TheaterArche: Odyssee 2021

September 11, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Irrfahrt durch Schauplätze und Seelenräume

Eike N.A. Onyambu, Helena May Heber, Roberta Cortese, Bernhardt Jammernegg, Pia Nives Welser, Marc Illich und Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Es wäre nicht Jakub Kavin, wenn er nicht wieder etwas Besonderes in petto hätte. Der Theatermacher, der seine TheaterArche als einziger am ersten möglichen Tag nach dem Kulturlockdown zur Premiere des überaus passenden Rückzugsstücks „Hikikomori“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=40634) öffnete, hat mit seinem Team nun die „Odyssee 2021“ erarbeitet. Ein Stationentheater, dessen erste zum Prolog ein jeweils anderer Ort im sechsten Bezirk sein

wird, diesmal war’s der Fritz-Grünbaum-Platz vorm Haus des Meeres, bevor es in die Münzwardeingasse 2 geht. Uraufführung ist heute Abend, www.mottingers-meinung.at war bei der gestrigen Generalprobe. Und so beginnt die Irrfahrt durch Schauplätze und Seelenräume. Zu Homer, Dantes „Göttlicher Komödie“, Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ und natürlich James Joyces „Ulysses“, hat Kavin, weil ihm das alles zu männlich konnotiert war, als weibliche Gegenstimmen die Autorinnen Marlene Streeruwitz, Miroslava Svolikova, Lydia Mischkulnig, Kathrin Röggla, Theodora Bauer, Margret Kreidl und Sophie Reyer eingeladen, Texte für die „Odyssee 2021“ zu verfassen.

„Mit dem Resultat“, so Kavin im Gespräch über sein nunmehriges „Frauenstück“, „jetzt vier Odyssas, zwei Penelopes und eine Lucia Joyce zu haben, Lucia, die Tochter von James Joyce, eine Tänzerin, die mit 30 als schizophren diagnostiziert wurde und 50 Jahre in diversen psychiatrischen Kliniken zubrachte.“ – „Errrrrrrrrrrrr wiederholt sich. Sch! Schlauch, Schlund, Schlamassel. Der Schlüssel zum Ödipuskomplex.“ (Margret Kreidl)

Sieben Performerinnen und sieben Performer, Roberta Cortese, Max Glatz, Claudio Györgyfalvay, Elisabeth Halikiopoulos, Helena May Heber, Marc Illich, Bernhardt Jammernegg, Tom Jost, Nagy Vilmos, Manami Okazaki, Eike N.A. Onyambu, Amélie Persché, Pia Nives Welser und Charlotte Zorell, dazu Multiinstrumentalist Ruei-Ran Wu, die meisten davon erstmals im TheaterArche-Engagement, gestalten die Collage. Eine Reise ins Ungewisse, Unbekannte, Untiefe, die sich für jede Zuschauerin, jeden Zuschauer des in drei Gruppen aufgeteilten Publikums anders gestaltet.

Choreografin Pia Nives Welser, hi.: Roberta Cortese und Claudio Györgyfalvay. Bild: © Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg im Inferno mit Max Glatz, Manami Okazaki und Charlotte Zorell. Bild: © Jakub Kavin

Roberta Cortese unter Höllentieren: Claudio Györgyfalvay, Max Glatz und Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg, Roberta Cortese, Charlotte Zorell und Pia Nives Welser. Bild: © Jakub Kavin

Man selbst strandet zuerst im Irish Pub, die Ausstattung aller Räume ist von Schauspielerin und Bildhauerin Helena May Heber, denn wie stets hat Kavin interdisziplinär tätige Künstlerinnen und Künstler um sich versammelt, strandet im Irish Pub also, wo man aber nicht etwa Leopold Bloom, sondern in Marc Illich und Tom Jost zwei Raskolnikows begegnet, die Serviererin-Prostituierter Sonja, Pia Nives Welser, mit Marc Illich und Claudio Györgyfalvay auch für die Choreografien zuständig, und Barkeeper Johannes Blankenstein bei Wodka und Whiskey vom Totschlag der Pfandleiherin berichten.

Dass dabei auch Russisch gesprochen wird, ist in der TheaterArche Programm, später wird’s noch Monologe in Englisch, Italienisch und Japanisch geben, Eike N.A. Onyambu rappt Amanda Gormans Amtseinführungsrede für Joe Biden: „We are striving to forge our union with purpose. To compose a country committed to all cultures, colors, characters and conditions of man.“ Roberta Cortese klagt im „Inferno“: „ich bin verwirrt gewesen, das kommt doch vor. ich hatte die mitte des lebens erreicht, die mitte des horizonts, den halben weg. oder, wo sonst bin ich hier?“ (Miroslawa Svolikova).

Koloratursopranistin und TheaterArche-Co-Leiterin Manami Okazaki spricht und singt zur AKW-Katastrophe in Fukushima: „Die Natur schlug zu und traf das Kernkraftwerk. 120 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt bin ich aufgebrochen und wusste wohin. In ein Zelt. Und was wird sein?“ (Lydia Mischkulnig). Kavin hat den Begriff Odyssee weit gefasst, vom antiken Inselhopping zur Irrfahrt zu sich selbst zur Rückkehr in ein verseuchtes Land.

Bernhardt Jammernegg als Teiresias. Bild: © Jakub Kavin

Fukushima-Monolog von Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Elisabeth Halikiopoulos im Spiegel-Boudoir. Bild: © Jakub Kavin

Bildhauerin Helena May Heber. Bild: © Jakub Kavin

„Es geht mir um die Heimatsuche, die geografische wie die innere“, sagt er. „Meine Figuren sind Weitgereiste, Wartende, vom Schicksal verwehte, Anti-Heldinnen und -Helden, die fehlgehen, wo immer der Mensch nur irren kann. Das heißt“, unterbricht er sich, „meine Figuren sind es nicht, wir sind ein Produktionskollektiv, bei dem alle in die Rolle das Ihre einbringen. Ich vertraue den Spielerinnen und Spielern den Text an, damit sie ihn mit ihren eigenen Subtexten zum Leben erwecken.“

Derart ist die Performance von der ersten Minute an intensiv, durch die Nähe zum Geschehen auch intim, meint: auf spezielle Weise immersiv, die TheaterArche gewohnt innovativ. Weiter geht’s in den Theatersaal, wo sich im von Tom Jost und Nagy Vilmos gesprochenen „Inferno“ Roberta Cortese und Bernhardt Jammernegg in Höllenqualen winden. TheaterArche, das ist immer auch Körpertheater, hier kriecht ein Ensemble aus Unterweltsfratzen gleich Totentieren auf die Unglücklichen zu. Grausam-poetisch ist das, enigmatisch, aufregend, und so findet man sich in der persönlichen Lieblingsschreckenskammer wieder.

Einem Dostojewski’schen Spiegel-Boudoir mit Elisabeth Halikiopoulos als frech-frivole Molly Bloom, Charlotte Zorell als Reitgerten-bewehrte Domina und Nagy Vilmos mit Beißkorb – pst, mehr soll da nicht verraten sein. Nur so viel, um Sartre zu bemühen: Die Hölle, das sind die anderen …

Die Raskolnikows Marc Illich und Tom Jost parlieren im Irish Pub auch auf Russisch. Bild: © Jakub Kavin

Selbst das Klavier ist gestrandet: Amélie Persché, Nagy Vilmos und Charlotte Zorell. Bild: Jakub Kavin

Als Reitgerten-bewehrte Domina mit einem Stammkunden: Charlotte Zorell mit Nagy Vilmos. Bild: © Jakub Kavin

Endlich Penelope und Odysseus: Helena May Heber und Claudio Györgyfalvay. Bild: © Jakub Kavin

Die „Odyssee 2021“ dreht sich kaleidoskopisch um die Achse Homer, bei Kavin reimt sich selbst noch Amanda Gorman aufs Gorman-Gilbert-Schema zum „Ulysses“, Homer also, als dessen antiker Odysseus Claudio Györgyfalvay durch das Labyrinth der Räume rennt, gehetzt von Kirke und eigenen Dämonen, einen Ausweg erflehend, doch von Kavins Assoziationsketten in Fesseln geschlagen. Und apropos, schlagen: Im Foyer findet man erneut Helena May Heber, die während der zweimonatigen Spielzeit einen 300-Kilo-Stein zur Muttergöttin meißeln wird, begleitet von Amélie Persché, mit 17 Jahren die jüngste im Ensemble, auf der Bratsche. Zwei Frauen, Homers Penelope und Theodora Bauers Penny: „Sie haben mir gesagt, ich muss warten. Ich muss immer, immer warten. Ich hasse warten.“

Am Ende, alle versammelt im Theatersaal, gesellt Jakub Kavin zu seinen Protagonistinnen und Protagonisten die Antagonisten: Bernhardt Jammernegg als mittels Kontaktlinsen erblindeter Teiresias im Fake-News-Anzug, Tom Jost als Swidrigailow, Nagy Vilmos als Leopold Bloom und Max Glatz, eben noch Polyphem, als Joyces „Telemach“ Stephen Dedalus. Für Marc Illich als Zukünfigen Odysseus hat Hausautor Thyl Hanscho einen Text geschrieben. So endet nach drei Stunden ein herausforderndes, faszinierendes Theaterereignis, ein Gesamtkunstwerk, dessen Genuss man nur von ganzem Herzen empfehlen kann.

„Zwischen Skylla und Charybdis lassen wir die Ketten zur Brücke werden. Wir befreien die Ungeheuer und damit uns von der Angst in die alten Sprachen zurückzugeraten.“ (Marlene Streeruwitz)

Vorstellungen bis 11. November. Den Spielort des Prologs erfährt man jeweils beim Kauf des Tickets. www.theaterarche.at

TIPP:

Von 11. September bis 11. November findet in der TheaterArche außerdem das Odyssee Festival statt. Zu den 14 Aufführungen zählen: Dione – mit Koloratursopranistin Manami Okazaki präsentiert Scharmien Zandi erstmals alle Elemente des internationalen Kunstprojekts als Opernperformance. Lost My Way von und mit Saskia Norman, Regie: Elisabeth Halikiopoulos. Das Tanztheaterstück Mythos. The Beginning of the End of the Story von Nadja Puttner und Unicorn Art. Das Schauspiel- und Figurentheater Der Sturm, für Kinder ab 6 Jahren, frei nach Shakespeare und inszeniert von Eva Billisich. Stilübungen – Raymond Queneaus Meisterwerk als Theaterstück. Und von 28. bis 30. Oktober Das Dostojewski Experiment, eine szenische Collage der TheaterArche mit großem Ensemble, ein Fest zum 200. Geburtstag des russischen Romanciers.

www.theaterarche.at

  1. 9. 2021

Medeas Töchter: #wirsindnichtstill

November 18, 2020 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein Hörspiel über den 2000 Jahre alten Irrweg vom Matriarchat zum Patriachat

Medeas Töchter. Bild: © Rainer Berson

Solidarisch ist, wer zuhause bleibt. Kunst- und Kulturinstitutionen müssen schließen, sie sind Freizeitvergnügungen. Geschäfte sind geöffnet, um Kapitalflüsse nicht zu behindern. Aber Medeas Töchter können nicht zuhause am warmen Ofen sitzen und warten, bis der Spuk vorbei ist. Sei es, weil sie keinen warmen Ofen haben, sei es, weil sie die Herrschaftsverhältnisse nicht mehr ertragen.

Medeas Töchter trotzen also dem Lockdown und veröffentlichen ihr Projekt „Medeas Irrgarten“ heute um 20 Uhr als Hörspiel. Magdalena Chowaniec, Aslı Kışlal und Corinne Eckenstein laden das Publikum zu einem individuellen Spaziergang durch die Stadt ein, begleitet von den Stimmen der Töchter Medeas: Ruchi Bajaj, Vahidenur Caf, Shabnam Chamani, Tanja Josic, Jona Moro und Charlotte Zorell – junge Frauen, deren Sichtbarkeit und Einflussnahme auf die Gesellschaft aufgrund ihrer Herkunft, Hautfarbe, sexuellen Orientierung oder politischen Ansichten in den Hintergrund gedrängt werden.

Ihre Stimmen, Gesichter, Körper und Gedanken sollen im Verborgenen bleiben, während auf ihren Rücken Politik gemacht wird. Doch bereits im ersten Lockdown haben Medeas Töchter sich nicht der erzwungenen Untätigkeit unterworfen. Neben vielen anderen Projekten entstand „Medeas Irrgarten“, ein interaktives Hörspiel, ein hörbarer Irrweg – über Kopfhörer nachgeh- und mithörbar, ein Irrweg rund um die Welt von Frauen, Geschichten seit dem Ende des Matriarchats bis zum Lockdown 2020.

„Auch wenn wir die Türen zu den Theatern schließen müssen, Türen zu jenen Räumen, in denen ein Diskurs stattfinden kann und unterdrückte Stimmen hörbar werden, verstummen wir nicht!“, lautet der Kampfruf. „Heute, 20 Uhr, ,Medeas Irrgarten‘ auf: medeastoechter.at/audio. Kopfhörer rein, Internetempfang sicherstellen und losspazieren … Dann wird es nicht still.“

Eine Koproduktion von diverCITYLAB, dem Dschungel Wien und Magdalena Chowaniec.

Trailer und erster Track: medeastoechter.at/audio           medeastoechter.at

  1. 11. 2020

Bronski & Grünberg: Schuld & Sühne

Januar 8, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Aus den Scherzen eine Mördergrube gemacht

Rodion Romanowitsch Raskolnikow hat sehr eigene Rechtfertigungen für den „gerechten“ Mord an jenen Menschen, die er „Laus“ nennt: Charlotte Krenz. Bild: © Philine Hofmann

Als Ansager im Biedermannspulluder, wie Stefan Lasko da anfangs vor dem roten Theatervorhänglein steht, als Bronski-&-Grünberg-Antwort auf Michael Palin, ist vollkommen klar, dass sich hier wieder ein starkes Stück erlaubt wird. Monty Python‘s Staged Punk sozusagen, sind die Bronskisten doch für die Wiener Bühnenwelt, was die Sex Pistols dereinst für die Spikesszene waren – nur weniger sid-vicious denn absurd und grotesk. Diesmal haben, soweit’s Text und Regie betrifft, zwei von drei Prinzipale selbst Hand angelegt, Alexander Pschill und Kaja Dymnicki, alldieweil Julia Edtmeier schauspielert. Worin, das will Lasko ja erklären, im Werk eines berühmten

Russen, wobei geschlagene drei Stunden lang weder an Ausstattung noch Mitwirkenden gespart werde. „Tolstoi!, Tschechow!, Dostojewski!“, klingt’s von diesen aus dem Off, ja, bei jenen Literaten und deren üppigem Personal kann man schon in die Irre gehen, wie Evelyn Hamann im North-Cothelstone-Hall-Sketch, aber tatsächlich wird „Schuld & Sühne“ – die Wiederaufnahme geboten. Frei nach Fjodors Feuilletonroman um den St. Petersburger Studenten Rodion Romanowitsch Raskolnikow und dessen seltsamen Rechtfertigungen für den „gerechten“ Mord.

Und weil ein solches Mammutprojekt für das Müllnergassen-Tschocherl, zwar nicht punkto Intellekt und Irrwitz, aber was den Innenraum betrifft, sowieso zu groß ist, hat man sich gleich ins Guckkastenformat verfügt. Hinterm Hangerl nämlich verbirgt sich eine Handdrehbühne, die per Muskelkraft mal Studentenbude, mal das Zimmerchen der Pfandleiherin Aljona Iwanowna, mal Polizeistube ist. En miniature ist en détail eingerichtet, mit Schlüsselbord, Brausekopf, Blumentopf, Wassili Perows Porträt – und original Rasselbockkopf.

Die Axt im Haus hat Charlotte Krenz als Raskolnikow, sie nicht die einzig cross-besetzte, statt tief gefallener Hochschüler nun gescheiterter Schauspieler, den Aljona Iwanowna samt Schwester Lisaweta bereits als düsterer Tagalbtraum heimsuchen, bevor er überhaupt Geschäfte geheuchelt, dann sie hingemeuchelt hat. Krenz gibt den designierten Mörder mit nach rückwärts gegelter Langhaarmatte, sinister, fiebrig und mit selbstgefälligem Wahnsinnsgrinsen unterm ausgefransten Menjou-Bärtchen. Zum Belächeln wär‘ das, würde Krenz ihren Eigendünkler seine ideologischen Überlegungen über privilegierte Herren-Menschen, denen das „erlaubte Verbrechen“ an der „Laus“ als Geburtsrecht zusteht, nicht mit einem Zynismus Richtung Zuschauer raunen lassen, dass einem nicht jenseitig, sondern ganz jetztzeitig wird.

Boris Popovic, Julia Edtmeier, Alexander Jagsch, Charlotte Krenz, Marius Zernatto, Maddalena Hirschal. Bild: © P. Hofmann

Christian Gnad, Maddalena Hirschal, Alexander Jagsch, Marius Zernatto, Charlotte Krenz, Julia Edtmeier. Bild: © P. Hofmann

Das Totschlagargument bekommt am eigenen Leib bald die wucherische Zinseneintreiberin zu spüren, Doris Hindinger, die mit misstrauisch nach unten gezogenen Mundwinkeln die zu versetzenden Habseligkeiten des übelmeinenden Kunden in Empfang nimmt, eine bauernschlaue, ausgefuchste Alte, deren böse Blicke einen, wenn sie’s denn sprichwörtlich könnten, aus dem Leben beförderten. Wunderbar, wie sie bei jedem Türöffnen vorm ausgestopften Wiesel überm Türrahmen zusammenzuckt, als erkenne da ein Frettchen das andere. Der ganze Abend ist rappelvoll mit solcherlei stummfilmischem Slapstick, vollbelegt wie die Bühne, auf der sich – Platz ist in der kleinsten Kulturhütte – gezählte vierzehn Akteurinnen und Akteure tummeln.

Für Bronski-Verhältnisse erstaunlich werktreu haben Pschill und Dymnicki bei dieser Inszenierung gewerkt, freilich streichen sie, schreiben Rollen neu und um, lassen Soundeffekte von einem Speiseeiswagen, Overacting, Faxen- und Fratzenmachen zu, aber im Kern blieb’s beim Buch. Herr-lich ist Alexander Jagsch als Raskolnikows Mutter Pulcheria Alexandrowa, ein baumlanger Vamp mit inzestuösen Anwandlungen, eine Fleisch gewordene freudsche Traumdeutung, das Über-Ich im 180-Grad-Umbau, wenn sie schnippisch anmerkt, ihres Sohnemanns Depressionsanstrich beschmiere sogar die vierte Wand.

Im Bronski & Grünberg lässt das Publikum gern mit sich spielen, da wird aus den Scherzen im Wortsinn eine Mördergrube gemacht, bei dieser russischen Kasperliade, mit der die Bronskisten definitiv ein neues Level erreicht haben. Kim Schlüter gibt mit Kulleraugen die geistig zurückgebliebene, bei Dostojewski ergo kindliche Unschuld symbolisierende Lisaweta, Thomas Weissengruber Pulcheria Alexandrowas Verlobten Luschin als versnobten „Das wird man doch noch sagen dürfen!“-Neureichen, und stellt sich so als Kapitalist gegen den frühsozialistischen Fast-Sohn, und apropos Kapital: in einer Marx-Brothers-Hommage platzt dessen Kammerspiel-Kämmerlein mittlerweile als allen Nähten.

Ermittlungsrichter Porfirij wagt schon einmal ein Siegestänzchen: Florian Carove. Bild: © Philine Hofmann

Die Untoten und ihr Mörder: Doris Hindinger als Pfandleiherin, Kim Schlüter und Charlotte Krenz. Bild: © Philine Hofmann

Julia Edtmeier hat für sich eine Pate-streichelt-(ausgestopfte)-Katze-Szene erfunden. Sie spielt Raskolnikows Freund Rasumichin, ebenfalls erwerbsloser Mime, der gerade ein Engagement als Kindertheaterpferd hat und mit kriminalistischem Spürsinn den Täter um Kopf und Kragen redet, legt er doch Florian Carove als Ermittlungsrichter Porfirij und Marius Zernatto als dessen diensteifrig-dämmlichem Assistenten die heiße Spur zum Schuldigen. Carove gestaltet den Amtsträger mit seinem subtil-psychologischen Katz-und-Maus-Gehabe als eine Art Columbo. Allerdings hat er den Trenchcoat gegen Ballettschuhe getauscht – und seine wortverdrehenden Pirouetten beim Verhören des Verdächtigen sind schlicht spitze.

Maddalena Hirschals Mixcharakter ist irgendwie auch Dunja, jedenfalls Sofja Semjonowna Marmeladowa, als die sie immer aufs Neue betonen muss, bestimmt keine Prostituierte zu sein. Und während Stefan Lasko, auch dies Michael-Palin‘isch, auf bekochwütige, nachbarliche Nervensäge macht, erscheint aus dem Untergrund Claudius von Stolzmann als Marmeladow und räumt aus dem Unterbühnenraum, das Gesicht bald so hochrot wie Caroves tanzangestrengtes, eine komplette Wohnungseinrichtung, Stehlampe, Sitzkissen, Fernseher, auf die und wieder von der Spielfläche – wozu er dem darob nicht wenig irritierten Raskolnikow seine erlogene Lebensbeichte ablegt. Ein furioser Monolog, ein fantastisches Kabinettstück, ein Höhepunkt der Aufführung. Es macht Spaß zu sehen, mit wie viel Lust und Genauigkeit hier gearbeitet wird.

Boris Popovic, Christian Gnad und Patrick Weiss als weitere Hausbewohner, Schaulustige, Jagsch-Verehrer, Beamte ergänzen den Cast. Hindinger und Schlüter haben noch einen Auftritt als blutüberströmte Untote, Edtmeier liest die Reclam-Ausgabe von „Weh dem, der lügt“. Carove zerbricht sich in Zeitlupe den Kopf übers Schädelspalten, was mit Krenz zu Dialogen à la „Ich war in der Tat dort.“ – „Am Tatort?“ führt, bevor Raskolnikows „Anstrengungen im Sinne des allgemein-menschlichen Fortschritts“ gewürdigt werden, und er abgeführt wird. Dabei, im Bronski & Grünberg kann die übliche Lösung nicht die gängige sein, und so enttarnt sich als wahrer Mörder schließlich … weil gleichermaßen Geldschulden bei und daher Hass auf die Pfandleiherin … Großartig!

 

Trailer: vimeo.com/353973287           www.bronski-gruenberg.at

  1. 1. 2020

Swimming with Men

Juni 5, 2018 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Helden in Badehosen

Bild: © Alamode Film

Die Briten sind bekannt für ihre schrägen Sozialkomödien. Im meisterlichen „Ganz oder gar nicht“ wurden arbeitslose Stahlarbeiter zu Strippern, in „Billy Elliot“ erfüllte sich ein Bergarbeitersohn den Traum vom Ballett. Nun wird abgetaucht. „Swimming with Men“ heißt der neueste Spaß von Regisseur Oliver Parker, der am 8. Juni in die heimischen Kinos kommt. Und wie nicht anders zu erwarten, geht den Inselbewohnern auch mitten im kühlen Nass der trockene Humor nicht verloren.

„Swimming with Men“ ist höchst sympathisch und hat das Zeug zur Sommerkinokomödie des Jahres. Der Inhalt: Buchhalter Eric steckt in der Midlife-Crisis. Seine Frau steigt in der Lokalpolitik zur Stadträtin auf, der Teenager-Sohn entfremdet sich täglich mehr von ihm, sein Job als Buchhalter langweilt ihn unsäglich, das Leben ist graue Monotonie. Allabendlich geht Eric zwar ins Schwimmbad, doch selbst dort hat er als gewissenhafter Angestellter das Handy am Beckenrand liegen. Als er wieder einmal seine gewohnten Bahnen zieht, bemerkt er plötzlich etwas Merkwürdiges: Eine bunt zusammengewürfelte Gruppe an Männern gleitet mehr oder minder elegant neben ihm durchs Wasser, doch will die kunstvollste aller Schwebefiguren nicht gelingen. Zahlenmensch Eric weiß, woran das liegt: Die Amateursynchronschwimmer haben einen Mann zu wenig, um sich geschmeidig zu drehen.

Unversehens wird Eric als neues Mitglied des Wasserballetts, dieser „mittelalten Männer in zu kleinen Badehosen, die aus verschiedenen Gründen komische Figuren im Wasser aufführen“, wie es einer der Charaktere im Film formuliert, aufgenommen, und unterwirft sich dessen strengen Regeln: „Niemand spricht über den Schwimmclub. Was im Schwimmclub passiert, bleibt im Schwimmclub …“. Und während er den Mut findet, sein Leben noch einmal auf den Kopf zu stellen, steht schon die nächste Herausforderung an: Das Team bewirbt sich tatsächlich für die Weltmeisterschaft männlicher Synchronschwimmer …

Bild: © Alamode Film

Bild: © Alamode Film

„Johnny English“-Regisseur Parker hat ein selbstironisches Ensemble ohne auch nur einen „Luxuskörper“ um sich versammelt, das höchst würdevoll die Bäuche über den Hosenbund schwappen lässt. Neben Comedy-Star Rob Brydon als Eric – der Mann mit der stoischsten Miene seit Buster Keaton – sind unter anderem Rupert Graves aus „Sherlock“, Adeel Akhtar aus „Four Lions“, Thomas Turgoose aus „Game of Thrones“ und der aus „Downton Abbey“ bekannte Jim Carter mit dabei.

Charlotte Riley verdreht als toughe Bademeisterin den Männern den Kopf und macht sie fit für den Wettkampf. In diesem wird sogar gegen ein echtes Synchronschwimmerteam, die Mannschaft aus Schweden, angetreten, über die es bereits 2010 den Dokumentarfilm „Men who Swim“ gab.

Dass die Darsteller bei den Schwimmszenen nicht gedoubelt wurden, versteht sich von selbst. „Man könnte, was wir da tun, als organisiertes Ertrinken bezeichnen“, sagt Jim Carter, dem Figuren wie die „Welkende Blume“ oder „Die Schleife“ beigebracht wurden, mit dem ihm eigenen Understatement.

„Ja, man muss viel Vertrauen mitbringen, wenn man sich von einem anderen Mann seine Beine um den Hals wickeln und unter Wasser ziehen lässt“, ergänzt Rupert Graves. Dass die Herren dabei bestmögliche Figur machen, ist nicht zuletzt den wunderbaren Unterwasserbildern von Kameramann David Raedeker zu verdanken. „Swimming with Men“ ist very british, wunderbar skurril und wirklich herzergreifend.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=Emhdewg69N0

  1. 6. 2018

Art Carnuntum – Shakespeare’s Globe Theatre: The Two Gentlemen Of Verona

August 5, 2016 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein flotter Ausflug in die Swinging Sixties

Launce mit seinem Hund Crab: Charlotte Mills und Musiker Fred Thomas. Bild: Barbara Pálffy

Launce mit seinem Hund Crab: Charlotte Mills und Musiker Fred Thomas. Bild: Barbara Pálffy

Shakespeare’s Globe Theatre ist wieder bei Art Carnuntum zu Gast und hat, zu sehen noch bis 6. August, „The Two Gentlemen Of Verona“ aus London mitgebracht. Regisseur Nick Bagnall verlegte die Irrungen und Wirrungen nicht nur optisch in die Sixties, das Bühnenbild gleich einem leuchtenden Wurlitzerbogen, die Kostüme wie aus den düstersten Ecken des eigenen Kleiderschranks, er zeigt auch eine swingende Musikrevue.

Um eine Band von Blumenkinder dreht sich das rasante Liebeskarussell des britischen Barden. Um Jugendliche, die gern so wild wie Mick und protestgebeutelt wie Bob wären, und doch nur brav Pullunder und Strickwesten tragen. Beige statt Psychedelic. Das heißt: in Verona, denn kaum in der Modemetropole Mailand angelangt, ändern sich Outfit und Attitüde. „The Two Gentlemen Of Verona“ gilt als Shakespeares erstes Stück. In der mutmaßlich rund um 1590 nach portugiesischer Vorlage entstandenen romantischen Komödie sind bereits die Motive für ein gutes Dutzend späterer Meisterwerke angelegt. Zwei Liebespaare über Kreuz, ein Mädchen, das sich als Bursche verkleidet, um dem Herzensmann folgen zu können, ein reumütiger Schurke, dem ergo vergeben wird, und zwei hinreißend komische Dienerfiguren. Shakespeare erlaubte sich einen einmaligen Kniff, den er später nie mehr wiederholen sollte, er schrieb eine stumme Hauptrolle – den Hund Crab, in Inszenierungen mal unsichtbar, mal aus Plüsch und bei Bagnall auf ganz besondere Art interpretiert.

Der vornehme Veroneser Jüngling Valentine muss also nach Mailand reisen, während sein Gefährte Proteus daheim bei seiner angebeteten Julia verweilen darf. In der Fremde angekommen verliebt sich Valentine in die schöne Sylvia, die Tochter des Herzogs, doch tut dies auch Proteus, der vom Vater dem Freund hinterhergesandt wurde. Proteus spinnt eine Intrige, um an sein Ziel zu gelangen, Valentine wird verbannt, nun steht dem Tunichtgut nur noch der tölpelige Thurio im Wege, den der Herzog eigentlich als Ehemann für sein Kind auserkoren hatte. Und dann ist da noch Julia, die in Mailand auftaucht, um nach ihrem Verlobten zu sehen …

Das Ensemble nimmt das Publikum sozusagen mit bis in die Carnaby Street, die Darsteller sind Hippies und Hipsters dieser vergangenen Tage, Youthquaker, und wie es sich für’s Globe gehört, natürlich auch eine einwandfreie Popband mit schrammelnden E-Gitarren, wummerndem Bass und treibendem Schlagzeug. James Fortune hat für die Aufführung neue Songs komponiert, die musikalisch irgendwo zwischen „Let it bleed“ und „Pain in My Heart“ angesiedelt sind, und so sind die Liebesbriefe nun 7″-Singles, die bei Missfallen der A-Seite zerbrochen statt zerrissen werden. Kämpfe werden statt mit dem Degen als Dancefloor-Combat oder als Krieg der Gitarreros ausgetragen, für die flotte Choreo sorgte Tom Jackson Greaves.

Aus besten Freunden werden Rivalen: Guy Hughes als Valentine und Dharmesh Patel als Proteus. Bild: Barbara Pálffy

Männerfreundschaft fürs Leben: Guy Hughes und Dharmesh Patel. Bild: Barbara Pálffy

Garry Cooper als Duke. Bild: Gary Calton

Mit der Geschmeidigkeit und der Grandezza eines Las-Vegas-Veteranen: Garry Cooper gibt den Duke. Bild: Gary Calton

Guy Hughes und Dharmesh Patel sind als Valentine und Proteus zu sehen, ersterer, nachdem von den Mailänder Mädchen fashiontechnisch vorzeigbar gemacht, liebenswert in seinen Liebesnöten, zweiterer ein Grimassen schneidender Windbeutel, der seine bösen Absichten per Seitenblick auf die Zuschauer kundtut, bevor er sie in die Tat umsetzt. Mit Leah Brotherhead als Julia und Aruhan Galieva als Sylvia stehen den Blutsbrüdern zwei überaus ehrenhafte Frauen gegenüber; Amber James spielt nicht nur die kecke Zofe Lucetta, sondern schmeißt als Thurio auch noch eine wunderbar missglückende James-Brown-Performance aufs Parkett. Garry Cooper gibt den Duke mit der geschmeidigen Grandezza eines Las-Vegas-Veteranen.

Zu den Höhepunkten des Abends zählen aber freilich die Auftritte von Charlotte Mills als Launce. Die Vollblutkomödiantin bildet gemeinsam mit dem Speed von Adam Keast ein Dienerduo als ob Laurel und Hardy dafür Pate gestanden hätten. Wenn der Verteiler bewusstseinserweiternder Glückspillen – nomen est omen – auf den Meister/die Meisterin im Missverstehen trifft, dann ist das zum Niederknien komisch. Hinzu kommen Launces Probleme mit Crab, bei dem’s Ansichtssache ist, ob man ihn als Sturkopf, Simpel oder der Welt größten Stoiker nehmen möchte. Zwar sagt er naturgemäß keinen Ton, doch lässt Musiker Fred Thomas, der in seine Haut, heißt: sein Fell schlüpft, philosophisch vielsagend das Banjo sprechen …

Shakespeare im Sixties-Style: Das Ensemble swingt und tanzt. Bild: Barbara Pálffy

Shakespeare im Sixties-Style: Das Ensemble swingt und tanzt. Bild: Barbara Pálffy

Mit all den heiteren Sixties-Augenblicken wird die Sicht auf Shakespeare aber keineswegs verstellt, sondern sein Werk ebenso luftig-leicht wie tiefernst genommen. Dies ja die Spezialität der Briten. Doch Nick Bagnall lässt die Komödie diesmal nicht in Love, Peace & Happiness enden, er entschied sich im Kontrast zum Original für ein modernes Unhappy End. Bei dem die Frauen das letzte, wenn auch frustrierte Wort haben. Freilich, es kriegen sich alle.

Der Duke spricht ein Machtwort, die Männer matchen sich’s aus, es wird einander verziehen und um den Hals gefallen und Valentine freut sich, wie es geschrieben steht, auf „one feast, one house, one mutual happiness“. Bei so viel herrlicher Männerfreundschaft bleibt Julia und Sylvia nur, sich ihr zu erwartendes Ehe-Elend von der Seele zu rocken. Und tatsächlich lassen Leah Brotherhead und Aruhan Galieva ihre innere Janis frei, dass das römische Amphitheater in seinen Grundfesten erbebt: All is loneliness before me … Wofür es vom ohnedies schon hin- und mitgerissenen Publikum einen Extra-Jubel gab. Cheers!

www.artcarnuntum.at

Wien, 5. 8. 2016