Der Rabenhof auf fm4 – Lesemarathon: Albert Camus‘ „Die Pest“ ab Karfreitag als Videostream

April 7, 2020 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

120 Stimmen in zehn Stunden

Bild: pixabay.com

„Ein monumentales Projekt in Tagen des Ausnahme- zustands“ plant der Rabenhof am Karfreitag ab 12 Uhr
auf fm4.orf.at: „Die Pest“ des französischen Nobelpreis- trägers Albert Camus als Videostream, als Marathonlesung von 120 Stimmen in zehn Stunden. Nach einer Idee von Claus Philipp und Thomas Gratzer sind unter anderem zu sehen und zu hören:

Elfriede Jelinek, Martin Kušej, Birgit Minichmayr, Michael Maertens, Klaus Maria Brandauer, Andrea Breth, Karl Markovics, Michael Heltau, Branko Samarowski, Peter Simonischek, Erwin Steinhauer, Josef Hader, Cornelius Obonya, Wolfgang Ambros, EsRAP, Martin Grubinger, Heinz Fischer, Christoph Schönborn, Herbert Föttinger, Dirk Stermann und Christoph Grissemann, Daniel Kehlmann, Michael Köhlmeier, Stefanie Sargnagel, David Schalko, Clemens J. Setz, Ruth Beckermann, Arik Brauer, Ruth Brauer-Kvam, Adele Neuhauser, Robert Palfrader, Willi Resetarits, Sophie Rois, Manuel Rubey, Robert Stachel und Peter Hörmannseder, Werner Gruber, Gerhard Haderer, Christoph Krutzler, Paulus Manker, Ernst Molden, Katharina Strasser, Ursula Strauss, Oliver Welter und Armin Wolf. „Die Pest“-Marathonlesung wird einen Monat lang abrufbar sein.

Bild: pixabay.com

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1947 verfasst, schildert Camus den Verlauf der Pest in der algerischen Küstenstadt Oran aus Sicht seines Protagonisten Dr. Bernard Rieux, der sich jedoch erst am Ende des Romans als „Verfasser der Chronik“ zu erkennen gibt. Die Geschichte beginnt im Jahre „194…“. Einige tote Ratten und ein paar harmlose Fälle einer unbekannten Krankheit sind die Anfänge einer schrecklichen Epidemie, die die Stadt in den Ausnahmezustand bringt, die Bewohner von der Außenwelt abschottet und unter ihnen mehrere tausend Todesopfer fordert. Die Pest bedroht das Menschssein der Bevölkerung und wird so zum gemeinsamen Gegner. Jeder nimmt den schier ausweglosen Kampf gegen den Schwarzen Tod auf seine Weise in Angriff.

Rieux ringt als Arzt gleich einem Sisyphos mit der Krankheit und gerät darüber in Disput mit Pater Paneloux, der die Pest als Strafe Gottes deutet. Camus entwickelt dies alles als politische Allegorie, als existenzialistische Parabel. Er seziert hellsichtig das menschliche Handeln im Angesicht der Katastrophe und zeichnet dabei ein erstaunlich vergleichbares Bild der derzeitigen, einer „neuen Normalität“. Das Absurde bleibt dabei sein steter Begleiter. Unschuldige Kinder sterben genauso wie Menschen, die es „verdient hätten“, obwohl sich insgesamt das Prinzip erkennen lässt, dass die Pest bevorzugt solche ohne Solidarität tötet …

Nikolaus Habjan mit Berti Blockwardt. Bild: Screenshot/w24-Rabenhof Theater/Abgesagt?-Angesagt!

Auf www.w24.at zeigt das Rabenhof-TV-Studio unter dem Titel „Abgesagt? Angesagt!“ und moderiert von Manuel Rubey eine Auswahl aktuell gecancelter Produktionen – als Appetizer auf die Acts, sobald Performer und Publikum wieder live zusammen- kommen können. Die jüngste Folge mit unter anderem Nikolaus Habjans „Berti Blockwardt“, Marius Zernatto als „#Werther“ (mehr zu diesem großartigen Goethe-Konzept: www.mottingers-meinung.at/?p=24657), Poetry-Slammerin Yasmo und – abgesagt bei der Biennale, angesagt in Erdberg – Doris Uhlich mit dem „Pudertanz“: www.w24.at/Sendungen-A-Z/Abgesagt-Angesagt/Alle-Folgen?video=17879

www.rabenhoftheater.com           fm4.orf.at           www.w24.at

7. 4. 2020

Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung

April 1, 2016 in Buch

VON RUDOLF MOTTINGER

Camus‘ Mordopfer aus „Der Fremde“ hat einen Namen

buchAlbert Camus schrieb 1942 in Paris seinen Roman „Der Fremde“, machte den Protagonisten zum Prototypen des Existenzialismus und verschaffte Camus Weltruhm. Der Ich-Erzähler ist der Büroangestellte Meursault. Im Algerien der 1930er-Jahre tötet er einen Menschen, von dem er sich irgendwie bedroht sieht. Er will für sein Vergehen einstehen und wird so zum Sündenbock, an dem die Justiz erst zögernd, dann jedoch mit voller Härte ein Exempel statuiert. Vor Gericht macht man aus dem Totschlag Mord und verurteilt ihn zum Tod. Meursault ist bis zur Naivität ehrlich. Indem er seine Gleichgültigkeit offen zeigt, fordert er indirekt die von der Gesellschaft akzeptierten moralischen Standards heraus, die etwa Trauer über den Tod nahestehender Menschen erwarten lassen. Im späteren Gerichtsverfahren beschädigt seine Reaktion auf den Tod der Mutter – er kann darüber nicht weinen – sein Ansehen fast mehr, als der von ihm verursachte Tod des Arabers.

Geschrieben ist der Roman in einer kühlen, emotionslosen, knappen Sprache. „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht. Aus dem Altersheim bekam ich ein Telegramm: ‚Mutter verschieden. Beisetzung morgen. Vorzügliche Hochachtung.‘ Das besagt nichts. Vielleicht war es gestern.“

Dieses „Ich weiß nicht“, „Vielleicht“, „Das besagt nichts“ begleitet Meursaults Handlungen, oder wohl eher Nicht-Handlungen. Er „weiß“ auch nicht, ob er seine Geliebte „liebt“. Aber heiraten würde er sie, „vielleicht“. In seinem Leben, so scheint es, kann nichts irgendetwas verändern. Sein Leben hat keine Bedeutung, kennt keine Hoffnung. Es geschieht einfach. Wie die Tat am Strand bei Algier, wo er einen Araber mit fünf Schüssen tötet, den Feind eines beiläufigen Freundes. Er „weiß nicht“, warum. Die Hitze dieses Tages, die Sonne könnten „schuld“ daran gewesen sein, sagt er während des Prozesses. Und weil er beim Begräbnis seiner Mutter nicht geweint hat, gilt das dem bürgerlichen Gerichtshof als wesentliches Indiz seiner Mörderseele.

Siebzig Jahre später setzt Daouds Roman „Meursault – eine Gegendarstellung“ ein: Ein alte Mann, Haroun, sitzt Nacht für Nacht in einer Bar in Oran und erzählt einem gegenüber seine Geschichte. Er ist der Bruder jenes Arabers, der 1942 von Meursault am Strand von Algier erschossen wurde. Fünf Pistolenschüsse um 14 Uhr unter der gleißenden Sonne. Mit all dem Ärger, der Angst und Frustration eines Lebens im Schatten dieses Todes, gibt der alte Mann seinem Bruder seinen Namen zurück: Moussa hieß dieser, dessen Tod auch Harouns Leben für immer verändert hat. In Camus’ Roman „Der Fremde“ ist das namenlose Opfer dagegen nur ein „Araber“, einer von vielen. Daoud gibt ihm nun eine Identität und eine Geschichte. Eine Geschichte, die untrennbar mit der Algeriens verknüpft ist, von der französischen Kolonialzeit bis zum Unabhängigkeitskampf mit hunderttausenden Toten und dem Ende der französischen Herrschaft.

Bild: mottingers-meinung.at

Bild: mottingers-meinung.at

Der Roman zeigt nicht nur, wie die Vergangenheit die Gegenwart prägt, und über die ungebrochene Kraft der Literatur, eine tiefere Erkenntnis, eine verborgene Wahrheit ans Licht zu bringen, sondern er ist auch ein gelungener Versuch, einen Eindruck von den ungleichen Wahrnehmungen zu geben, die das algerisch-französische Verhältnis bis heute prägen. Denn der Autor verbindet das Schicksal seines Erzählers explizit mit dem Algeriens.

Auch Haroun begeht einen Mord, um 2 Uhr früh im Juli 1962 in einem Garten an einem Franzosen.  Dorthin, wo sich Haroun und seine Mutter niedergelassen haben, hat sich der Mann geflüchtet, um sich vor der Gewalt algerischer Unabhängigkeitskämpfer zu verstecken. Juli 1962: Das ist der Monat, in dem Algerien nach einem langen Krieg gegen die französische Kolonialmacht die Unabhängigkeit erlangte. „Ich drückte auf den Abzug und schoss zwei Mal. Zwei Kugeln. Eine in den Bauch und die andere in den Hals. Insgesamt also sieben, dachte ich absurderweise sofort. (Nur dass die ersten fünf, die Moussa getötet hatten, zwanzig Jahre früher abgegeben worden waren …).“ Die Tat selbst ist für Haroun kein Mord, sondern eine Restitution.

Moussas jüngerer Bruder landet zwar für kurze Zeit im Gefängnis, doch für seine Tat wird er gerichtlich nicht belangt, anders als Meursault in „Der Fremde“. Dafür wird er von seinen Landsleuten als „Feigling“ gebrandmarkt, weil er sich nicht dem algerischen Widerstand angeschlossen und gegen die Franzosen gekämpft hat. Dieses Vergehen wiegt in deren Augen schwerer als die Tat an dem Franzosen. Haroun muss erkennen, dass man ihn ohne Erklärung freilassen würde, während er doch verurteilt werden wollte. „Ich wollte von diesem so schwer auf mir lastenden Schatten befreit werden, der mein Leben in Finsternis verwandelte … Die Willkür von Moussas Tod war eine Zumutung. Und nun wurde meine Rache ebenfalls zu völliger Bedeutungslosigkeit verdammt.“

Bild: mottingers-meinung.at

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Eine weitere Parallele zu Camus: Meursault wird nach seiner Verurteilung zum Tod von einem Priester besucht. Ein heftiger Diskurs über den Glauben und die Religion entbrennt. Meursault kann den Worten des Geistlichen nichts abgewinnen. Auch Haroun wird von einer „ganzen Meute von Frömmlern verfolgt, die mich davon überzeugen will … dass Gott über uns wacht. Ich schreie ihnen entgegen, dass ich mir schon seit Jahren dieses unvollendete Mauerwerk anschaue.“

Nicht die einzigen kritischen Äußerungen zum Islam: „Die Gebetszeit hasse ich am meisten, und zwar seit meiner Kindheit schon, aber seit einigen Jahren immer mehr. Die Stimme des Imam brüllt durch den Lautsprecher, der eingerollte Gebetsteppich unter ihren Achselhöhlen, die plakative Architektur der Moschee und dieses heuchlerische Eilen der Getreuen zum rituellen Waschen und zur Unaufrichtigkeit, zur Absolution und zum Rezitieren.“

Dafür wird der Schriftsteller auch mit einer Fatwa belegt. Wie bei Salman Rushdie war es auch im Fall Daouds die kritische Auseinandersetzung mit dem Islam und Religion, die den salafistischen Kleriker Abdelfattah Hamadache Zeraoui im Dezember 2014 zum Mordaufruf bewegten. Doch trotz zahlreicher Drohungen, denkt Daoud nicht daran, sein Heimatland Algerien zu verlassen und ins Exil zu gehen.

Am Ende treffen sich Haroun und sein Gegenüber noch einmal. „Sagt Dir meine Geschichte denn zu? … Ich bin Moussas Bruder oder der Bruder von niemandem. Nichts als ein Schwätzer, den du getroffen hast, um deine Hefte zu füllen … Du hast die Wahl, mein Freund. Das ist genauso wie mit der Biografie Gottes.“

Über den Autor:
Kamel Daoud, geboren 1970 im algerischen Mostaganem geboren, ist Journalist beim Quotidien d‘Oran, für den er seit vielen Jahren eine der meistgelesenen politischen Kolumnen in Algerien schreibt. Er lebt in Oran. Nach der Veröffentlichung eines Bandes mit Erzählungen erschien mit „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ sein erster Roman (2013 in Algier erschienen). Mit dem Buch war er 2014 in der Endauswahl für Frankreichs wichtigsten Literaturpreis, den Prix Goncourt, und wurde schließlich in der Kategorie „bester Debütroman“ ausgezeichnet.

Kiepenheuer & Witsch, Kamel Daoud: „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“, Roman, 208 Seiten. Aus dem Französischen von Claus Josten.

rororo, Albert Camus: „Der Fremde“, Roman, 160 Seiten. Aus dem Französischen von Uli Aumüller.

www.kiwi-verlag.de

www.rowohlt.de

Wien, 1. 4. 2016

Volkstheater: Das Missverständnis

Oktober 24, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Psychothriller mit Puppen

Seyneb Saleh, Nikolaus Habjan Bild: © www.lupispuma.com / Schauspielhaus Graz

Seyneb Saleh, Nikolaus Habjan, der tote Jan
Bild: © www.lupispuma.com / Schauspielhaus Graz

Es beginnt à la Alfred Hitchcock. Das alte Haus auf dem Hügel. Nebelschwaden untermalen dramatisch Smetanas „Moldau“. Und eine Stimme aus dem Off sagt: „Mutter … du bist seltsam.“ Nikolaus Habjan zeigt am Volkstheater seine Inszenierung von Albert Camus‘ „Das Missverständnis“, eine Übernahme aus dem Schauspielhaus Graz und als solche für den Nestroy-Preis 2015 in der Kategorie „Beste Bundesländer-Aufführung“ nominiert. Habjans Arbeit ist ein Puppen-, Masken- und Schauspiel. Selbst die Puppen tragen noch Masken, wie jeder Protagonist verbergen auch sie hier ihre wahren Absichten. Der zurückkehrende Sohn Jan gibt sich als Fremder aus, verbirgt sein tatsächliches Ich, die Mutter und Schwester Martha, dass sie längst des Fremden Tod beschlossen haben. Sie sind in Jans Abwesenheit zu Mörderinnen geworden. Die Erkenntnis kommt. Zu spät. Ein Mensch ist immer das Opfer seiner Wahrheiten.

Camus schrieb „Das Missverständnis“ zum Ende des Zweiten Weltkriegs im besetzten Paris. Viel von diesem Glück ist, wo Resignation ist, und wo Gott wohnt, hat er mutmaßlich selber schon vergessen, liegt in seinem Text. Er ist beim Wiederlesen, heißt: Wiederhören, erstaunlich tagesaktuell, wenn über Europa, das Land ohne freudige Gesichter berichtet wird, wenn Menschen vergehen vor Heim- und Fernweh nach einem, nach ihrem Land am Meer, wo Sonne und Sand brennen. Das mare nostrum wird gerade zum Massengrab. Und Europa schaut mit gekonnt geübter Betroffenheitsmiene zu. Der erste afrikanische Literaturnobelpreisträger wandte sich bei seiner 1957er Rede in Stockholm nicht nur gegen Repression, sondern auch gegen den Terror, damals den des FLN. „Ich glaube an die Gerechtigkeit, aber bevor ich die Gerechtigkeit verteidige, werde ich meine Mutter verteidigen“, sagte der gebürtige Algerier Camus. Auch das deklinieren seine einander Missverstehenden durch. Wenn zum Schluss Charles Trenets „La Mer“ erklingt, wird die Sehnsuchtsklangdopplung klar: das Meer und la mère, die Mutter.

Ohne die Puppen wäre Camus‘ absurder Politpathos, seine Verfremdungssprache, die Vertrautheit zur bewussten Illusion macht, schwieriger auszuhalten. Hier wird nicht miteinander verhandelt, sondern sich gegeneinander verhalten. Dies und die handhaberisch existenzielle Entschleunigung stehen für eine Kommunikationsunfähigkeit, aber nicht für das Entsagen der Emotionen. Sie beuteln einen, diese Puppen. Wenn sie von der Einsamkeit des Verbrechens, selbst wenn von Tausenden gemeinsam begangen, sprechen.

Habjan erzählt detailverliebt in großen Bildern. Die graue Welt kippt, die böhmische Herberge oben, ganz strange motel, deren Rezeption unten, sind in Schieflage im Bühnenbild von Jakob Brossmann; durch diese Räume ging das Leben ohne jemals verweilt zu haben. In diesem Klima der Grabeskälte agieren die Figuren aus Meursaults Zeitungslektüre. Ihr Tonfall: Ausweglosigkeit. Habjan stellt eine Verbindung zwischen dem Hinrichtungskandidaten in seiner Zelle, Camus entlieh den Inhalt des „Missverständnis'“ einer Episode seines Romans „Der Fremde“, und den zum Hinscheiden Verurteilten des Dramas her. Wie’s ausgehen wird, daraus macht das Stück von Anfang an kein Geheimnis, und trotzdem gelingt es dem Regisseur der handlungsarmen Handlung etwas Verrätseltes zu geben. „Das Missverständnis“, so berühmt philosophisch wie psychologisch bedeutsam, gerät ihm schlicht spannend. Habjan, ein Meister des Suspense. Der Abend ist atmosphärisch dicht, beklemmend, von großer Intensität wie Intimität. Ein Kammerspiel, das seinen grausigen Sinn für Humor über das Publikum ergießt. Ein Psychothriller mit Puppen.

Florian Köhler spielt und spielt mit seinem Puppenzwilling den Jan. Vergrübelt und in sich gekehrt sind sie beide; ihr Jan kann vor lauter Lauterkeit nicht aus seiner Haut, oder seinem Stoff. „Darf ich auf mein Zimmer gehen?“, fragt dieser nicht als Sohn erkannte Gast die Mutter. Er sagt den Satz wie das gewesene Kind es getan hätte: „Darf ich auf mein Zimmer gehen?“ Der Puppen/Mensch will gerettet werden und tut doch alles, damit das unmöglich ist, wenn das Menschliche die Bestie wird. Fehlenden Hang zum Humanismus stellt denn auch seine Schwester als ihre schwache Seite aus. Sie beruft sich auf ihre Humanität beim Töten, weil weniger gewaltsam als die Natur. Nikolaus Habjan zeigt die klappmäulige Martha verbittert, zerrissen, genervt, mit androgyner Stimme und bestrumpften Beinen. In ihr schildert sich die fundamentale Sinnlosigkeit der Existenz am erschreckendsten, denn welchen Sinn macht es, ohne sinnvolle Alternative von der Sinnlosigkeit befreit zu werden: Martha wird das Meer nicht sehen, sondern sich den Strick drehen. Beide, der geliebte, abwesend geglaubte Sohn, und die ungeliebte, aber anwesende Tochter, kranken an ihrer Schöpferin. Seyneb Saleh gestaltet Jans Frau Maria als Schauspielerin, angstvoll-aggressiv, mit Katalysatorwirkung, und Jans Mutter als Puppenspielerin. Scheinbar mühelos gelingt ihr der Wechsel zwischen junger und alter Frau in Stimme wie Haltung. Als Maria durchkreuzt ihre ausbruchsstarke Spielweise die metaphysische Stimmung der Inszenierung. Ein Ruf nach Barmherzigkeit, ein Flehen um restmenschliche Wärme. Eine eindrückliche Leistung.

Die Puppen sind Bühnenpartner mit denen die Darsteller ins Zwiegespräch gehen. Die Mutter, als sie von instinktbefohlenen Skrupel befallen in einen Fauteuil sinkt, Jan, changierend zwischen Enttäuschung und Entsetzen, als er sich knapp vor Schierlingstrank den Verdruss über die Verwandtschaft eingestehen muss. Die Puppe denkt, der Mensch gibt ihr eine innere Stimme, das ist eine Qualität, die es nur so geben kann. Und apropos, Stimme wie Haltung: Es ist, man kann es leider nicht weniger peinlich sagen, entzückend!, wie Habjan seine Puppe beobachtet, wie ehrlich erstaunt er ist, ob der furchtbaren Dinge, die sie formuliert, wie er mit seiner Mimik ihre Gesten kommentiert.

Am Ende des erlösungsgedanklich erbarmenbefreiten Teufelskreises zieht Köhler die Hand aus seinem Jan, die Puppe stirbt, der Mensch nun Geist sagt noch: „Ich bin’s“ – und ab. Die Entsorgung der Puppe durch die Mitpuppen im Fluss ist grauenhaft grotesk. Schmerzhaft. Den greisen Knecht, letztlich letzter Überlebender, gestalten mit fahlgesichtiger Maske alle drei Spieler abwechselnd, weil ER in allen ist. Als die verzweifelte Maria sich auf den Fußboden wirft und „Gott erbarme Dich meiner!“ schreit, spricht dieser unbeteiligte, unbeeindruckte Allvater-Hausdiener sein erstes Wort, das abschließende Wort des Stücks: „Nein!“. Der Schmerz reicht nicht an das Unrecht heran, das Menschen angetan wird. Die Großartigkeit der Darbietung von Saleh, Köhler und Habjan tröstet einen fulminanten Abend lang über diese Erkenntnis hinweg. Und das Wissen, dass der verschämte, verhärmte Katholik Camus Gott nicht für tot, sondern nur für alt, behäbig und schwerhörig hält. Bravo!

Seyneb Saleh im Gespräch: www.mottingers-meinung.at/?p=15526

Nikolaus Habjan in „Fasching“: www.mottingers-meinung.at/?p=14584    nikolaushabjan.com

www.volkstheater.at

Wien, 24. 10. 2015

Neu am Volkstheater: Seyneb Saleh

Oktober 21, 2015 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Puppen- und Schauspielerin in „Das Missverständnis“

"Das Missverständnis" von Albert Camus: Seyneb Saleh Bild: © www.lupispuma.com / Schauspielhaus Graz

„Das Missverständnis“ von Albert Camus: Seyneb Saleh
Bild: © www.lupispuma.com / Schauspielhaus Graz

Sie ist 1987 in Deutschland geboren und teilweise in Marokko aufgewachsen; sie ist Schauspielerin, kam vom Schauspielhaus Graz mit Anna Badora nach Wien, und Puppenspiel-Elevin bei Nikolaus Habjan. In dieser „Doppelfunktion“ ist Seyneb Saleh (mehr: www.volkstheater.at/person/seyneb-saleh/) derzeit vielbeschäftigt: Am 23. Oktober hat sie mit Camus‘ „Das Missverständnis“ Premiere, gleichzeitig probt sie schon Christine Lavants „Das Wechselbälgchen“. Habjan führt in beiden Produktionen Regie.

In „Das Missverständnis“ kehrt Jan nach zwanzig Jahren Abwesenheit nach Hause zurück. Seine Mutter und seine Schwester betreiben eine heruntergekommene Pension, aber – was Jan nicht weiß – längst verdienen sie ihren Lebensunterhalt mit der Ermordung von Alleinereisenden. Sie erkennen Jan nicht und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Camus‘ Drama wurde 1944 im besetzten Paris uraufgeführt, es behandelt die Fragen nach Heimat und Exil mit der Wucht eines antiken Dramas. Camus setzt der Vernichtungskraft Europas die Vision einer freien menschlichen Existenz entgegen. Synonym dafür ist ein Land am Meer … Seyneb Saleh im Gespräch:

MM: Wie war Ihre Übersiedelung nach Wien?

Seyneb Saleh: Wunderbar. Wien ist eine Weltstadt. Bis jetzt finde ich die Wiener sehr nett und sehr offen. Ich freue mich, wenn ich ein paar Jährchen hier bleiben kann.

MM: Das sagen Sie mit einem Lächeln, obwohl eines der ersten Dinge, die Sie hier mitbekommen haben, die Wien-Wahl war? Wie haben Sie diese Zeit erlebt?

Saleh: Mit Staunen und Entsetzen. In Deutschland gibt es keine rechtspopulistische Partei, die so viele Stimmen bekommt. Pegida und AfD sind längst nicht so etabliert wie die FPÖ. Ich weiß aber gar nicht, wie ich das finden soll. Durch die „Salonfähigkeit“ als Partei haben die Anhänger die Wahrnehmung, sie werden gehört. In Deutschland kanalisiert sich die Unzufriedenheit der Menschen, die in diese Richtung denken, in Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte. Statistisch gesehen wird da jeden Tag ein Anschlag verübt. Das gibt es in Österreich nicht. Vielleicht ist es besser, eine Partei wie die FPÖ zu haben, damit man deren Äußerungen auf einer demokratischen Ebene entkräften kann. Ohne Gewalt.

MM: Haben Sie in Wien ausländerfeindliche Erfahrungen gemacht?

Saleh: In Wien bisher noch nicht. In Deutschland meinte eine Casterin, ich solle meinen Namen ändern, um nicht auf das Migrationsding festgelegt zu werden. Ein anderer Agent wollte mich gerade deswegen haben: super, endlich eine Schauspielerin mit Migrationshintergrund. Solche Gespräche treiben einem im Nachhinein schon die Tränen in die Augen, da ist man total verletzt. Ich war aber nie dem ausgesetzt, beschimpft zu werden. In Graz habe ich Anfeindungen erlebt, allerdings als „Piefke“; die Anfeindungen haben sich gegen mein Deutschsein gerichtet. Total absurd!

MM: Sie waren ja schon in Wien zu Gast, als Sie bei der Viennale Ihren Film „Das rote Zimmer“ vorgestellt haben.

Saleh: Stimmt. Mit Regisseur Rudolf Thome. Der Film ist ein zweites Standbein, das ich mir gerne erhalten möchte, weil das Spielen vor der Kamera wieder eine andere Qualität hat. Das wäre mein Traumleben: Theaterspielen, Puppenspielen, Filmen und eine Familie gründen. (Sie lacht.)

MM: Sprechen wir über Camus: Ab 23. Oktober zeigt das Volkstheater „Das Missverständnis“, eine Übernahme vom Schauspielhaus Graz. Dort haben Sie auf der Probebühne gespielt, hier im großen Haus. Geht das?

Saleh: Ja, wir sind in Graz auch auf die große Bühne übersiedelt, weil die Resonanz so gut war. Wir haben auf Festivals gespielt, wo die Bühnendimensionen auch gewaltig waren, wir haben damit also schon Erfahrung, deshalb ist es für uns nicht so neu.

MM: Im „Missverständnis“ treten sie als Schauspielerin, Puppenspielerin und als dritte Figur mit einer Maske auf. Als Schauspielerin zusätzlich Puppenspielerin zu sein, wie ist das? Wer gibt wem was?

Saleh: Man tritt als Puppenspieler hinter die Puppe. Das ist ehrlich gesagt total erleichternd, weil die Puppe alles selber macht. Wenn man sich in den Wochen der Proben mit ihr beschäftigt, merkt man, welchen Rhythmus sie hat, welche Stimme sie hat. Es ist natürlich Arbeit, vor allem Muskelarbeit, als ich damit begonnen habe, hatte ich ordentlich Muskelkater. Aber dennoch kann man sich zurücklehnen, zusehen, sich öffnen für das, was die Puppe verlangt – das spielt sich von allein.

MM: Klingt, als ist die Puppe für Sie ein lebender Organismus. Sie ist nicht etwas, das Sie bewegen, sondern jemand, der mit Ihnen spielt.

Saleh: Eigentlich ja. Das ist zwar schizophren, weil ich sie bewege, aber eigentlich nimmt sie sich von mir, was sie braucht, und ich lasse das zu. Wir haben in Graz mit Michael Simon „Immer noch Sturm“ gemacht, da haben Kärntner Slowenen mitgespielt, denen riesige Puppenköpfe aufgesetzt wurden. Diese Köpfe haben wir bewegt. Da hat mich Nikolaus Habjan gesehen und in seine nächste Produktion eingeladen, weil er dachte, ich habe ein Händchen für Puppen. So wird man Elevin im Puppenspiel. Ich empfinde das als große Bereicherung meiner Arbeit als Schauspielerin. Im Umgang mit der Puppe lernt man, von sich abzusehen, den Text in den Vordergrund zu stellen, ihn durch sich durch rauschen zu lassen.

MM: Was kann die Puppe, was Sie nicht können?

Saleh: Die Puppe hat kein Glaubwürdigkeitsproblem, kein Authentizitätsproblem. Wenn die Puppe weint, nimmt man ihr das ab, empfindet man das mit, weil es wahr ist. Da gibt es kein: Na, das hat sie aber schlecht gespielt. Die Puppe ist Illusion, dadurch kann sie keine Illusionen kaputt machen, sondern wird dadurch tatsächlich unmittelbarer.

MM: Zu „Das Missverständnis“ gibt es viel Sub- und Kontext. Was ist für Sie der Kern der Geschichte?

Saleh: Es geht darum, einander zu erkennen. Jan will erkannt werden, aber er verstellt sich. Aus dieser einen Unwahrheit entsteht eine Kette von unheilvollen Ereignissen, die schließlich zu seinem Ende führen. Wenn ich also falsch bin, entstehen Missverständnisse. Viele grauenhafte Dinge basieren auf nur einer Lüge.

MM: Gibt es so etwas wie ein nordafrikanisch tieferes Verständnis für Camus?

Saleh: Ich weiß schon sehr genau, was er meint, wenn er von der Sonne als etwas Schönem und Entsetzlichem zugleich spricht. Da docke ich emotional sehr an. Mein Vater ist Iraker, meine Mutter Deutsche, ich bin teilweise in Marokko aufgewachsen, und war erst vergangenen Sommer wieder dort. Allein, wenn ich ins Flugzeug steige, kommen mir die Tränen. Es gibt etwas in der Landschaft, den Farben, aber auch in den Gesichtern der Menschen, das Wärme ausstrahlt und freundlicher ist als hier. Wenn ich in arabischen Ländern bin, weiß ich immer, was ich hier vermisst habe. Und dann am Atlantik zu stehen: die Weite des Ozeans, des Himmels, der Wind … Aber natürlich sehe ich auch den Moloch Casablanca, die Elendsviertel, die Kluft zwischen Arm und Reich.

MM: Bedeutet Ihr Vorname Seyneb etwas?

Saleh: Schöner Baum im Paradies. Auch eine mildtätige Ehefrau des Propheten Mohammed hieß so. Der Vorname ist in der muslimischen Welt sehr verbreitet.

MM: Sind Sie muslimisch erzogen worden? Sind Sie religiös?

Saleh: Man muss zwischen Religiosität und Glaube unterscheiden. Mein Vater ist ein gläubiger Mann und ein Brückenbauer. Ich glaube an Menschlichkeit. Ich glaube, dass es da etwas gibt, das uns alle verbindet. Ich war auf einer katholischen Mädchenschule, war immer auch fasziniert von christlichen Kirchen. Ich dachte immer, wenn Gott in allen Menschen und überall ist, dann ist er auch hier bei mir, dann kann ich den Gottesdienst mitmachen. Meine erste „Theaterrolle“ war übrigens einer der Heiligen Drei Könige in einem Schulkrippenspiel. Dass ich dann tatsächlich Schauspielerin geworden bin, war daheim kein Jubelschrei. Mein Vater hat es seinen konservativen Brüdern und Schwestern bis heute nicht erzählt. Ein Beruf, in dem man „nur angeguckt“ wird! Andererseits bringt diese Haltung mich auch dazu, meine eigene Position und das, was ich auf der Bühne mache, zu hinterfragen.

MM: Ein Thema bei Camus ist auch die Heimat, das Exil. Sie sind ein Kind zweier Kulturen. Überall zu Hause oder überall fremd?

Saleh: Ich versuche best of both worlds. Ich verstehe oft nicht warum der Fokus im öffentlichen Diskurs überwiegend auf den Unterschieden der beiden Kulturen liegt. „Die sind alle anders, alle fremd!“ Die Gemeinsamkeiten überwiegen! Ich bin oft umgezogen. Ich habe keine Kindergartenfreundin, mit der ich mich heute noch treffe. Ich kann mir ein Zuhause überall schnell aufbauen, weil Zuhause in mir selber ist und in den Menschen, die mir am Herzen liegen. Trotzdem habe ich manchmal Momente, wo ich die eine Welt in der anderen vermisse.

MM: Wenn Sie dem Publikum einen Camus-Gedanken mitgeben müssten, welcher wäre das?

Saleh: Camus hat „Das Missverständnis“ hergeleitet aus seinem Roman „Der Fremde“. Das Wesentliche ist also, den Menschen gegenüber zu stehen und einander kennenzulernen. Unabhängig von irgendwelchen Bildern, die man hat. Dann ist das Fremde nicht mehr fremd und auch nicht mehr gefährlich.

www.volkstheater.at

Wien, 21. 10. 2015

Schauspielhaus Graz: Das Missverständnis

Oktober 10, 2014 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Nikolaus Habjan und seine Puppen spielen Camus

Nikolaus Habjan und Puppe Bild: Lupi Spuma

Nikolaus Habjan und Puppe
Bild: Lupi Spuma

Ab 17. Oktober ist „Das Missverständnis“ von Albert Camus als Spiel mit SchauspielerInnen und Puppen am Schauspielhaus Graz zu sehen. Regie führt Puppenspieler Nikolaus Habjan, der den Schauspielern Seyneb Saleh und Florian Köhler nicht nur das Puppenspiel beibrachte, sondern auch selbst auf der Bühne stehen wird.

Man kann im Vergessen nicht glücklich sein. Erstmals nach zwanzig Jahren zieht es Jan zurück an die öden Gestade seiner Heimat, aus der er weit weg in eine hellere, freiere Welt geflohen war. Schuldgefühle gegenüber seiner zurückgelassenen Mutter und seiner Schwester veranlassen ihn, seine Identität zu verbergen – entgegen dem Rat seiner Frau Maria.
Jan mietet sich allein in dem unwirtlichen Gasthof bei Mutter und Schwester ein. Aus der Deckung will er die Verhältnisse beobachten, um entscheiden zu können, ob ihm Heimat und Familie noch etwas bedeuten. Jan weiß nicht, dass seine alte Mutter und die verhärtete Schwester Martha ihre Existenz mit Raubmorden an alleinreisenden Hotelgästen bestreiten. Auf diese Weise erwirtschaften sie Reisegeld. Marthas Ziel ist das Meer.
Die Weltläufigkeit und positive Daseinserwartung des Fremden stoßen Martha auf ihr unerfülltes, freudloses Leben. Die Mutter scheint diesmal vor dem Mord am Gast zu zögern. Aber Martha sieht durch den Eindringling die alleinige Liebe der Mutter bedroht. Umso zielgerichteter schreitet sie zur Tat. Längst ist ihr Tun von der Bedeutung der Wörter entkoppelt. Gewohnheit beginnt beim zweiten Verbrechen. Und »was man nicht kennt, ist leichter zu töten.«

In seinem dreiaktigen Drama, geschrieben 1944 im besetz­ten Paris, behandelt Albert Camus das Thema Heimat und Exil mit der Wucht einer antiken Schicksalstragödie.
Der aus Graz stammende und in Wien arbeitende Regis­seur und Puppenspieler Nikolaus Habjan entwickelt eine heutige Lesart der Fabel mit Puppen. Er ist Direktor am Schuberttheater Wien und arbeitet als Puppenspieler unter anderem am Wiener Burgtheater.

www.schauspielhaus-graz.com

Wien, 10. 10. 2014