VON MICHAELA MOTTINGER
Puppen- und Schauspielerin in „Das Missverständnis“

„Das Missverständnis“ von Albert Camus: Seyneb Saleh
Bild: © www.lupispuma.com / Schauspielhaus Graz
Sie ist 1987 in Deutschland geboren und teilweise in Marokko aufgewachsen; sie ist Schauspielerin, kam vom Schauspielhaus Graz mit Anna Badora nach Wien, und Puppenspiel-Elevin bei Nikolaus Habjan. In dieser „Doppelfunktion“ ist Seyneb Saleh (mehr: www.volkstheater.at/person/seyneb-saleh/) derzeit vielbeschäftigt: Am 23. Oktober hat sie mit Camus‘ „Das Missverständnis“ Premiere, gleichzeitig probt sie schon Christine Lavants „Das Wechselbälgchen“. Habjan führt in beiden Produktionen Regie.
In „Das Missverständnis“ kehrt Jan nach zwanzig Jahren Abwesenheit nach Hause zurück. Seine Mutter und seine Schwester betreiben eine heruntergekommene Pension, aber – was Jan nicht weiß – längst verdienen sie ihren Lebensunterhalt mit der Ermordung von Alleinereisenden. Sie erkennen Jan nicht und das Schicksal nimmt seinen Lauf. Camus‘ Drama wurde 1944 im besetzten Paris uraufgeführt, es behandelt die Fragen nach Heimat und Exil mit der Wucht eines antiken Dramas. Camus setzt der Vernichtungskraft Europas die Vision einer freien menschlichen Existenz entgegen. Synonym dafür ist ein Land am Meer … Seyneb Saleh im Gespräch:
MM: Wie war Ihre Übersiedelung nach Wien?
Seyneb Saleh: Wunderbar. Wien ist eine Weltstadt. Bis jetzt finde ich die Wiener sehr nett und sehr offen. Ich freue mich, wenn ich ein paar Jährchen hier bleiben kann.
MM: Das sagen Sie mit einem Lächeln, obwohl eines der ersten Dinge, die Sie hier mitbekommen haben, die Wien-Wahl war? Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Saleh: Mit Staunen und Entsetzen. In Deutschland gibt es keine rechtspopulistische Partei, die so viele Stimmen bekommt. Pegida und AfD sind längst nicht so etabliert wie die FPÖ. Ich weiß aber gar nicht, wie ich das finden soll. Durch die „Salonfähigkeit“ als Partei haben die Anhänger die Wahrnehmung, sie werden gehört. In Deutschland kanalisiert sich die Unzufriedenheit der Menschen, die in diese Richtung denken, in Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte. Statistisch gesehen wird da jeden Tag ein Anschlag verübt. Das gibt es in Österreich nicht. Vielleicht ist es besser, eine Partei wie die FPÖ zu haben, damit man deren Äußerungen auf einer demokratischen Ebene entkräften kann. Ohne Gewalt.
MM: Haben Sie in Wien ausländerfeindliche Erfahrungen gemacht?
Saleh: In Wien bisher noch nicht. In Deutschland meinte eine Casterin, ich solle meinen Namen ändern, um nicht auf das Migrationsding festgelegt zu werden. Ein anderer Agent wollte mich gerade deswegen haben: super, endlich eine Schauspielerin mit Migrationshintergrund. Solche Gespräche treiben einem im Nachhinein schon die Tränen in die Augen, da ist man total verletzt. Ich war aber nie dem ausgesetzt, beschimpft zu werden. In Graz habe ich Anfeindungen erlebt, allerdings als „Piefke“; die Anfeindungen haben sich gegen mein Deutschsein gerichtet. Total absurd!
MM: Sie waren ja schon in Wien zu Gast, als Sie bei der Viennale Ihren Film „Das rote Zimmer“ vorgestellt haben.
Saleh: Stimmt. Mit Regisseur Rudolf Thome. Der Film ist ein zweites Standbein, das ich mir gerne erhalten möchte, weil das Spielen vor der Kamera wieder eine andere Qualität hat. Das wäre mein Traumleben: Theaterspielen, Puppenspielen, Filmen und eine Familie gründen. (Sie lacht.)
MM: Sprechen wir über Camus: Ab 23. Oktober zeigt das Volkstheater „Das Missverständnis“, eine Übernahme vom Schauspielhaus Graz. Dort haben Sie auf der Probebühne gespielt, hier im großen Haus. Geht das?
Saleh: Ja, wir sind in Graz auch auf die große Bühne übersiedelt, weil die Resonanz so gut war. Wir haben auf Festivals gespielt, wo die Bühnendimensionen auch gewaltig waren, wir haben damit also schon Erfahrung, deshalb ist es für uns nicht so neu.
MM: Im „Missverständnis“ treten sie als Schauspielerin, Puppenspielerin und als dritte Figur mit einer Maske auf. Als Schauspielerin zusätzlich Puppenspielerin zu sein, wie ist das? Wer gibt wem was?
Saleh: Man tritt als Puppenspieler hinter die Puppe. Das ist ehrlich gesagt total erleichternd, weil die Puppe alles selber macht. Wenn man sich in den Wochen der Proben mit ihr beschäftigt, merkt man, welchen Rhythmus sie hat, welche Stimme sie hat. Es ist natürlich Arbeit, vor allem Muskelarbeit, als ich damit begonnen habe, hatte ich ordentlich Muskelkater. Aber dennoch kann man sich zurücklehnen, zusehen, sich öffnen für das, was die Puppe verlangt – das spielt sich von allein.
MM: Klingt, als ist die Puppe für Sie ein lebender Organismus. Sie ist nicht etwas, das Sie bewegen, sondern jemand, der mit Ihnen spielt.
Saleh: Eigentlich ja. Das ist zwar schizophren, weil ich sie bewege, aber eigentlich nimmt sie sich von mir, was sie braucht, und ich lasse das zu. Wir haben in Graz mit Michael Simon „Immer noch Sturm“ gemacht, da haben Kärntner Slowenen mitgespielt, denen riesige Puppenköpfe aufgesetzt wurden. Diese Köpfe haben wir bewegt. Da hat mich Nikolaus Habjan gesehen und in seine nächste Produktion eingeladen, weil er dachte, ich habe ein Händchen für Puppen. So wird man Elevin im Puppenspiel. Ich empfinde das als große Bereicherung meiner Arbeit als Schauspielerin. Im Umgang mit der Puppe lernt man, von sich abzusehen, den Text in den Vordergrund zu stellen, ihn durch sich durch rauschen zu lassen.
MM: Was kann die Puppe, was Sie nicht können?
Saleh: Die Puppe hat kein Glaubwürdigkeitsproblem, kein Authentizitätsproblem. Wenn die Puppe weint, nimmt man ihr das ab, empfindet man das mit, weil es wahr ist. Da gibt es kein: Na, das hat sie aber schlecht gespielt. Die Puppe ist Illusion, dadurch kann sie keine Illusionen kaputt machen, sondern wird dadurch tatsächlich unmittelbarer.
MM: Zu „Das Missverständnis“ gibt es viel Sub- und Kontext. Was ist für Sie der Kern der Geschichte?
Saleh: Es geht darum, einander zu erkennen. Jan will erkannt werden, aber er verstellt sich. Aus dieser einen Unwahrheit entsteht eine Kette von unheilvollen Ereignissen, die schließlich zu seinem Ende führen. Wenn ich also falsch bin, entstehen Missverständnisse. Viele grauenhafte Dinge basieren auf nur einer Lüge.
MM: Gibt es so etwas wie ein nordafrikanisch tieferes Verständnis für Camus?
Saleh: Ich weiß schon sehr genau, was er meint, wenn er von der Sonne als etwas Schönem und Entsetzlichem zugleich spricht. Da docke ich emotional sehr an. Mein Vater ist Iraker, meine Mutter Deutsche, ich bin teilweise in Marokko aufgewachsen, und war erst vergangenen Sommer wieder dort. Allein, wenn ich ins Flugzeug steige, kommen mir die Tränen. Es gibt etwas in der Landschaft, den Farben, aber auch in den Gesichtern der Menschen, das Wärme ausstrahlt und freundlicher ist als hier. Wenn ich in arabischen Ländern bin, weiß ich immer, was ich hier vermisst habe. Und dann am Atlantik zu stehen: die Weite des Ozeans, des Himmels, der Wind … Aber natürlich sehe ich auch den Moloch Casablanca, die Elendsviertel, die Kluft zwischen Arm und Reich.
MM: Bedeutet Ihr Vorname Seyneb etwas?
Saleh: Schöner Baum im Paradies. Auch eine mildtätige Ehefrau des Propheten Mohammed hieß so. Der Vorname ist in der muslimischen Welt sehr verbreitet.
MM: Sind Sie muslimisch erzogen worden? Sind Sie religiös?
Saleh: Man muss zwischen Religiosität und Glaube unterscheiden. Mein Vater ist ein gläubiger Mann und ein Brückenbauer. Ich glaube an Menschlichkeit. Ich glaube, dass es da etwas gibt, das uns alle verbindet. Ich war auf einer katholischen Mädchenschule, war immer auch fasziniert von christlichen Kirchen. Ich dachte immer, wenn Gott in allen Menschen und überall ist, dann ist er auch hier bei mir, dann kann ich den Gottesdienst mitmachen. Meine erste „Theaterrolle“ war übrigens einer der Heiligen Drei Könige in einem Schulkrippenspiel. Dass ich dann tatsächlich Schauspielerin geworden bin, war daheim kein Jubelschrei. Mein Vater hat es seinen konservativen Brüdern und Schwestern bis heute nicht erzählt. Ein Beruf, in dem man „nur angeguckt“ wird! Andererseits bringt diese Haltung mich auch dazu, meine eigene Position und das, was ich auf der Bühne mache, zu hinterfragen.
MM: Ein Thema bei Camus ist auch die Heimat, das Exil. Sie sind ein Kind zweier Kulturen. Überall zu Hause oder überall fremd?
Saleh: Ich versuche best of both worlds. Ich verstehe oft nicht warum der Fokus im öffentlichen Diskurs überwiegend auf den Unterschieden der beiden Kulturen liegt. „Die sind alle anders, alle fremd!“ Die Gemeinsamkeiten überwiegen! Ich bin oft umgezogen. Ich habe keine Kindergartenfreundin, mit der ich mich heute noch treffe. Ich kann mir ein Zuhause überall schnell aufbauen, weil Zuhause in mir selber ist und in den Menschen, die mir am Herzen liegen. Trotzdem habe ich manchmal Momente, wo ich die eine Welt in der anderen vermisse.
MM: Wenn Sie dem Publikum einen Camus-Gedanken mitgeben müssten, welcher wäre das?
Saleh: Camus hat „Das Missverständnis“ hergeleitet aus seinem Roman „Der Fremde“. Das Wesentliche ist also, den Menschen gegenüber zu stehen und einander kennenzulernen. Unabhängig von irgendwelchen Bildern, die man hat. Dann ist das Fremde nicht mehr fremd und auch nicht mehr gefährlich.
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Wien, 21. 10. 2015