Premiere von „Ich rufe meine Brüder“ in St. Pölten
Am 20. April findet in der Theaterwerkstatt des Landestheaters Niederösterreich in St. Pölten die deutschsprachige Erstaufführung von „Ich rufe meine Brüder“ von Jonas Hassen Khemiri statt. Ein Selbstmordanschlag in Stockholm im Dezember 2010, bei dem der Attentäter starb und zwei Passanten verletzt wurden, diente Khemiri als Ausgangslage für sein Stück. Khemiris Protagonist Amour geht am Tag nach dem Anschlag durch die Straßen der Stadt und sieht sich konfrontiert mit den ängstlichen und ablehnenden Blicken der Menschen auf ihn, seine dunkle Haut, seine schwarzen Haare und Augen. Er telefoniert mit seinen „Brüdern“ und sagt: „Wer sind die Anderen? Es gibt keine Anderen. Es gibt Extremisten auf allen Seiten, die uns weismachen wollen, es gäbe die Anderen. Jeder, der über die Anderen spricht, ist ein Idiot.“ Das Stück entstand im Rahmen des Theaternetzwerks Europe Now. Im Jänner 2013 wird die Uraufführung im Riksteatern Stockholm und Stadttheater Malmö stattfinden. Das Landestheater Niederösterreich präsentiert die Inszenierung als Koproduktion mit dem Berliner Theater Ballhaus Naunynstraße – das sich den Themen Migration, Rassismus und kulturelle Vernetzung verschrieben hat – und in Zusammenarbeit mit dem Maxim Gorki Theater Berlin, wo die Produktion im Herbst 2013 nach der Spielserie in St. Pölten aufgenommen wird. Ein Interview mit Regisseur Michael Ronen und Hauptdarsteller Jerry Hoffmann

Jan Walter, Jerry Hoffmann, Marion Reiser, Nora Abdel-Maksoud
Bild: Margarita Broich
MM: Was hat Sie bewogen, diese Produktion zu inszenieren beziehungsweise mitzuspielen?
Michael Ronen: Seit ich für das Ballhaus Naunynstraße in Berlin arbeite, beschäftige ich mich mit dem Thema Solidarität. Das Theater beschäftigt sich ja in erster Linie mit migrantischen und postmigrantischen Anliegen. Shermin Langhoff wollte, dass dieses Stück, in dem es um Mitmenschen mit Migrationshintergrund geht, von mir, dem Enkelkind eines jüdischen Österreichers, der 1935 aus Österreich fliehen musste, das in Israel geboren ist und sich mit seinem jüdischen Erbe beschäftigt, inszeniert wird. Wir alle sind „die Anderen“. Aus politischen Gründen, aus religiösen Gründen, aus „optischen“ Gründen – das herauszuarbeiten, ist mir sehr wichtig. „Ich rufe meine Brüder“ ist für mich ein Ruf nach einer neuen Gemeinschaft, einem neuen Miteinander. Interessant fand ich auch die Form, in der Jonas Hassen Khemiri sein Stück geschrieben hat. Bei uns wird es ein Mix aus Comic, Manga, Film noir, Sin City, Triphop …
MM: Im Stück geht es gar nicht um religiöse Konflikte. Es gibt in Stockholm ein Selbstmordattentat. Und daraufhin fällt jeder, der „so“ aussieht, dunkle Haut, dunkle Haare, hat, unter eine Art Generalverdacht. Da wird eine Kollektivschuld über eine Gruppe Menschen gestülpt. Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann? Jeder! Denn er kann nur ein Bombenschmeißer sein.
Jerry Hoffmann: Das ist eine Erfahrung, die ich auch schon machen musste. Insofern verstehe ich die Figur Amor, den Protagonisten des Stücks, den ich darstelle. Ich bin gebürtiger Hamburger, mein Vater kommt aus Ghana. Neulich am Flughafen Zürich wurde ich aus der Warteschlange geholt werde und mein Gepäck wurde untersucht. Andererseits ist es lustig, dass Ober – wie hier im Cafe Landtmann – mir automatisch eine englischsprachige Speisekarte geben und Michael eine in Deutsch. Obwohl er kaum Deutsch spricht. Man wächst auf und sieht sich mit Vorurteilen konfrontiert. Das ist auch etwas, womit wir in dieser Inszenierung spielen: Gibt es diesen Generalverdacht – oder ist er nur eine Einbildung der Betroffenen – in diesem Fall Amor, der sich ungerecht behandelt fühlt, der Solidarität unter seinen „Brüdern“ sucht und nicht findet, und mit der Ohnmacht, der Trauer, der Wut ringt, nichts dagegen tun zu können.
MM: Ist es so, dass Migranten der dritten Generation immer noch nicht als vollwertige Staatsbürger wahrgenommen werden?
Ronen: Ja, das hat sich nicht verändert. Nicht in Schweden, nicht in Deutschland, nicht in Österreich, nicht in Großbritannien. Dort ist man zwar Commonwealth-Staatsbürger, aber nicht „british“. Das ist ja, was Amor so wütend macht, dass er nicht wirklich dazugehört zu den Schweden. Dabei können Migranten eine Kultur sehr bereichern, neue Einflüsse einbringen, die ganze Textur eines Landes verändern. Das ist natürlich die Vision, der Traum vom Ballhaus. Wir machen Revolution mit Kunst und Liebe und Internationalität.
MM: Glauben Sie, dass Stücke, wie die von Khemiri, die Menschen zum besseren Verständnis füreinander bringen können?
Ronen: Theater ändert die Realität nicht. Sagt man. Als Regisseur und Darsteller hoffe ich aber, dass das intime Treffen mit einem Publikum doch was erreichen kann …
Hoffmann: Ich glaube, dass Theater oder Filme in den Köpfen etwas in Bewegung setzen können! Eine Idee, eine Vorstellung davon, dass man ein Problem vielleicht auch von einer anderen Seite andenken, beleuchten kann.
Ronen (grinst): Jerry hofft auf ein politisches Nachbeben in St. Pölten.
MM: Fühlen Sie beide sich als Kinder zweier Kulturen?
Hoffmann: Ich bin in Deutschland geboren, aufgewachsen. Die Frage nach „meinen Wurzeln“, „meiner wirklichen Heimat“ wird mir dennoch regelmäßig gestellt.
Ronen: Home is where your heart is!
MM: Khemiri hat dieses Stück 2010 geschrieben, bevor der Amoklauf vom rechtsradikalen Anders Breivik Skandinavien erschütterte. Kam damit ein Umdenken? Oder ist es trotzdem immer noch von Vorteil „blond und blauäugig“ zu sein?
Ronen: Natürlich ist es besser blond und blauäugig zu sein. Es war seltsam, seine Begründung für seine Tat zu hören. Aber an den Vorurteilen oder auch nicht Vorurteilen in der Bevölkerung hat das nicht geändert. Ein: Einer „von uns“ kann so etwas auch machen, kam da nicht. Ich kenne das auch aus dem nationalistischen Israel. Ich bin in Tel Aviv aufgewachsen mit der Angst, in jeden Bus, in jedes Eiscafe könnte sich ein Selbstmordattentäter eingenistet haben. Täglich Terror! Ich verstehe den Punkt, den wir im Stück ansprechen, dass Angst die Menschen zusammenschweißt total. Angst vor dem Anderen, dem Fremden, dem, was man nicht versteht. Das kenne ich. Aber die Welt wird lernen müssen, mit dieser Angst umzugehen. Denn diese Angst schafft Totalitarismus. Diese Angst spielt gewissen Politikern und dem Militär in die Hände. Was in den USA nach 9/11 passiert ist, ist Wahnsinn: Menschen willkürlich festnehmen, wegsperren, foltern. Wir hören nur aus weiter Ferne, was sich dieser Tage in Guantanamo ereignen soll. Denn die Öffentlichkeit darf nichts hören, nichts sehen, nichts wissen … Auch darum geht es in „Ich rufe meine Brüder“. Amor hat ja seine Gymnasiumsclique verloren, weil eben nun jeder etwas studiert, ein Teil seiner Familie ist nach Tunesien zurückgegangen, um mit Ferienhäusern für Touristen Geld zu verdienen, sein bester Freund hat Frau und Kind. Amor ist einsam. Auch er hat Angst.
MM: Im Stück gibt es einige Szenen, die man mit Humor inszenieren könnte. Etwa, wenn die „Attentäter“ üben unauffällig normal zu gehen. Oder Amor in den Schlüsselsituationen seines Lebens am Telefon ständig von einer Tierschutzorganisation belästigt wird, sein Anruf bei seiner schwedischen Oma. Eine Frage an den Regisseur: Werden wir auch lachen?
Ronen: Ich hoffe das wirklich! Unser Familienname in Österreich war ja Fröhlich.(Er lacht.)
MM: Ist Amor der Attentäter?
Ronen: Ja, das ist die Frage! Ich denke, dass das jeder für sich entscheiden sollte. Khemiri hat das Stück so geschrieben, dass jeder mit seinen eigenen Bildern im Kopf aus dem Theater gehen kann, gehen soll!
MM: Für uns alle wurde doch der Abrahamsbund geschlossen. Warum können wir nicht Leben und Leben lassen? Warum stören sich die einen an einem Kopftuch und die anderen an einem Bikini?
Ronen: Weil Kolonialismus, Faschismus, Totalitarismus für ihre Machtkonzepte ein Feindbild aufbauen mussten und müssen. Nur, wenn ich „draußen“ einen künstlichen Konflikt schaffe, kann ich von Problemen im Land ablenken. Leider gehen immer noch zu viele Menschen solchen „Führern“ auf den Leim. Du und ich und Jerry und der Kellner und der Busfahrer, der uns hergebracht hat, WIR kommen doch großartig miteinander aus.
Zu den Personen: Jonas Hassen Khemiri wurde 1978 in Stockholm als Sohn einer Schwedin und eines Tunesiers geboren. Er studierte Wirtschaft und Literatur in Stockholm und Paris. Bereits 2003 machte er mit seinem Debütroman „Das Kamel ohne Höcker“ auf sich aufmerksam, für den er den renommierten Borås Tidnings Debütpreis bekam. Dem Folgeroman „Montecore“ wurde 2006 der Per-Olov-Enquist-Preis zuerkannt. Als Dramatiker trat er erstmals 2006 mit „Invasion!“ am Stadttheater in Stockholm in Erscheinung. „Invasion!“ wird derzeit von der „Jungen Burg“ im Burgtheater-Vestibül gezeigt (nächste Termine: 19. und 21. April). 2008 präsentierte Khemiri „God Times Five“, sein zweites Theaterstück. Diesem folgte „We Are A Hundred“, das 2009 am Stadttheater in Göteborg uraufgeführt wurde und den HEDDA Award for best play 2010 erhielt. Inzwischen werden Khemiris Stücke im gesamten deutschsprachigen Raum zahlreich gespielt.
Die Regie von „Ich rufe meine Brüder“ übernimmt Michael Ronen, Hausregisseur am Ballhaus Naunynstraße. Michael Ronen,geboren 1982 in Jerusalem als Enkelkind österreichischer Einwanderer, studierte Regie an der London Academy of Music and Dramatic Arts, wo er 2006 das Künstlerkollektiv Conflict Zone Arts Ayslum gründete. Am Ballhaus Naunynstraße war Michael Ronen bereits an zahlreichen Produktionen beteiligt. 2010 inszenierte er die Science-Fiction-Komödie „Warten auf Adam Spielman“ von Hakan Savas Mican und 2011 Perikızı von Emine Sevgi Özdamar.
Darsteller des Amor ist Jerry Hoffmann. Er wurde 1989 in Hamburg geboren. Er studierte Schauspiel zunächst an der Otto-Falckenberg-Schule in München und wechselt dann an die Universität der Künste Berlin. Sein Filmdebüt gab er 2009 mit der Darstellung des Samir in dem Kinofilm „Shahada“. Seit 2011 ist er neben Martin Wuttke an der Volksbühne Berlin in „Schmeiß dein Ego weg“ von René Pollesch zu sehen. Das Serientestemonial „Wir sind wieder wer“ (u.a. mit Heiner Lauterbach, Regie Thomas Stuber) gewann 2012 den No Fear Award beim deutschen Nachwuchspreis First Steps. 2012 drehte er den TV-Mehrteiler „Zeit der Helden“ unter der Regie von Kai Wessel. Außerdem ist er als Sprecher für Hörbuch, Hörspiel und Synchron tätig. 2013 wurde er für den Berlinale Talent Campus ausgewählt.
www.landestheater.net
www.burgtheater.at
www.ballhausnaunynstrasse.de
www.gorki.de
Michael Ronen hat außerdem ein Internetprojekt, in dem er Orte mit ihren Geschichten verbinden will: www.capsuling.me
Von Michaela Mottinger
Wien, 16. 4. 2013