Theater in der Josefstadt: Anna Karenina

September 2, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Unterkühlte Erotik auf dem Eislaufplatz

Der Josefstädter Eislaufverein: Alexandra Krismer, Alexander Absenger, Alma Hasun, Claudius von Stolzmann und Silvia Meisterle. Bild: © Moritz Schell

Zum Auftakt der Wiener Theatersaison hat Regisseurin Amélie Niermeyer, die 2019 mit ihren Ideen zu Tschechows „Kirschgarten“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=36654) am Haus so großartig reüssierte, fürs Theater in der Josefstadt „Anna Karenina“ inszeniert – immerhin mit dem Vermerk „nach Leo Tolstoi“, in einer Fassung von Armin Petras, die Niermeyer um ihr spannend erscheinende Aspekte aus

dem 1000-Seiten-Weltliteratur-Wälzer ergänzte. Das Ergebnis, bei der gestrigen Premiere präsentiert, ist … so lala, oder positiver formuliert: Ein Abend, auf den man sich einlassen wollen muss, doch selbst wenn’s wie hier am guten Willen nicht fehlte, sind die drei Stunden Spieldauer sehr lang. Längen die gar nicht notwendig wären, würde Niermeyer auf mehr Energie und weniger elegische Überdehnung der Szenen setzen. Das Ensemble dafür hätte sie allemal an der Hand, nur dass dieses im auch schon überstrapazierten Mix aus Dialog/direkter Rede, innerem Monolog und epischem Erzählton in der dritten Person in seltenen Momenten zum Spielen kommt.

Eine Kunst ist es jedenfalls, Tolstois 29-köpfiges Gesellschaftspanorama auf ein Acht-Personen-Kammerspiel zu reduzieren. Niermeyer konzentriert sich auf die Beziehungen zwischen Anna Karenina, Alexej Karenin und Alexej Wronski, den die Aberkennung der Offizierswürde zum hauptberuflichen Erben mit Rich-Kid-Anwandlungen degradiert, Stepan und Dascha Oblonskij, die beiden alles andere als ein Fürstenpaar, sondern biedere Mittelstandspleitiers, sowie Daschas Schwester Kitty mit Verehrer Kostja Ljewin.

Letzteren hat Niermeyer als ihren Spokesman deutlich aufgewertet, der Sozialrevolutionär ist es, der sich über „Das Kapital“-Themen wie Neuordnung von Besitzverhältnissen und Gerechtigkeit für die Arbeiterklasse auslassen darf, ein ewig Zweifelnder und unablässig Sinnsuchender, wobei ihm Niermeyer laut Programmheft-Interview gleich auch noch die CoV19-Pandemie samt nihilistischen Todesfantasien und Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine zum Theoretisieren mit auf den Weg gibt. Dass ausgerechnet dieser Gutsbesitzer Lewin mit seinen Plänen zur Reformierung der Landwirtschaft an der Trägheit des Bauernstands scheitert, mag als Fingerzeig auf bevorstehende Wahlen gedeutet werden.

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Mit diesem ersten Satz Tolstois beginnt auch Niermeyer, der Text läuft über einen semitransparenten Vorhang, bis der sich hebt und man sich auf einem Eislaufplatz wiederfindet. Auf diesem – wie sich bald herausstellen wird – dünnen Eis dreht der Josefstädter Schlittschuhverein seine Kreise: Alexander Absenger als depressiv-tollpatschiger Philosoph Lewin, der sich von Alma Hasuns exaltierter Hyper-Hyper-Kitty einen Korb holt, weil die Eisprinzessin den Wronski liebt, Claudius von Stolzmann, der sich mit einer Pirouetten-Drehung aus der Dreier-Situation nimmt, nur um jetzt mit einem Doppeldreier aufzukommen: Anna Karenina, die auf dem Bahnsteig steht.

Silvia Meisterle, Cornelius Bruckmann, Raphael von Bargen. Bild: © M. Schell

Silvia Meisterle und Claudius von Stolzmann. Bild: © Moritz Schell

Silvia Meisterle und Claudius von Stolzmann. Bild: © Moritz Schell

Als diese zeigt Silvia Meisterle eine ihrer besten Leistungen bisher, ihre Karenina ist modern, mondän, ausgestattet mit der zynisch-unterkühlten Erotik einer Femme fatale. Mit ihrem Trolley könnte sie glatt als Businessfrau anno 21. Jahrhundert durchgehen, längst hat sie an Karenins Seite gelernt ihre Emotionen auf Eis zu legen, und dann ist da plötzlich einer, der das Eis crushen will. Diese Anna ist mehr Schwester von Nora oder Hedda Gabler als eine der Russinnen ihrer Zeit. Zu dieser Anna passt, dass Niermeyer unter Verwendung der Neuübersetzung von Rosemarie Tietze den Frauenfiguren Textpassagen, die im Original von Männern gesprochen werden, von ihr so genannte „inhaltlich relevante Passagen“ zuschreibt.

Zu den zeitgenössischen Outfits von Christian Schmidt hat Bühnenbildnerin Stefanie Seitz in Rechtecke unterteilte Wände erdacht, die verschiedenfarbig beleuchtet werden können, mitunter lässt sich ein häuslicher Wolkenstore gleich Gitterstäben herunter  – und um Rilkes Poem über Selbstentfremdung und Im-Kreise-Gehen zu bemühen: „hinter tausend Stäben keine Welt“. Auf der Bühne steht außerdem ein für Loops an einen Laptop angeschlossenes Keyboard, an dem Kitty die anderen mit ihren „Kompositionen“ quält, Imre Lichtenberger Bozokis eigens für die Aufführung geschaffene Musik erklingt, oder auch mal „Rasputin“ von Boney M., Schostakowitsch und Chick Coreas „Childrens’s Song No.6“ – gespielt von Raphael von Bargen als berührend gequältem Karenin.

Auch diesen hat Niermeyer in ein interpretatorisch neues Gewand gehüllt, der Charakter oft als spießiger und engstirniger Aktenvernichter gelesen, ist bei ihr ein sympathischer, dessen fatale „Sünde“ es ist, zu lange zuzuwarten: „Durchdenken, entscheiden, ad acta legen“, auch dieses Motto eines Staatsdieners hochaktuell. Doch lässt er sich erst noch von Sohn Serjoscha, Cornelius Bruckmann, im Holzschwerter-Duell auf lustigeste Art besiegen, lässt er alsbald seinen Frust an dem Buben aus, der daraufhin zum seelischen Krüppel mutiert, während der Vater am Sorgerechtsstreit zerbricht. Ach ja, die russischen Neurosenkriege!

Alexandra Krismer und Alma Hasun. Bild: © Moritz Schell

Alexander Absenger und Alma Hasun. Bild: © Moritz Schell

Robert Joseph Bartl als „Tanzmeister“. Bild: © Moritz Schell

Auch Kittys Unglücksball findet als Holiday on Ice statt, zu „Stepan“ Robert Joseph Bartls Anweisungen als „Tanzmeister“ wird sich zur Quadrille in Pose geworfen. Bartl kommt die Aufgabe als fröhlichem Hedonisten zu, der um sein Ablaufdatum weiß. Stepan ist einer, der den unfairen Bonus und die Privilegien seiner gewichtigen Position mit Vergnügen und ohne Skrupel genießen will, und glaubhaft erzählt Alexandra Krismer von einer Frau, Dascha, die einzig wegen der sechs Kinder beim notorischen Fremdgeher und gleichzeitigem Pantoffelheld bleibt, und seit langem an ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter ver-/zweifelt.

Das alles wird mehr geschildert denn gespielt. Das große Problem des Abends ist, man hört, aber man fühlt nicht. Weder, dass Anna wie angesagt zum ersten Mal Liebe, Lust und Leidenschaft erfährt, ihr Inneres scheint kalt und leer bis zum bitteren Ende, noch dass mit Wronski endlich befriedigender Sex im Spiel ist – trotz nackter Umarmung. Dass Claudius von Stolzmann Umberto Tozzis „Gloria“ zu einem Karaoke-„Anna Wronskaja“ umdichtet, wird zwar mit Szenenapplaus bedacht, aber bitte wieso wird diese Figur mit allerlei Schnickschnack so verjuxt? Warum sich Anna und Wronski am Schluss bis aufs Blut entzweien, es geschieht so unvermittelt, dass es schleierhaft bleibt. Okay, er hat die Allüren dieser Frau endgültig satt, aber war da zwischen zwei Buchdeckeln nicht noch mehr Inhalt? So bleibt Annas Selbstzerstörungstrip im Eisenbahndampf nebulös.

In den zweifellos unterhaltsamen Passagen (Lewin wirft Heuballen auf die Bühne, dazu Quieken und Muhen im Stall Schwein und Kuh; später fragt Wronski im Wohnsalon irritiert: „Was machen eigentlich diese Heuballen hier?“) zerfasert die Inszenierung nach der Pause auch ästhetisch in zwei Teile: Plötzlich Videozuspielungen von Annas und Wronskis Europatrip, oligarchischer Großeinkauf von Kunst, Meisterles hysterisches Lachen eine Schmierenkomödie für von Stolzmann, ein Palais in Venedig, das nach erster Euphorie über die Kronleuchter – der der Josefstadt senkt sich – schnell als modrig stinkend wahrgenommen wird. (Der Anna traumatisierende Tod der gemeinsamen Tochter Annie ist weniger als eine Fußnote.) Also zurück: Nach Moskau! Nach Moskau! In die Gefühlskälte. Wo Anna wiederum via Video von Spukbildern Karenins, Wronkis und Serjoschas heimgesucht wird. Der Pas de deux auf Kufen ist ausgetanzt.

Dieser zweite Teil, wiewohl besser als der langatmige erste, zeigt: Es fehlt dem Ganzen an Stringenz und einheitlicher Linie. Man versteht Niermeyers Intentionen bezüglich Zeitlosigkeit, betreffs schneidend klar wie Firn, aber der große Zusammenhang, der große Wurf gelingt ihr mit dieser frostigen Regiearbeit nicht. Vielmehr verheddert sich Niermeyer auf ihrer Suche nach einer so aktuellen wie allgemeingültigen Aussage in den „Liebesg’schichten und Heiratssachen“ statt aus Tolstois Meisterwerk eine wirkmächtige Essenz zu destillieren. In der Josefstadt kommt nach dem unvermeidlichen Zug noch der große Regen. Auch im Roman wird nach Annas Freitod 80 Seiten lang das Weiterleben der anderen beleuchtet: Kitty und Lewin lassen ihren Sohn Mitja taufen. Und trotz des schweren Gewitters schließt Kitty mit dem Satz: „Überhaupt war der ganze Tag so angenehm.“ Tja, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben …

www.josefstadt.org

  1. 9. 2022

Kammerspiele: Was ihr wollt

April 28, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Weil ich ein Mädchen bin …

Helden in Strumpfhosen: Markus Kofler, Matthias Franz Stein, Alexander Strömer, Dominic Oley, Tamim Fatal, Ljubiša Lupo Grujčić. Bild: © M. Schell

Wer hätte gedacht, dass sich im Josefstädter Ensemble derart viele herrliche Dragqueens verstecken? Auf die man noch dazu nur neidisch sein kann, weil – nackte Männerbrust hin oder her – wow, gibt es da sexy Beine zu sehen … In den Kammerspielen der Josefstadt zeigt Regisseur Torsten Fischer Shakespeares „Was ihr wollt“ in (bis auf Maria Bill als melan- cholischem Clown) männlicher Besetzung. Der Kniff passt zum britischen Barden, durfte doch zu dessen Lebzeiten keine Frau auf den Brettern, die die Welt bedeuten, stehen. Fischers gemeinsam mit Herbert Schäfer erstellte modernisierte Textfassung sprüht nur so vor Bonmots und Pointen.

Ist an den passenden Stellen derb, an den richtigen elegisch. Die Darsteller scheuen mitunter auch vor tief aus der Klamottenkiste geholtem Klamauk nicht zurück, und sind in ihrem Spiel in dieser irrwitzig wortwitzigen Romantic Comedy dergestalt stark, dass selbst ein gutgetrimmter Dreitagebart der Illusion keinen Schaden zufügen kann. Und wenn’s die Helden in Strumpfhosen gar zu bunt treiben, unterbricht die Bill als Botin aus einem weniger leichten Leben in den hochemotionalsten Momenten und singt Astor Piazzola.

„Rinascerò“ nach dem mit Tamim Fattal und Ljubiša Lupo Grujčić mehrsprachig erlittenem Schiffbruch, „Los Pájaros Perdidos“ wenn Herzen brechen, „Oblivion“ hat sie selbst übersetzt. Tango Argentino, Tango Nuevo, Musik vom Rio de la Plata, die hier Krzysztof Dobrek am Akkordeon und der Geiger Aliosha Biz alternierend mit Nikolai Tunkowitsch interpretieren. Allein diese Augenblicke sind den Besuch der Vorstellung wert und wurden vom gestrigen Publikum auch mit Szenenapplaus bedankt.

Die Handlung ist tatsächlich sehr geschlechterfixiert: In Illyrien schmachtet Herzog Orsino nach der Hand der Gräfin Olivia, die sich jedoch in der Trauer um den hingeschiedenen Vater und Bruder ergeht. Da stranden die Zwillinge Viola und Sebastian an der Küste, allerdings im jeweiligen Glauben das andere Geschwister sei ertrunken. Viola verkleidet sich als Jüngling „Cesario“ und tritt in die Dienste Orsinos. Beauftragt mit dessen Liebeswerben entbrennt Olivia für den „jungen Mann“.

Rehrl, Niedermair und von Stolzmann. Bild: © Moritz Schell

Ach, armer Rehrl! – Ich kannte ihn: Mit Clownin Maria Bill. Bild: © Moritz Schell

Dick und Doof: Robert Joseph Bartl und Matthias Franz Stein. Bild: © M. Schell

Alldieweil versuchen Olivias Onkel und Trunkenbold Sir Toby und Kammerkätzchen Maria den um Olivia werbenden, reichen, aber dümmlichen Sir Andrew auszusackeln; der Olivia besitzen und die Schluckspechte ausmerzen wollende Haushofmeister Malvolio wird per Intrige zum Narren gemacht, Stichwort: Komm‘ im gelben Höschen, dann zeig ich dir mein Möschen. Sebastian erscheint. Orsino und Olivia fighten um den schönen Knaben, der sich zum Glück als zwei vom jeweils angemessenen Sexus entpuppt. Ende gut, Torsten Fischer, denn der Regisseur demontiert die altväterische Ordnung. Immerhin Sir Toby heiratet Maria. Das alles ereignet sich auf der reinweißen Bühne der Ausstatter Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos. Vorne gibt es einen Spalt für freiwillige und unfreiwillige Abgänge.

Julian Valerio Rehrl spielt niemals travestiehaft, sondern subtil Viola/“Cesario“ und Sebastian, als zweiterer ein burschikoser Haudrauf, als erstere von einer Delikatheit und Zartheit, die nicht nur den Herzog verwirrt. Als solcher bleibt Claudius von Stolzmann hinter seinen Möglichkeiten, die blass geschminkten Gesichter müssen ja nicht in ebensolches Agieren ausarten, mag aber auch sein, dass man von seinem fulminanten Mackie Messer immer noch in der Weise eingenommen ist, dass jede andere Rolle dagegen bis auf Weiteres …

Claudius von Stolzmann, Julian Valerio Rehrl. Bild: © M. Schell

Die Schiffbrüchigen, Mi.: Rehrl als Viola. Bild: © Moritz Schell

Martin Niedermair als liebestrunkene Olivia. Bild: © Moritz Schell

Dominic Oley als verhöhnter Malvolio. Bild: © Moritz Schell

Martin Niedermair ist ganz großartig als beständig am Rande der Hysterie wankende Olivia, die Lady ein Fashion Victim im schwarzen Reifrock und mit extravaganten Hüten – und in Strapsen hinreißend! Alexander Strömer gibt lustvoll die rachsüchtige Kammerzofe Maria (im Rockabilly-Kleid), die mit Sir Toby, Sir Andrew und Ljubiša Lupo Grujčić als Diener Fabian jenen sinistren Plan gegen Malvolio schmiedet. Wobei Robert Joseph Bartl als nie nüchterner Sir Toby und Matthias Franz Stein als „Ich will nach Hause“ wimmernder Sir Andrew als Doubles von Laurel und Hardy – inklusive Saloontänzchen zu „Jerusalema“ – auftreten: Zwei Herren dick und doof. „Er liebt Verkleidungen und Rollenspiele“, sagt Sir Toby über Sir Andrew. Na dann.

Fischer versteht es, Shakespeare zu aktualisieren, ohne sich zu weit von ihm zu entfernen und doch überkommene Geschlechterrollen aufzuzeigen. Bisexualität auszuleben ist in dieser Welt kaum mehr kontroversiell, dagegen kann man als Mann immer noch misogyne Frauenbilder propagieren. Ein Beispiel: Nicht einmal die frauenfeindliche Tirade des Herzogs  – „Frauen haben kleinere Herzen als Männer“ – kann Violas Gefühle trüben. Allein für Orsino dauert es etwas länger, sich diese einzugestehen, muss er sich doch damit abfinden, sich vermeintlich in einen Mann verliebt zu haben.

Alexander Strömer als Kammerzofe Maria, Bartl und Stein. Bild: © M.Schell

Szenenapplaus: Die Bill singt Astor Piazzolla. Bild: © Moritz Schell

Mit gefälschtem Brief getäuscht: Dominic Oley als Malvolio. Bild: © Moritz Schell

Wer darf wen wie berühren? Was darf wer zu wem sagen? „Ich glaub, du musst mal wieder flachgelegt werden“, meint Sir Toby zu Nichte Olivia – das klingt von einem an den anderen männlichen Schauspieler adressiert schon ganz anders. Zu all diesen Irrungen und Wirrungen gehört ebenso Markus Koflers Seemann Antonio, der Sebastian rettete und bei Fischer als Flüchtlingsschlepper auftritt. Anno 2022 haben Liebeschwüre, Umgarnungen und Küsse zwischen Männern einen anderen, Vienna-Pride-Subtext als vielleicht ums Jahr 1600.

„Ich konnt‘ Euch so nicht lassen: mein Verlangen, / Scharf wie geschliffner Stahl, hat mich gespornt, / Und nicht bloß Trieb zu Euch / Auch Kümmernis, wie Eure Reise ginge … / Bei diesen Gründen / Der Furcht ist meine will’ge Liebe Euch / So eher nachgeeilt!“, so Antonio. Bleibt als einziger Vertreter toxischer Männlichkeit Dominic Oley als moralinsaurer, alsbald um Contenance ringender Malvolio, als der sich Oley jede nur denkbare Blöße gibt. Und immer wieder fällt, von verschiedenen Figuren gesagt, ein: Macht doch, was ihr wollt. Fazit: Das Publikum, darunter zwei Reihen ukrainischer Schülerinnen und Schüler, lachte bis beinah das Zwerchfell barst. Empfehlung: Schauen Sie sich das an!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=QI9FYFf0bQQ           www.josefstadt.org

28. 4. 2022

Kammerspiele: Die Dreigroschenoper

September 6, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Bill, der Pate und der Batman-Bad Man

Der Pate von Soho: Herbert Föttinger als Jonathan Jeremiah Peachum. Bild: © Moritz Schell

Über Laufstege eilt sie, die Gesellschaft, die „ehrenwerte“; 2004, als Herbert Föttinger der Mackie Messer war, hielt Hans Gratzer dem Josefstadt- publikum noch den weiland sehr en voguen Riesen- zerrspiegel vor, nun setzt Torsten Fischer auf Frack und Zylinder. Man versteht sein Die-sind-Wir, die Verhältnisse, sie sind schon so. „Geschäfts- leute“ stellen sich schließlich nach wie vor bei „Bettlers Freund“ zum Postenschacher um die besten Plätze an.

Bert Brechts zynische Kapitalismus-Satire trifft auch nach beinah 100 Jahren noch ins Schwarze … In den Kammerspielen der Josefstadt war nach der ORF III-Ausstrahlung im Frühjahr nun endlich die Bühnenpremiere seiner „Dreigroschenoper“, und man sollt’s nicht glauben, dass etwas das bereits via Bildschirm perfekt war, noch perfekter gearbeitet werden konnte. Endlich hautnah am Ensemble dran, agiert dieses, dass es einem unter die Haut fährt, bis sich die Haare aufstellen. Wer sich zurzeit für eine Theaterkarte entscheiden muss, sollte es unbedingt eine für diese Aufführung sein lassen.

Auftritt aus dem Nebel ein finsterer Föttinger, Jonathan Jeremiah Peachum, angetan als der Pate von Soho, in Nadelstreif samt roter Nelke, ausgestattet mit der Verschmitztheit des ewigen Siegers und einer süffisanten Überheblichkeit, doch lässt er erst der Dame den Vortritt. Der Brecht’schen Grande Dame Maria Bill, die „Die Moritat von Mackie Messer“ anstimmt, mit dunklem Timbre und eindrücklicher Performance, einem bestechenden Balanceakt zwischen Gassenhauer und dissonanten Tönen. Bis sich der Song zum Chorstück steigert, des Hauses hochmusikalisches Ensemble packt einen in der Minute am Schlafittchen, und klar wird, wie sich die folgenden fast drei Stunden gestalten werden: schaustellerisch, kakophonisch, expressiv, mit einem Wort: angemessen schiach.

Punkto Besetzung weiß der Bühnenhit zu brillieren. Nicht nur Herrn Direktors Big Boss Peachum möchte man eine Paraderolle nennen; die Bill hat als Celia so viel Feuer wie deren glutrote Perücke, Bill verleiht Frau Peachum eine schlampig-anlassige Eleganz, wenn sie vom neuen Schwiegersohn schwärmt oder die Bettlerkolonne an die Kandare nimmt. Der Anstatt-dass-Song ist das erste von etlichen Highlights. Bill und Föttinger sind ein Traum-Gauner-Paar, er kann zu ihrer Tonlage wunderbar terzeln, sie hat unter der giftgrünen Kunstpelzstola mutmaßlich jene gleichfarbige Peitschennatter versteckt, deren Zähne sie ausfährt, falls die „Gentlemen“ des Gatten oder die Turnbridge-Huren nicht spuren. Die Bill zeigt sich als die großartige Komödiantin, die sie ist. Darauf hat Torsten Fischer nicht vergessen, dass der alte Zigarrenraucher auch Humor hatte.

Claudius von Stolzmann und Swintha Gersthofer. Bild: © Moritz Schell

Claudius von Stolzmann als „Joker“ Macheath. Bild: © Moritz Schell

Familie Peachum: Maria Bill, Föttinger und Gersthofer. Bild: © Moritz Schell

Mit exakter Personenführung und seiner Feinziselierung aller Figuren unterfüttert Fischer die Original-Urtypen, bis in die kleinsten Rollen, die es, man sieht’s an diesem Beispiel, bekanntlich nicht gibt. An der Josefstadt mag man sich diesen Luxus leisten, Ljubiša Lupo Grujčić als Hakenfingerjakob, Markus Kofler als Sägerobert, und von Hollywood zurück im achten Hieb, wo auf ihn hoffentlich bald größere Aufgaben warten: Publikumsliebling Marcello De Nardo hinreißend als affektiert schwuler, Lachs futternder Hochwürden Kimball, De Nardo, dessen Part über den Sommer deutlich aufgewertet wurde. Mit dabei, und das freut besonders, auch wieder Tamim Fattal, der 2015 von Syrien nach Österreich geflüchtete junge Schauspieler, als Jimmy.

Der Spielmacher, tatsächlich der „Joker“, ist Claudius von Stolzmann als Macheath, dem zu kreideweißer Fratze, totem Auge und blutrotem Mund nur der violette Schwalbenschwanz fehlt. Spazierstock trägt er, Peachums Erzkonkurrent um die entrischen Gründe – und von Stolzmann spielt ihn gefährlich lauernd, leise seine Kreise ziehend und blitzschnell zuschnappend als den eingangs besungenen Killer und Kinderschänder. Sein – nicht nur per Bruderkuss auf eine homoerotische Leibeigenschaft verweisender – Dreamteam-Partner ist Dominic Oley als Polizeichef Tiger Brown. Dieser wahrlich kein Raubtier in der Höhle des Löwen, sondern ganz Orden-behangene Noblesse oblige, die Männerfreundschaft verpflichtet sowieso, und derweil die Kameraden Mackie und Jackie den Kanonensong singen, kriegt man Otto Dix nicht aus dem Kopf.

Für die fünfzehn auf der Kammerspiel-Fläche agierenden Künstlerinnen und Künstler haben die Ausstatter Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos eine gewitzte Raumlösung gefunden: die schon erwähnten schrägen Stege, die eine Vielzahl von Auftritts-, Abgangs-, Möglichkeiten zum „Untertauchen“ und Gelegenheiten für die durchchoreografierten Massenszenen bieten. Darunter, dazwischen, im Souterrain, aus dem mitunter die Unterwelt ans Zwielicht quillt, spielt unter der musikalischen Leitung von Christian Frank die Kapelle auf – die Jazzelite Herb Berger, Alois Eberl, Rens Newland, Martin Fuss, Andy Mayerl, Christina-Stürmer-Schlagzeuger Klaus Pérez-Salado, Florian Reithner am Harmonium und last, but not least Trompeter Simon Plötzeneder.

Die Brecht’sche Grande Dame in Frack und Zylinder: Maria Bill als Moritatensängerin. Bild: © Moritz Schell

Marcello De Nardo (li.) endlich wieder in Wien, Claudius von Stolzmann und Swintha Gersthofer. Bild: @ Moritz Schell

Ménage à Tr-ohlala: Swintha Gersthofer, Claudius von Stolzmann und Paula Nocker als Lucy, Bild: @ Moritz Schell

Dominic Oley als Tiger Brown, Queen Bill in Blassrosa und „Aerialist“ von Stolzmanns Füße. Bild: © Moritz Schell

Warum die frischangetraute Mrs. Macheath, Peachum-Tochter Polly, noch nicht erwähnt wurde? Jetzt kommt’s: Weil einem Swintha Gersthofer wahnsinnig auf die Nerven geht. Mit diesem mädchenhaften „Achtung: Klosterschülerin!“-Appeal, mit diesem Sauberfrau-Style im Hochkeitskleid, die höchsten Töne spitz-kierend, als wolle sie hier mit Operette Staat machen – alldieweil Hochwürden De Nardo die Comedian-Harmonists-Ganoven hold lächelnd anhimmelt.

Doch der Schein trügt. Swintha Gersthofer vermag es, die ihr anvertraute Polly zu verwandeln, wie’s keine andere Figur aus dem Brecht-Personal tut. Sie wird vom Gänschen zur gestrengen, geschäftstüchtigen „gnädigen Frau“ im Hosenanzug, und Gersthofer agiert dabei in einer Art, dass man sich fragt, ob die ganze Mackie-Verhaftung und Firmenübernahme nicht von vornherein ihr Eheplan war. Das Strippenziehen jedenfalls hat sie von Mama gelernt. Und gleich der Polly geht’s immer raffinierter voran, grotesker, grausamer, ein grausiges Grand Guignol. Die gutbürgerliche Fassade bröckelt, zu fadenscheinig war die bourgeoise Verkleidung, die Häfn-Tattoos und die Messerstecher-Narben werden bei nacktem Oberkörper buchstäblich entblößt.

Eben noch die Macheath-Gang nähern sich die Herren als nächstes als die weitherzigen Trans-Damen der Nacht, fulminant-fies Bill mit der „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“. Es schlägt die Stunde der Susa Meyer im „Bordell, das unser Haushalt war“. Hier ein schummrig-schäbiger Nightclub à la Kit-Kat, Spelunkenjenny Susa Meyer ein sündiges Prachtweib, eine Venus im Straps. Wie sie mit von Stolzmann die Zuhälterballade interpretiert, macht deutlich, dass Macheath weder Polly noch Lucy, sondern immer nur sie wollte, doch dass es in die Binsen gehen sollte.

Damencatchen: Swintha Gersthofer und Paula Nocker. Bild: @ Moritz Schell

Eine Venus im Straps: Susa Meyer als Spelunkenjenny. Bild: @ Moritz Schell

Salomonsong: Herbert Föttinger und Susa Meyer. Bild: @ Moritz Schell

Die „Seeräuber-Jenny“ gerät Susa Meyer zur nachtmahrischen Gesangsnummer, wie die Klabauterfrau singt sie: „Und wenn dann der Kopf fällt, sage ich Hoppla!“ Den Salomonsong hat sie sich mittlerweile ebenfalls zu eigen gemacht, bedeckt mit Peachums pelzverbrämtem Mantel wird sie von der Hure zur Heiligen, die Kurt Weills Song als von allen verhöhnte Schmerzensfrau und als Schauerlied darbringt. Die Geächteten, die Entrechteten von London, hier wird die Burlesque zum Seelen-Strip-Tease, der Lack ist ab, wie zuvor schon bei Peachums Bettlerbande. Nur der feine Herr Bandenführer im feinen Zwirn glaubt sich wieder mal fein raus …

Torsten Fischer hat die „Dreigroschenoper“ als starkes Frauenstück in Szene gesetzt. Während von Stolzmanns Macheath allen Stolz verloren hat, und – mit den Füßen zuoberst an den Galgen gebracht – die Vorbeidefilierenden um Hilfe anwinselt, Stolzmann dabei artistisch wie ein Aerialist, während Tiger Brown zum Witwenschleier (!) greift, erscheint eine letzte Kontrahentin um Gunst und Liebeskunst des teuflischen Verführers: Paula Nocker, Tochter von Maria Happel und Dirk Nocker bei ihrem Josefstadt-Debüt, als Lucy Brown, Tigers scheinbar hochschwangerer Sprössling – und wie sie mit Swintha Gersthofers Polly in den Infight geht, spöttelnd, irrwitzig, Mackie in der Mitte in Panik um sein „bestes Stück“, Paula Nockers Lucy hochdramatisch wie die di Lammermoor, das ist große Oper. Hinter den dicken Vorzugsschülerin-Brillengläsern ist diese Lucy zum Fürchten verrückt, und sagt Macheath: „Dir möchte ich mein Leben verdanken“, bangt man durchaus um ihn.

Der Schluss ist kurz, aber nicht scherzlos. Mit sinnbildlicher Schlinge um die Beine rezitiert von Stolzmann den Banken-Monolog, nur dass die, die heutzutag‘ eine Bank gründen, auch tief in deren Kasse greifen. Der reitende Bote bleibt einem optisch erspart, die Bill kommt als Queen in Blassrosa. „Und so kommt zum guten Ende /Alles unter einen Hut /Ist das nötige Geld vorhanden, /Ist das Ende meistens gut …“ Einige spitzzüngige Randbemerkungen über den Geld-/Wert von Kultur und deren diesbezüglichen Nöte treffen den Geschmack des enthusiasmierten Publikums, das den grandiosen Abend mit Standing Ovations bedankt. In diesem Sinne: Schaut euch das an! Könnt‘ ihr was lernen …

Erstveröffentlichung zur TV-Ausstrahlung: www.mottingers-meinung.at/?p=46602

Trailer: www.youtube.com/watch?v=IsbuVtCFo2U           www.josefstadt.org

6. 9. 2021

Kammerspiele im ORF III-Stream: Die Dreigroschenoper

April 27, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Bill, der Pate und der Batman-Bad Man

Der Pate von Soho: Herbert Föttinger als Jonathan Jeremiah Peachum. Bild: © Moritz Schell

Über Laufstege eilt sie, die Gesellschaft, die „ehrenwerte“; 2004, als Herbert Föttinger der Mackie Messer war, hielt Hans Gratzer dem Josefstadt- publikum noch den weiland sehr en voguen Riesen- zerrspiegel vor, nun setzt Torsten Fischer auf Frack und Zylinder. Man versteht sein Die-sind-Wir, die Verhältnisse, sie sind schon so. „Geschäfts- leute“ stellen sich schließlich nach wie vor bei „Bettlers Freund“ zum Postenschacher um die besten Plätze an.

Bert Brechts zynische Kapitalismus-Satire trifft auch nach beinah 100 Jahren noch ins Schwarze … Aus den Kammerspielen der Josefstadt zeigte ORF III im Rahmen der Romy-nominierten Reihe „Wir spielen für Österreich“ die Fernsehpremiere der „Dreigroschenoper“; Torsten Fischers Inszenierung ist bis Samstag in der ORF-TVthek: tvthek.orf.at zu sehen.

Auftritt aus dem Nebel ein finsterer Föttinger, Jonathan Jeremiah Peachum, angetan als der Pate von Soho, in Nadelstreif samt roter Nelke, ausgestattet mit der Verschmitztheit des ewigen Siegers und einer süffisanten Überheblichkeit, doch lässt er erst der Dame den Vortritt. Der Brecht’schen Grande Dame Maria Bill, die „Die Moritat von Mackie Messer“ anstimmt, mit dunklem Timbre und eindrücklicher Performance, einem bestechenden Balanceakt zwischen Gassenhauer und dissonanten Tönen. Bis sich der Song zum Chorstück steigert, des Hauses hochmusikalisches Ensemble packt einen in der Minute am Schlafittchen, und klar wird, wie sich die folgenden zweieinhalb Stunden gestalten werden: schaustellerisch, kakophonisch, expressiv, mit einem Wort: angemessen schiach.

Punkto Besetzung weiß der Bühnenhit zu brillieren. Nicht nur Herrn Direktors Big Boss Peachum möchte man eine Paraderolle nennen; die Bill hat als Celia so viel Feuer wie deren glutrote Perücke, Bill verleiht Frau Peachum eine schlampig-anlassige Eleganz, wenn sie vom neuen Schwiegersohn schwärmt oder die Bettlerkolonne an die Kandare nimmt. Der Anstatt-dass-Song ist das erste von etlichen Highlights. Bill und Föttinger sind ein Traum-Gauner-Paar, er kann zu ihrer Tonlage wunderbar terzeln, sie hat unter der giftgrünen Kunstpelzstola mutmaßlich jene gleichfarbige Peitschennatter versteckt, deren Zähne sie ausfährt, falls die „Gentlemen“ des Gatten oder die Turnbridge-Huren nicht spuren. In Großaufnahme zeigt sich die Bill als die großartige Komödiantin, die sie ist. Darauf hat Torsten Fischer nicht vergessen, dass der alte Zigarrenraucher auch Humor hatte.

Claudius von Stolzmann und Swintha Gersthofer. Bild: © Moritz Schell

Claudius von Stolzmann als „Joker“ Macheath. Bild: © Moritz Schell

Familie Peachum: Maria Bill, Föttinger und Gersthofer. Bild: © Moritz Schell

Mit exakter Personenführung und seiner Feinziselierung aller Figuren unterfüttert Fischer die Original-Urtypen, bis in die kleinsten Rollen, die es, man sieht’s an diesem Beispiel, bekanntlich nicht gibt. An der Josefstadt mag man sich diesen Luxus leisten, Ljubiša Lupo Grujčić als Hakenfingerjakob, Markus Kofler als Sägerobert, und von Hollywood zurück im achten Hieb, wo auf ihn hoffentlich bald größere Aufgaben warten: Publikumsliebling Marcello De Nardo als Hochwürden Kimball.

Der Spielmacher, tatsächlich der „Joker“, ist Claudius von Stolzmann als Macheath, dem zu kreideweißer Fratze, totem Auge und blutrotem Mund nur der violette Schwalbenschwanz fehlt. Spazierstock trägt er, Peachums Erzkonkurrent um die entrischen Gründe – und von Stolzmann spielt ihn gefährlich lauernd, leise seine Kreise ziehend und blitzschnell zuschnappend als den eingangs besungenen Killer und Kinderschänder. Sein – nicht nur per Bruderkuss auf eine homoerotische Leibeigenschaft verweisender – Dreamteam-Partner ist Dominic Oley als Polizeichef Tiger Brown. Dieser wahrlich kein Raubtier in der Höhle des Löwen, sondern ganz Orden-behangene Noblesse oblige, die Männerfreundschaft verpflichtet sowieso, und derweil die Kameraden Mackie und Jackie den Kanonensong singen, kriegt man Otto Dix nicht aus dem Kopf.

Für die mehr als zwanzig auf der Kammerspiel-Fläche agierenden Künstlerinnen und Künstler haben die Ausstatter Herbert Schäfer und Vasilis Triantafillopoulos eine gewitzte Raumlösung gefunden: die schon erwähnten schrägen Stege, die eine Vielzahl von Auftritts-, Abgangs-, Möglichkeiten zum „Untertauchen“ und Gelegenheiten für die durchchoreografierten Massenszenen bieten. Darunter, dazwischen, im Souterrain, aus dem mitunter die Unterwelt ans Zwielicht quillt, spielt unter der musikalischen Leitung von Christian Frank die Kapelle auf – die Jazzelite Herb Berger, Rens Newland, Martin Fuss und Andy Mayerl, Christina-Stürmer-Schlagzeuger Klaus Pérez-Salado und last, but not least Trompeter Simon Plötzeneder.

Die Brecht’sche Grande Dame in Frack und Zylinder: Maria Bill als Moritatensängerin. Bild: © Moritz Schell

Marcello De Nardo (li.) endlich wieder in Wien, Claudius von Stolzmann und Swintha Gersthofer. Bild: @ Moritz Schell

Ménage à Tr-ohlala: Swintha Gersthofer, Claudius von Stolzmann und Paula Nocker als Lucy, Bild: @ Moritz Schell

Dominic Oley als Tiger Brown, Queen Bill in Blassrosa und „Aerialist“ von Stolzmanns Füße. Bild: © Moritz Schell

Warum die frischangetraute Mrs. Macheath, Peachum-Tochter Polly, noch nicht erwähnt wurde? Jetzt kommt’s: Weil einem Swintha Gersthofer wahnsinnig auf die Nerven geht. Mit diesem mädchenhaften „Achtung: Klosterschülerin!“-Appeal, mit diesem Sauberfrau-Style im Hochkeitskleid, die höchsten Töne spitz-kierend, als wolle sie hier mit Operette Staat machen – alldieweil Hochwürden De Nardo die Comedian-Harmonists-Ganoven hold lächelnd anhimmelt.

Doch der Schein trügt. Swintha Gersthofer vermag es, die ihr anvertraute Polly zu verwandeln, wie’s keine andere Figur aus dem Brecht-Personal tut. Sie wird vom Gänschen zur gestrengen, geschäftstüchtigen „gnädigen Frau“ im Hosenanzug, und Gersthofer agiert dabei in einer Art, dass man sich fragt, ob die ganze Mackie-Verhaftung und Firmenübernahme nicht von vornherein ihr Eheplan war. Das Strippenziehen jedenfalls hat sie von Mama gelernt. Und gleich der Polly geht’s immer raffinierter voran, grotesker, grausamer, ein grausiges Grand Guignol. Die gutbürgerliche Fassade bröckelt, zu fadenscheinig war die bourgeoise Verkleidung, die Häfn-Tattoos und die Messerstecher-Narben werden bei nacktem Oberkörper buchstäblich entblößt.

Die weitherzigen (auch Trans-)Damen der Nacht nähern sich, fulminant-fies Bill mit der „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“. Es schlägt die Stunde der Susa Meyer im „Bordell, das unser Haushalt war“. Hier ein schummrig-schäbiger Nightclub à la Kit-Kat, Spelunkenjenny Susa Meyer ein sündiges Prachtweib, eine Venus im Straps. Wie sie mit von Stolzmann die Zuhälterballade interpretiert, macht deutlich, dass Macheath weder Polly noch Lucy, sondern immer nur sie wollte, doch dass es in die Binsen gehen sollte.

Damencatchen: Swintha Gersthofer und Paula Nocker. Bild: @ Moritz Schell

Eine Venus im Straps: Susa Meyer als Spelunkenjenny. Bild: @ Moritz Schell

Salomonsong: Herbert Föttinger und Susa Meyer. Bild: @ Moritz Schell

Die „Seeräuber-Jenny“ gerät Susa Meyer zur nachtmahrischen Gesangsnummer, wie die Klabauterfrau singt sie: „Und wenn dann der Kopf fällt, sage ich Hoppla!“ Der Salomonsong ist nicht in jedem Ton ihrs, in Unterkleid und Unterziehhaube wird sie von der Hure zur Heiligen, die Kurt Weills Song als von Peachum verhöhnte Schmerzensfrau und als Schauerlied darbringt. Die Geächteten, die Entrechteten von London, hier wird die Burlesque zum Seelen-Strip-Tease, der Lack ist ab, wie zuvor schon bei Peachums Bettlerbande. Nur der feine Herr Bandenführer im feinen Zwirn glaubt sich wieder mal fein raus …

Torsten Fischer hat die „Dreigroschenoper“ als starkes Frauenstück in Szene gesetzt. Während von Stolzmanns Macheath allen Stolz verloren hat, und – mit den Füßen zuoberst an den Galgen gebracht – die Vorbeidefilierenden um Hilfe anwinselt, Stolzmann dabei artistisch wie ein Aerialist, während Tiger Brown zum Witwenschleier (!) greift, erscheint eine letzte Kontrahentin um Gunst und Liebeskunst des teuflischen Verführers: Paula Nocker, Tochter von Maria Happel und Dirk Nocker bei ihrem Josefstadt-Debüt, als Lucy Brown, Tigers hochschwangerer Sprössling – und wie sie mit Swintha Gersthofers Polly in den Infight geht, spöttelnd, irrwitzig, Mackie in der Mitte in Panik um sein „bestes Stück“, Paula Nockers Lucy hochdramatisch wie die di Lammermoor, das ist große Oper. Hinter den dicken Vorzugsschülerin-Brillengläsern ist diese Lucy zum Fürchten verrückt, und sagt Macheath: „Dir möchte ich mein Leben verdanken“, bangt man durchaus um ihn.

Der Schluss ist kurz, aber nicht scherzlos. Mit sinnbildlicher Schlinge um den Hals rezitiert von Stolzmann den Banken-Monolog, nur dass die, die heutzutag‘ eine Bank gründen, auch tief in deren Kasse greifen. Der reitende Bote bleibt einem optisch erspart, die Bill kommt als Queen in Blassrosa. „Und so kommt zum guten Ende /Alles unter einen Hut /Ist das nötige Geld vorhanden, /Ist das Ende meistens gut …“ Und gibt es etwas anzumerken, dann dass die von Filmregisseur André Turnheim gewählte Kameraperspektive nicht immer die optimalste war. Umso mehr freut man sich nun auf Live-Premiere.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=IsbuVtCFo2U           www.josefstadt.org

Bis Samstag zu sehen in der ORF-TVthek: tvthek.orf.at/profile/So-ein-Theater/13892206/So-ein-Theater-Wir-spielen-fuer-Oesterreich-Die-Dreigroschenoper/14090112

  1. 4. 2021

Kammerspiele: Monsieur Pierre geht online

Oktober 30, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der diskrete Charme des alten Grantscherm

Kongeniales Herrendoppel: Wolfgang Hübsch und Claudius von Stolzmann. Bild: Rita Newman

Ach, man ist ja sowieso befangen, weil man erstens den Film mit Pierre Richard schon so gemocht hat, und zweitens … Wolfgang Hübsch! An den Kammerspielen der Josefstadt brilliert dieser nun als Protagonist in „Monsieur Pierre geht online“, der Theateradaption jener französischen Filmkomödie, die Stéphane Robelin vor drei Jahren dem „großen Blonden“ auf den Leib schrieb (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=25662), und

Hübsch mit seinem Grantscherm-Charme ist einfach hinreißend. Wie er als Pierre über die Bühne tänzelt, wenn’s nach seinem Willen geht, wie den sein Rückenleiden immer dann ereilt, wenn’s für ihn zum Vorteil ist, Hübsch gibt sich als kauziger, verschmitzter, schlitzohriger Komödiant, der wie jeder Meister dieser Disziplin auf die Melancholie nicht vergisst. Zwar ist er kein „Pierrot“ wie der Richard, auch wenn dies sein Nickname ist, und bei weitem kein sanftmütiger Schalk. Nein, der sitzt Hübsch vielmehr im Nacken, wenn er als manipulativ mitleidheischender Miese-Peter die Wiener Variante des Pariser Witwers gibt.

Monsieur Pierre also hat im Leben nur noch das eine Interesse, sich alte Filmaufnahmen seiner verstorbenen Frau anzuschauen. Nichts treibt ihn mehr vor die Tür, er bunkert sich ein in seiner Wohnung und seiner Trauer und verwahrlost zusehends. Weshalb Tochter Sylvie einen sinistren Plan schmiedet: Der neue Freund ihres Nachwuchs‘ Juliette, ohnedies ein nichtsnutzig-arbeitsloser Autor, soll dem Alten Unterricht in Sachen Internet geben – ohne, dass der von Alex‘ Verhältnis zu Juliette weiß.

Nach Einstiegsschwierigkeiten flutscht das Ganze, und Pierre macht in einem Datingportal die Bekanntschaft von Flora. Er verliebt sich, doch kann er sich nicht als 80-jähriger Zausel enttarnen. Also muss Alex zu seinem Fleisch und Blut werden, während er selbst aus der Deckung immer gewagtere, intimere Postings abschickt. Klar, dass das nicht gutgehen kann … Eine moderne Cyrano-Erzählung war das weiland bei Robelin, worauf Regisseur Werner Sobotka aber weitestgehend verzichtet.

Was Wunder, hat er Wolfgang Hübsch mit Claudius von Stolzmann als Alex doch einen kongenial schöngeistigen Konkurrenten im Kampf um Floras Gunst an die Seite gestellt. Die fabelhafte Textfassung von Folke Braband beschert dem Ensemble ein Powerplay an bissigem Pointen-Ping-Pong, der Dialog analog-digital macht einen Gutteil des Humors aus. Dessen missverständliche Untiefen durchwaten die Darsteller mit sichtlichem Vergnügen. Sagt Alex, Pierre müsse ein Fenster öffnen, fragt der: „Im Schlafzimmer?“ – und persönlicher Favorit ist dessen Ansage, er hätte etwas auf „Goggl Mops“ gefunden.

Susa Meyer als selbstgerechte Tochter Sylvie. Bild: Rita Newman

Monsieur Pierre fesch und auf Freiersfüßen. Bild: Rita Newman

Martina Ebm gibt sich ganz mädchenhaft. Bild: Rita Newman

Werner Sobotka hat für Wolfgang Hübsch mit Witz und Herzenswärme und viel Sinn für Details ein Virtuosen-Stück voller Zwischentöne inszeniert, hat sich behutsam dem Thema Alterseinsamkeit gewidmet, dazu Aktuelles von Homeoffice bis Zoomkonferenz eingeflochten, und es ist wunderbar, wie der Musical- und Operettenaffine diesen Abend zum Walzertanzen bringt. Das Bühnenbild von Walter Vogelweider wechselt von Pierres staubiger Bücherhöhle zum kühlen Neonchic von Sylvies Apartment und der Brüsseler Bar, in der Pierre/Alex Flora zum ersten Mal trifft. Auf kleinen Videowänden allüberall läuft der Chat, poppen Portale auf, wird geskypt.

Und noch einmal: Welch ein Paar, Hübsch und von Stolzmann, deren Beziehung sich sozusagen vom Duett zum Duell, von der Männerverschwörung zum gegenseitigen Fallensteller zum von der Damentrias in die Ecke argumentierten und alsbald aufgeflogenen Schwindler-Duo entwickelt. Pierre und Alex schenken einander mit ihren eifersüchtigen Aktionen nichts und Hübsch und von Stolzmann damit alles, wenn sie das Lügenmärchen des anderen derart aufbauschen, dass der nicht mehr weiß, wie raus aus der Sache.

Buchhändler Pierre gibt sich bei Flora als Sinologe aus, womit er Alex von dessen Computer-Fachchinesisch in die Zwickmühle eines falschen Mandarin bringt, aus Rache macht der aus dem „Großvater“ einen Vulkanologen, worauf Pierre für Flora in Windeseile ein paar Lava-Abenteuer erfinden muss. Herrliche Szenen sind das, wenn Pierre von Langzeitloser Alex mehr Selbstbewusstsein fordert, „Wie steh‘ ich denn sonst da!“ und „Hoffentlich ist sie nicht enttäuscht!“, oder wenn Sylvie für den Vater schon ein Altersheim ins Auge fasst, und ihn schließlich fesch und auf Freiersfüßen wiederfinden muss.

Verblüfft von der weiten Welt des Webs. Bild: Rita Newman

Die Chat-Kulisse. Bild: Rita Newman

In der Zwickmühle schmerzt der Rücken. Bild: Rita Newman

Familienverhör, re.: Larissa Fuchs. Bild: Rita Newman

Susa Meyer gibt diese Sylvie mit dem Beamtenpragmatismus einer, auf deren selbstgerechten Schultern die ganze Familie lastet. Großartig, wie ihre Moralvorstellungen als schlüpfrige Gedanken auf und davon galoppieren, glaubt sie doch in Physiotherapeutin Flora eindeutig eine „Masseuse“ zu erkennen. „Monsieur Pierre geht online“ ist ein Verwechslungsschwank vom Feinsten, Wortverdreherei par excellence, die Situationen durch ihre Fehldeutungen „Spiel, Satz & Sieg“ in der Schwebe gehalten, ohne jemals auf plumpen Boden zu prallen.

Martina Ebm stattet Flora mit genau der ernsthaft romantischen Mädchenhaftigkeit aus, der man zutraut, in Pierre eine neue Jugendlichkeit und in Alex den draufgängerischen Liebhaber zu entfachen. Die Juliette von der mit Lebenspartner Johannes Krisch ans Haus gewechselten BE-Schauspielerin Larissa Fuchs wird von Anfang an auf die Art Karrierebiest getrimmt, von dem Alex ein Abschiednehmen nicht schwerfallen kann.

Keine Angst, für alle gibt’s ein Happy End. Pierre, Sylvie und Juliette sind nämlich eine David-Trauergemeinde, Juliettes Ex, der nach Shanghai gegangen ist, und mit dem – Martin Niedermair – sie immer noch videotelefoniert. Weshalb Alex zum Gaudium des Publikums mit glühenden Ohren die schlimmsten Dinge über sich und sein Schmarotzertum in Sylvies „Hotel Mama“ hören muss, bis David nach Paris zurückkehrt. Für Pierre hat Alex den gleichen Schabernack parat, wie der zuvor für ihn. Und schließlich öffnet auch Sylvie das Tor zum Datingportal …

Für einen Moment zugeschaltet hat sich in seiner Aufführung auch Werner Sobotka als Fernsehmacher Frederic, der von Alex Pitches für eine Gerichtsmediziner-Serie fordert, etwas, das die alten Zuschauer nicht vergrault und die jungen dennoch unterhält. Das scheint wie ein Motto über diesem rundum geglückten, supersympathischen „Monsieur Pierre“ zu stehen, dem man auch nach dem morgigen Samstag noch viele Vorstellungen wünscht.

Video: www.youtube.com/watch?v=988WHzW-w2w           www.josefstadt.org

  1. 10. 2020