkeit, die Tóibíns Figur übers Heilsbild hinaus zur Mutter aller Gequälten, Gefolterten, Hingerichteten macht. Zu jeder Mutter, die jemals ihr Kind verloren hat.

Schwer auszuhalten ist mitunter, wie die Heesters da berichtet, ihre Stimme dabei tief und kraftvoll; sie ist eine virtuose Erzählerin, mal spöttisch, verächtlich schnaubend, mal wispernd, resignierend innehaltend, oszillierend zwischen Faszination und Abscheu, immer wieder ihre Trauer, ihr Unverständnis über das Geschehene laut hinausschreiend. Marias fassungslose Darlegung des Grauens einer Kreuzigung wird durch Heesters‘ präzise akzentuiertes Sprechen zu einem verbalen Fanal gegen Staatsterror, Gewalt und Machtmissbrauch. Nur dann und wann spricht sie liebevoll über ihren Sohn, dann wird das Licht um sie weicher. Einmal, kurz nur, folgt sie sogar der Ikonografie, wirft sich ihre zerschlissene Schlafdecke wie den blauen Madonnenmantel um. Im Traum, so sie, hätte sie den Toten in ihren Armen und auf dem Schoß gehalten, die daraus herbeigekünstelte Pietà wird ihr von den Aposteln regelrecht aufgezwungen. Über deren Kult um die unbefleckte Empfängnis – immer noch hält sie in ihrer Stube einen Stuhl für ihren geliebten Mann Josef frei – kann sie nicht einmal lachen.

Bild: Bo Lahola

Überhaupt, sie verachtet sie, die sogenannten Jünger. Die meiste Zeit ärgert sich diese Maria über die hysterische Meute. Und den in ihren Augen selbsternannten Erlöser. Ihr Sohn, seine „gestelzte“ Sprache, sind ihr fremd geworden, er weist sie von sich, als sie, von Verwandten über geheime Aktivitäten gegen ihn informiert, sein Leben retten will. Entgegen der Bildung des Mythos rund um ihn legt sie ihr weltlich-mütterliches Bekenntnis ab.

Dem Wunder der Hochzeit von Kana misstraut sie wie einem Trickbetrug, die Erweckung des Lazarus ist für sie ein billiger Effekt, vor allem aber eine Peinigung desselben, musste er danach doch ein zweites Mal das Sterben durchleiden. „Niemand sollte sich am Tod zu schaffen machen“, kommentiert sie diese Inszenierungen für (Leicht?-)Gläubige. „Wunder“ ist für sie kein gesellschaftliches Event. Über die historische Maria ist so gut wie nichts bekannt, im Neuen Testament wird ihr nur eine passive Rolle zuerkannt. „Marias Testament“ ist also als Resonanzraum für Hinterfragungen der christlichen Heilslehre bestens geeignet. Goerden setzt auf ein diese kennendes Publikum, das gekommen ist, seinem Bühnentext mit eigenen kritischen Standpunkten, mit Emotionen auch, zu begegnen. Eine Überlegung, die im „protestantischen“ Hamburg aufging, wie sie im „katholischen“ Wien aufgeht.

Am Ende, gesteht Maria, sei sie vor dem Ende geflohen, nachdem sie viele Stunden vor ihrem sterbenden Sohn gestanden habe, einen versteckten Pfad hinunter, hinein in ein bereitstehendes Boot. Dafür schämt sie sich, ja. Nun ist sie Flüchtling. Und Verfolgte. Und am meisten nerven sie die Menschen, die ihr die Kreuzigung als Erlösung für die Allgemeinheit anpreisen. Als deren Errettung. „Das war es nicht wert“, sagt Maria darauf bei Tóibín. Goerden und seine Grande Dame Heesters haben diesen Schluss gegen ein „Das ist sie nicht wert“ getauscht. Zwei Worte nur, die aber Milderung bringen, stellen die beiden doch damit nicht mehr Jesus‘ Handlung infrage, sondern eine Welt, die sein Opfer nicht verdient hat.

www.josefstadt.org

  1. 10. 2018

Art Carnuntum: The Merchant of Venice

Juni 30, 2018 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Geschichte über Geld machen und Gewinnsucht

Shylock will sein Pfund Fleisch: Sarah Finigan, Russell Layton, Rhianna McGreevy, Jacqueline Phillips, Luke Brady und Steffan Cennydd. Bild: © Barbara Pálffy

Im Programmheft-Interview sagt Regisseur Brendan O’Hea, „Der Kaufmann von Venedig“ sei für ihn kein antisemitisches Stück, sondern ein Stück über Antisemitismus. Das ist spannend anzuschauen, ist Shakespeares Werk im deutschsprachigen Raum doch ein extrem vorbelasteter Text, über den sich Theatermacher höchst selten und wenn mit Samthandschuhen heranwagen.

Nicht so die Londoner. Shakespeare’s Globe ist nach einer Direktorinnenwechsel-bedingten Pause zurück bei Art Carnuntum und zeigt als erste von drei Produktionen, dass man den Shylock auch Ideologie-unbelastet präsentieren kann. Zumal dieser hier von einer Frau gespielt wird. „The Merchant of Venice“ von der Themse entpuppt sich ergo als – wie immer – hochmusikalisches Volkstheater, die Bühne nicht viel mehr als eine „Bretterbude“, und wohl noch nie hat man das Kaufleutegerangel in der Lagunenstadt so humorvoll umgesetzt gesehen. Geschlecht, Alter und Hautfarbe spielen im Ensemble, das in jeweils mehrere Rollen schlüpft, wie man’s kennt, keine Rolle. Sarah Finigan ist als Shylock kein Sympathieträger, auch kein Opfer, aber ein von der Gesellschaft Gedemütigter, der beschließt, seine Rache voll auszuleben. So wird der Schuldschein zur Sache zwischen zwei Männern, Russell Layton brilliert als Antonio, und kaum jemals wurde in einer deutschsprachigen Inszenierung klar, dass er der im Titel angesprochene „Kaufmann von Venedig“ ist.

Jessica und Lorenzo: Cynthia Emeagi und Steffan Cennydd. Bild: © Barbara Pálffy

Wie immer ist die Inszenierung hochmusikalisch: Rhianna McGreevy, Russell Layton, Sarah Finigan, Canthia Emeagi, Colm Gormley und Steffan Cennydd. Bild: © Barbara Pálffy

In O’Heas Regie wird aus dem ernsten Stoff eine Liebeskomödie mit getäuschten Altvorderen, wunderbar etwa wie Steffan Cennydd als Prince of Arragon ein „Ausländer“-Englisch persifliert, wird aus Shylock eine Figur, ein reicher Geizhals, der mehr ums Geld denn um seine – in seinen Augen – entehrte Tochter weint. Das Thema ist Geld machen und Gewinn-/sucht, das passt (noch) zur Finanzstadt London, deren Topographie sich nach dem Brexit wohl drastisch verändern wird. Darüber hinaus setzt O’Hea auf Frauenpower, den Parts von Portia und Nerissa, dargestellt von Jacqueline Phillips und Rhianna McGreevy, und ihrer Intrige als „Advokat“ Balthasar und dessen Gehilfen, wird mehr Platz eingeräumt als hierzulande üblich.

Cynthia Emeagi gibt eine ziemlich emanzipierte, keinesfalls entführte, sondern aus freien Stücken gegangene Jessica, Steffan Cennydd in seiner „Hauptrolle“ einen liebestrunkenen Lorenzo. Luke Brady ist ein ehrenwerter Bassanio, Colm Gormley ein unter dem Pantoffel seiner frischangetrauten Nerissa stehender Gratiano. Am Ende geht’s um Gnade, die „vom Himmel tropft wie Regen“ und „in den Herzen von Königen wohnt“. Einem Kind Österreichs fällt auf, dass Shylock die Szene mit einem wie bei den NS-Deportationen genehmigten kleinen Koffer verlässt.

Offenbar nehmen die Briten das also doch wahr.

www.artcarnuntum.at

  1. 6. 2018

Colm Tóibíns „Brooklyn“ im Kino

Januar 21, 2016 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Nostalgie über Migrantenschicksale

Saoirse Ronan und Emory Cohen Bild: © 2015 Twentieth Century Fox

Saoirse Ronan und Emory Cohen
Bild: © 2015 Twentieth Century Fox

Kitsch? Kitsch ist keine Kategorie. Bester Film, bestes Drehbuch und beste Hauptdarstellerin sind’s. Und in diesen ist „Brooklyn“ für den Oscar nominiert. John Crowley hat den Roman von Colm Tóibín verfilmt, das Drehbuch dafür hat ihm Nick Hornby geschrieben. Was hat man in diesem Roman gewohnt. Mit den Protagonisten gelebt, geliebt, gelitten. Allein die Szene, in der die junge Eilis einen Badeanzug fürs erste Rendezvous kaufen will, ist das Lesen wert.

Der eine macht zu blass, der andere zu dicke Oberschenkel, der dritte ist zu freizügig. Tóibín hat tief in die Frauenseele geschaut. Und nicht nur in sie. Er berichtet davon, wie es ist fremd zu sein. An zwei, nicht an einem Ort, eine grundlegende Erfahrung aller Emigranten. Ein Emigrant hat nicht die alte Heimat verloren, sondern keine neue Heimat gewonnen, sagte Stefan Zweig. „Brooklyn“ ist ein zartes Buch. Von einer Wehmut, die das Herz erwärmt. Umhüllt von feinem Humor. Und das Ende ist zum Glück … Der Film nun zerkocht das Gemüt. Wo Tóibín subtil und zwischen den Zeilen das Schicksal irischer und italienischer Auswanderer in die USA der 1950er Jahre gesellschaftskritisch durchleuchtet, setzt Crowley auf Nostalgie und deren zauberhaft schöne Bilder. Sein „Brooklyn“ erscheint als ahistorische Fantasie in güldenem Sonnenschein. Koreakrieg und Kommunistenhetze? Das muss anderswo gewesen sein.

Tóibín erzählt eine einfache Geschichte. Das irische Mädchen Eilis Lacey geht, weil es daheim keine Arbeit und ergo keine Zukunft gibt, nach New York. Das heißt, sie wird von der Mutter, ihrer Schwester und vom Herrn Pfarrer verpflanzt, soll sie doch monatlich Geld an die Lieben nach Hause schicken. Sie wird in einer Pension für junge Frauen untergebracht und der Obhut eines irischen Priesters überantwortet. Sie nimmt eine Arbeit in einem Modekaufhaus an, in dem bald die ersten schwarzen Frauen shoppen werden, sie geht in den Buchhaltungskurs der Abendschule, sie nimmt an den Aktivitäten der katholischen Gemeinde teil. Sie geht nur zögerlich zum Tanz, bei dem sich einige Italiener unter die Iren mischen. Und sie verliebt sich. In den Italo-Amerikaner Tony, der in der Neuen Welt bereits große Pläne geschmiedet hat. Eine Familie, ein Geschäft, ein bisschen Wohlstand, davon träumt der Sizilianer. Eilis zögert. Lange. Und weil ein schreckliches Unglück geschehen ist, muss sie zurück nach Hause. Wo sie erkennt, dass sie nicht mehr zu Irland, sondern, wenn schon nicht zu den USA, doch immerhin zu Tony gehört.

Zu einer einfachen Geschichte gehören komplizierte Gefühle. Tóibín nähert sich ihnen aus Eilis‘ Perspektive. Leise, ohne Pathos, aber mit großer Präzision, entfaltet er ein Menschenleben im Transit. Eines, dessen Körper schon „da“ ist, dessen Geist und Seele aber noch „dort“ sind. Wie modern das dieser Tage wieder erscheint, dieses Thema Migration, dieses nicht Ankommen im Angekommensein. In Brooklyn ist Eilis ein Niemand, ohne Freunde und Familie, ohne Erinnerungen an Orte oder Menschen, ein Gespenst, dem nichts etwas bedeuten kann, weil es nichts wiedererkennt. Trist ist das. Doch Leben wehrt sich. Und in einer der schönsten Szenen im Buch schildert der Autor den Aufbruch zum bunten Abend im Pfarrhaus, die erste Begegnung der strenggläubigen Irin mit den flotten, lebenslustigen und, ja, ein wenig vom Rotwein angesäuselten Italienern. Wo Menschen sind, ist Hoffnung, heißt das. Gemeinsam feiern bringt die Leute zusammen. Egal, aus welchem Land sie ursprünglich kommen mögen, wo gelacht wird, öffnet sich die Welt.

Dem allen spürt der Film in seiner Weise nach, versteht es jedoch nicht Eilis‘ Coming-of-Age-Geschichte in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Talent und Charme sind den Hauptdarstellern Saoirse Ronan als Eilis und Emory Cohen als Tony zwar nicht abzusprechen, aber ihre beiden Rollen zerlaufen in einer von Nick Hornby verschuldeten Bedeutungslosigkeit. Was im Falle Eilis‘ besonders schmerzt, gibt es doch ohnedies wenig Stoffe, die aus weiblicher Sicht erzählt werden. Hier steht die Frauenfigur für nichts außer sich selbst – und nicht einmal das in irgendeiner Weise charakteristisch. Sie ist weder Spiegel ihrer Zeit noch deren Gegenentwurf, sondern in manchen Fällen einfach eine Trutschn, etwa wenn Spaghetti als das unbekannte Nahrungsmittel zu beträchtlichen Wickeln führen. Bei Tóibín, im Kontext der irisch-italienischen Annäherung, liest sich das weniger peinlich. Doch das Unbekannte mit Eilis Augen zu erkunden, interessierte die Filmemacher offenbar nicht. Crowleys konventionell-angestaubter Blick ruht vielmehr leicht abschätzend auf ihr. Der Regisseur setzt auf Ausstattung statt auf Tiefe. Nach und nach werden die Bilder bunter, die Kleider modischer … das ist zu schlicht und harmlos. Nur weil einem Tóibín das Abgründige nicht um die Ohren schmeißt, bedeutet es nicht, dass es in seinem Buch nicht existiert.

Zum Glück weiß Saoirse Ronan, wie man einen Film trägt. Ihre Leinwandpräsenz ist phänomenal. Von „Abbitte“ bis „Grand Budapest Hotel“ hat sie sich ihre erste Hauptrolle verdient erarbeitet, nun ist ihr reduziertes Auftreten, ihr leichtes, intelligentes Spiel das Beste am Film und das Beste für Colm Tóibín. Ihretwegen braucht man sich nicht zu scheuen, sich der Kino-Romanze hinzugeben. Wie sich ihre Eilis vom zurückhaltenden Mauerblümchen zur selbstbewussten jungen Frau mausert ist allemal sehenswert. Kitsch? Kitsch ist keine Kategorie. Aber Ronan ist eine würdige Oscar-Kandidatin.

Buchtipp: Hanser Verlag, Colm Tóibín: „Brooklyn“, Roman, 304 Seiten. Übersetzt aus dem Englischen von Giovanni Bandini und Ditte Bandini. www.hanser-literaturverlage.de

www.fox.de/brooklyn

Wien, 21. 1. 2016