Endlich im Kino: Koproduzent Österreichs Oscar-Beitrag „Quo vadis, Aida?“

Juli 13, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Massaker von Srebrenica, die Schande Europas

Die Dolmetscherin Aida Selmanagic sucht unter 25.000 Flüchtlingen ihren Ehemann und ihre beiden Söhne: Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Für einen Oscar 2021 hat’s zwar nicht gereicht, der Spielfilm der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić „Quo vadis, Aida?“ war in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert, dafür gab’s bisher 16 andere internationale Auszeichnungen. An der europäischen Koproduktion sind außer Bosnien-Herzegowina sieben weitere

Länder beteiligt, aus Österreich die coop99 filmproduktion mit den Koproduzenten Barbara Albert, Antonin Svoboda und Bruno Wagner – COV19-, heißt: Lockdown-bedingt immer wieder verschoben, ist das Drama über das Massaker von Srebrenica nun endlich in den heimischen Kinos zu sehen. Hier noch einmal die Filmrezension vom März: Aida rennt. Sie hastet durch Korridore, irrt durchs Labyrinth der früheren Batteriefabrik, vorbei an den Blauhelmen, durchs provisorisch eingerichtete Lazarett, hinaus ins so unfreie Freie, wo 25.000 bosnische Flüchtlinge vergeblich auf Einlass ins UNPROFOR-Quartier in Potočari hoffen. Es ist der 11. Juli 1995, so auch ein früherer Titel des Films: „11th of July“, die Menschen kommen aus Srebrenica – womit sich mehr zu erläutern eigentlich erübrigt. Aida erklimmt das Wärterhäuschen am Schranken, „Nihad, Hamdija, Sejo!“ ruft sie, doch wie unter den vielen hier Ehemann und Söhne finden?

„Quo vadis, Aida?“ der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić ist ein Film, der wehtut. So richtig wehtut. Und das ist gut so. Das Massaker von Srebrenica ist die Schande Europas, und nicht die letzte, wie man anno 2021 weiß. Sieht man die Bilder dieser am Zaun ihrer Überlebenschance abgewiesenen Männer, Frauen, Kinder, muss man unweigerlich an jüngere Ereignisse denken. Derart spannt der Film einen Bogen zu Moria, Kara Tepe, Europas Außengrenzen, Lipa tatsächlich an der bosnisch-kroatischen. „Quo vadis, Aida?“ ist kein Plädoyer, es ist ein Appell.

Žbanić, selbst Überlebende des Bosnienkriegs, Mitglied des „Democracy in Europe Movement 2025“, Unterzeichnerin der „Deklaration zur gemeinsamen Sprache der Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner“, ließ sich für ihr Skript vom Buch über den Völkermord in Srebrenica des Übersetzers für die UN-Truppen Hasan Nuhanović inspirieren. Diese Dolmetscherin ist nun Aida Selmanagić, die Jasna Đuričić mit einer Eindringlichkeit, einer Unmittelbarkeit spielt, für die sich der serbische Theater- und Kinostar eine Oscar-Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient gehabt hätte.

Eben noch hatte Colonel Karremans den an Hunger sterbenden – denn die bosnisch-serbische Armee ließ keine Hilfslieferungen zu – Srebrenicern erklärt, in der „Schutzzone“ seien sie sicher, da schlagen die Granaten ein, rollen Panzer an, Kriegsherr, Kriegsverbrecher Ratko Mladić im Machtrausch, Darsteller Boris Isaković auch von einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit. „Ich schenke diese Stadt dem serbischen Volk“, verkündet der General in die Fernsehkamera, dieser ständigen Begleiterin seines Eroberungsfeldzugs. Seine „ethnische Säuberung“ wird 250.000 Tote fordern, 1.3 Millionen Flüchtlinge, geschätzte 20.000 bis 50.000 Vergewaltigungsopfer – in Srebrenica wurden 8372 muslimische Männer und Jungen ermordet -, der schlimmste Genozid in Europa seit dem Dritten Reich.

Und die Menschen laufen mit Sack und Pack, Gehbehinderte in Schubkarren, Mütter, die ihre Kinder im Chaos verloren haben, Verletzte, eine Kuh als letztverbliebenes Hab und Gut. Die Statistinnen und Statisten aus Stolac und Mostar, das ist die Stadt an der Brücke Stari Most, sind mit großer Ernsthaftigkeit bei der Sache. Jede und jeder auf den die Grazer Kamerafrau Christine A. Maier, bekannt für Barbara Alberts „Licht“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27053) oder Ruth Maders „Life Guidance“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27841), zoomt, verkörpert einen Charakter, Gesichter, die um das wissen, was hier geschildert wird, Gesichter, die man so schnell nicht vergisst.

Rückblende: Aidas Erinnerungen an einen unernsten Beauty-Contest in Srebrenica. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Niederländer wollen nicht helfen, Aida ist ratlos und verzweifelt: Jasna Đuričić:. Bild: © Polyfilm Verleih

Ratko Mladić-Mann Joka provoziert Major Franken: Emir Hadžihafizbegović und Raymond Thiry. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Unterhändler unterwegs zu Mladić: Rijad Gvozden als Muharem, Johan Heldenbergh als Colonel Karremans und Jelena Kordić-Kuret als Chamila. Bild: @ Polyfilm Verleih

Tausende suchen im UNO-Gelände in in Potočari, wo bald chaotische Zustände herrschen. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida erklärt den Flüchtlingen, dass sie deportiert werden: Raymond Thiry und Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Ob’s nun heißt, die Basis ist voll oder das Boot ist voll, das Dutchbat ist von der Situation völlig überfordert. Karremans telefoniert vergeblich um Luftunterstützung, die NATO-Generalität urlaubt um diese Jahreszeit. Später wenn Mladićs Tschetniks mit der Unverfrorenheit der Sieger den UN-Stützpunkt nach muslimischen Freischärlern durchsuchen, wenn der abgebrühte, herrlich großsprecherische Joka von Emir Hadžihafizbegović den diensthabenden Major Franken, Raymond Thiry, wie einen Schulbuben abkanzeln wird, werden dessen Jungs in ihren lächerlichen kurzen Camouflage-Hosen ob all des Leids rund um sie den Tränen nahe sein.

Aida, von den Niederländern überdeutlich als Untergebene behandelt, hat es zwischenzeitlich geschafft, ihre Familie ins Camp zu holen, indem sie ihren Mann und ehemaligen Schuldirektor Nihad für die Gruppe der Unterhändler, die Mladić zu sehen verlangt, vorschlägt. Auch Izudin Bajrović als in sich gekehrter Nihad, Boris Ler als nervlich schwer angeschlagener Hamdija und Dino Bajrović als dessen jüngerer Bruder Sejo agieren mit einer Authentizität, die gespenstisch, die kaum auszuhalten ist.

Ebenso Jelena Kordić-Kuret als Chamila und Rijad Gvozden als Muharam, die mit Nihad das „Verhandlerteam“ bilden. Chamila, die sich auf ekelhafte Art nach Waffen abtasten lassen muss, während der niederländische Soldat nach der Losung „Wir dürfen die Serben nicht reizen!“ schweigt, Rijad Gvozden, der als Kriegswaise im SOS-Kinderdorf in Gračanica aufwuchs, und der’s als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur auf die Kinoleinwand schaffte.

Die Anspannung, die Todesangst, die Panik, das Unverständnis über den Hass der gerade noch gewesenen Hausnachbarn ist förmlich mit Händen zu greifen, das nahende Unheil liegt in der Luft, Gerüchte von Vergewaltigungen und Erschießungen gehen um. Zu den nach außen hin ruhig ausharrenden Flüchtlingen mengt Jasmila Žbanić den Kommandoton, im Grunde Ohnmachtsschrei der niederländischen Soldaten, stille Minuten des Zusammensitzens mit dem mitfühlenden Arzt Dr. Robben, Reinout Bussemaker, ein kleines Lachen, ein schneller Kuss, in der Rückblende Aidas Erinnerung an einen nicht ganz ernst gemeinten Beauty-Contest. Beim Kolo, beim Reigentanz, hält die Kamera inmitten der ausgelassenen Stimmung wie versteinerte Mienen fest. Sind diese Menschen tot, klagen sie uns an, war der oder der nicht unter den Widerstandskämpfern zu sehen?

Momente sind das. Blauhelme mit gesenkten Köpfen vs. die serbischen Herrenmenschen, die Furcht vor Mladićs Unberechenbarkeit so enorm, dass die Niederländer alle Prinzipien, alle Vorschriften außer Acht lassen. Die UNPROFOR, die der General sowieso deppert anrennen lässt, ohne Benzin, ohne Nahrungsmittel, erst die Tschetniks bringen Brot ins Lager, welch ein Armutszeugnis, was muss Mladić gelacht haben. Chamila, die im Gegenüber von Ermin Bravo einen ehemaligen Mitschüler erkennt, die Vorkriegs-Lehrerin Aida im brutalen Beli von Jovan Zivanovic einen früheren Schüler – ein kurzer Dialog, der mit Grüßen an die jeweiligen Verwandten endet, doch als Major Beli Mutter Aida nach dem Verbleib von Hamdija fragt - die beiden waren offensichtlich früher befreundet -, erkennt man, wie doppelbödig diese Frage ist und wie gefährlich eine ehrliche Antwort sein könnte.

Und in all das hinein wird ein Kind geboren, ein Symbol, das jüngste Opfer in Srebrenica war ein wenige Stunden altes Baby, ein Mädchen, das Fatima genannt werden sollte. Und Aida rennt. Wie eine Löwin, mit dem Mut der Verzweiflung hat sie für ihre drei Männer gefightet, für die die plötzlich wieder befehlsgehorsamen Niederländer keinen Platz im abrückenden Konvoi freimachen wollen – die humanitäre Katastrophe ist gleichsam die Niederlage des Humanismus. Jeder Ausweg, den Aida einschlägt, endet vor neuen Hürden, neuen Hindernissen, in Sackgassen. Es ist ein Anlaufen gegen das Unvermeidliche.

Für ihr starkes Spiel hätte sich Jasna Đuričić eine Oscar-Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient gehabt. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida, in doppeltem Wortsinn eine Seherin, ist nicht nur Getriebene, sondern auch treibende Kraft, als Übersetzerin versucht sie dort zu vermitteln, wo „vernünftig“ Reden längst nichts mehr bewirken kann. Immer mehr wird sie, der die anderen bevorzugte Behandlung unterstellen, zur Zielscheibe von Neid, Wut und Frustration. In der Szene, in der sie den Flüchtlingen mitteilen muss, dass sie von den bosnisch-serbischen Soldaten nach Kladanj abtransportiert werden, Sätze, bei denen sie ihre Skrupel kaum noch runterwürgen kann, bleibt

einem selbst ein Kloss im Hals stecken. Der Strudel, der Aida in die Tiefe zieht, er hat einen längst erfasst. Was folgt ist scheußlichste Zeitgeschichte. Frauen und Mädchen werden von Männern und Jungen getrennt, was weiblich ist, in Autobusse verfrachtet, was männlich ist, weggeführt, die Selektierten jedem Schutz durch die UNPROFOR entzogen, 200 Meter von der UN-Basis entfernt laden erste Erschießungskommandos durch. Für andere geht’s statt zur „Entlausung“ zu einer „Filmvorführung“, statt Gas einzuleiten ragen Maschinengewehre durch die Oberlichten … „nur weil wir bestimmte Dinge für unvorstellbar halten, heißt das nicht, dass sie nicht geschehen können“, sagt Jasmila Žbanić in einer „Director’s Note“.

Unbegreiflich bleibt dennoch, wie 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Shoah mitten in Europa ein Massaker stattfanden konnte, das bis heute eine klaffende Wunde in den Herzen zweier, nein: dreier Völker ist. Zum 25-Jahr-Gedenken 2020 blieben die Fronten verhärtet. Bosnische Meinungsmacher betreiben Polit-Propaganda, serbische leugnen. Um Peter Handke gab’s genug Aufregung, Aufregung auch, weil die Niederlande demonstrativ ihre Srebrenica-Blauhelme ehrten, Hasan Nuhanović fordert immer noch Gerechtigkeit für sich und seine abgeschlachtete Familie.

Dies ist der Film der Stunde, der größtmögliche Aufmerksamkeit verdient, ein Film, der niemanden kalt lassen kann. Er erzählt von Srebrenica mit einer Allgemeingültigkeit für alle Schauplätze, an denen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihres demokratiepolitischen Engagements verfolgt und verschleppt werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es ist Jasmila Žbanić zu unterstellen, dass sie das Heute wie das Gestern meint, und sage keiner, „das sind andere Umstände, andere Lager, andere Gründe, unlogische, unrealistische, suchen Sie keine Begründungen zur Seite zu schauen, mit den Achseln zu zucken, das Leid nicht zur Kenntnis zu nehmen“, schreibt der Buchenwald-Überlebende Ivan Ivanji in seinem jüngsten Buch (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=45243).

Den Film beschließt ein Epilog – Achtung: Spoiler! Es ist Winter, an Aidas ergrauendem Haar sichtlich etliche Jahre später, die Lehrerin ist zurück in Srebrenica, will wieder als solche arbeiten, und fordert von der jungen Vesna, Edita Malovčić, ihre alte Wohnung zurück. Vesna stellt Aida ihren Sohn Luca als deren künftigen Erstklassler vor. Ein Augenblick, in dem sie – ist er’s wirklich? – im Stiegenhaus Lucas mit Einkaufstaschen bepackten Opa Joka sieht. Er erkennt sie nicht, grüßt freundlich, nicht alle landen im Fangnetz von Den Haag. Eine Aufnahme, in der Frauen um sterbliche Überreste im Kreis gehen, Angehörige, die vergraben, nicht beerdigt wurden, Skelette und Stoffreste – da erkennt Aida Hamdijas Sneaker.

Schnitt. Eine Schüleraufführung. In der ersten Reihe Luca, im Publikum Frauen mit bosnischem Hidzab und ohne, Muslime und Serbisch-Orthodoxe, und eine stolze Lehrerin Aida, die an der Sprossenwand lehnt. Die Kinder singen ein Lied, halten erst die Hände vors Gesicht, dann heißt es: Augen auf! Vielleicht ist ja die nächste Generation eine Friedenschance … Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=45395

www.facebook.com/quovadisaida       Jasmila Žbanić im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=91OYf2rspDQ       Original-Trailer – unbedingt ansehen: www.youtube.com/watch?v=ErLD8P4VUjY

13. 7. 2021

Museum Liaunig: Nitsch, Gironcoli und Moswitzer

April 25, 2021 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Zum Saisonstart eine „Tour de Force“

Sonderausstellung – Alte Freunde: Bruno Gironcoli. Bild: © Museum Liaunig

In der Saison 2021 präsentiert das Museum Liaunig ein abwechslungsreiches Programm: Die von Günther Holler-Schuster aus der Sammlung Liaunig kuratierte Hauptausstellung „Tour de Force – Punkt, Linie, Farbe auf dem Weg durch die österreichische Kunst nach 1945“ setzt sich mit der Entwicklung der gestischen Traditionen auseinander.

Den seit 2016 in der Sonderausstellungsreihe „Alte Freunde“ vorgestellten Künstlerinnen und Künstlern ist Herbert Liaunig seit Jahren als Freund und Sammler zugetan. 2021 wird die Serie mit wechselnden Personalen von Bruno Gironcoli und Johann Julian Taupe (1954) fortgesetzt. Im runden Skulpturendepot stehen die Werke des steirischen Bildhauers Gerhardt Moswitzer im Mittelpunkt. Und bei schönem Wetter lädt der weitläufige Skulpturenpark zu einem Spaziergang ein. Die Aufstellung unter freiem Himmel zeigt eine generationen- übergreifende Auswahl österreichischer und internationaler Künstler von der Moderne bis zur Gegenwart.

Hauptausstellung – Tour der Force

„Tour de Force“, die Hauptausstellung dieses Jahres im Museum Liaunig, versammelt etwa 200 Exponate aus der eigenen Sammlung, ergänzt nur durch einige wenige Leihgaben von Künstlern und Institutionen. Coronabedingt fiel die Entscheidung, dieses Jahr konzentrierter und ausschließlicher mit der eigenen Sammlung zu arbeiten und damit auch einen tieferen Blick auf die Neigungen und Vorlieben des Sammlerehepaars Liaunig zu ermöglichen. Das Gestische innerhalb der Malerei, die Tradition der „Nouvelle École de Paris“, wie sie nach 1945 entstanden ist, sowie die Spuren davon in Österreich waren dabei grundlegende Aspekte der Überlegung. So liegt der Zeitraum, den diese Ausstellung umfasst, etwa zwischen 1950 und heute. Einige wenige Beispiele früheren Datums erweitern den historischen Rahmen exemplarisch.

Mit 1945 passiert ein massiver Bruch innerhalb der globalen Weltordnung. Der Zweite Weltkrieg, die nationalsozialistische Schreckensherrschaft, der ideologisch motivierte, industrielle Massenmord, der Atombombenabwurf in Japan, sowie die daraus resultierende Totalzerstörung – materiell, wie ideell – sind grundlegende Faktoren, die jede weitere Entwicklung global bestimmt haben. Die Künste beziehen sich bewusst und unbewusst auf diese Ereignisse. Das Erlebnis des Traumas angesichts der Totalzerstörung war zweifellos bestimmender als dies noch bis vor Kurzen angenommen bzw. innerhalb der Kunst entsprechend artikuliert wurde. Die „Postwar-Diskussion“ der letzten Jahre hat die Sichtweise 75 Jahre nach dem Kriegsende präzisiert und erweitert. Vieles, gerade innerhalb der Malerei, kann nicht mehr ausschließlich auf formale Ziele hin argumentiert werden – die Interpretation ist differenzierter geworden.

Es ist nicht verwunderlich, dass sich gerade das Informel als internationaler Stil in dieser „Stunde Null“ als ideales Beispiel für die Diskussion um einen Neustart innerhalb der bildenden Kunst nach 1945 anbietet. Die Auflösung der Formen, die Verselbständigung der malerischen Mittel – Punkt, Linie, Fläche, gleichgesetzt mit Pinselstrich, Fleck und Materialtransformation – sind wesentliche Elemente, die aus diesem Kontext der Destruktion kommen. In der Verselbständigung des Pinselstriches, des Materials und der Performativität des Malaktes lassen sich jeweils Subgeschichten definieren bzw. entstehen in der Folge eigene Stilausprägungen – Materialmalerei, Objektkunst, Performance, Aktionismus.

In dieser Ausstellung wird die Metapher der Reise angewandt – „Tour de Force“. Auf diese Weise wird der Pinselstrich zum „Pars pro Toto“ der ästhetischen Elemente und zum Ausgangspunkt zahlreicher Entwicklungen. Ob er sich konventionell in dynamischer Geste auf die Leinwand werfen lässt oder überhaupt ganz ersetzt wird, ob er die Materialität wechselt und selbst zum Gegenstand der Darstellung wird oder er sich dreidimensional und damit im Zusammenhang mit dem Skulpturalen präsentiert, man kann ihn als Basis vielfach entdecken.

Hauptausstellung: Tour der Force. Bild: © Museum Liaunig

Hauptausstellung: Tour der Force. Bild: © Museum Liaunig

Hauptausstellung: Tour der Force. Bild: © Museum Liaunig

Hauptausstellung: Tour der Force. Bild: © Museum Liaunig

Der zentrale Ausgangspunkt ist naturgemäß das Informel. Die wesentlichen ProtagonistInnen der österreichischen Entwicklung sind dabei vertreten, ergänzt durch einige wesentliche internationale Highlights. Die Heterogenität dieser Kunstströmung wird bereits am Beginn der Ausstellung sichtbar. Somit wird sofort klar, dass es hier nicht um eine lineare Geschichtsauffassung gehen kann. Dass diese nicht aufschlussreich genug, immer nur fragmentarisch ist und von der jeweiligen – durchaus ideologisch abhängigen – Sichtweise geprägt ist, setzt sich langsam durch. Wir können nur punktuell in die Vergangenheit zurückblicken und Interpretationen anbieten. Eine verbindliche und objektive Sicht darauf mag mancherorts behauptet werden, bleibt aber immer ausschnitthaft und oft missverständlich.

Die beiden Abschnitte, links und rechts vom Zentralbereich der Ausstellung, versuchen exemplarisch den Weg des Pinselstrichs und die damit verbundenen Konsequenzen nachzuvollziehen. So wird der Pinselstrich unmittelbar nach seiner Befreiung im Informel rasch wieder zu darstellenden Zwecken eingesetzt. Expressiv, gestisch präsentieren sich Strömungen der abstrakten Malerei, ebenso wie solche der figuralen Malerei. Die ästhetischen Mittel werden zwar isoliert, bleiben bei allem Bedürfnis zur Darstellung aber als solche erhalten bzw. deutlich sichtbar. Das Bild ist in dem Moment Malerei – thematisiert die malerischen Mittel.

Auf der anderen Seite verfolgt die „Tour de Force“ den Weg des befreiten Pinselstrichs in Richtung Körper, Material und Dreidimensionalität, auch Medialität. Alles Malerische wegzulassen, es der Zerstörung anheimfallen zu lassen, die Malerei als bürgerlichen Wandschmuck zu beenden, ist der Wiener Aktionismus angetreten. Das Material konkreten Destruktionsmechanismen zu unterwerfen – Schnitte und Stiche in die Leinwand zu setzen, die Leinwand genauso wie die Ölfarbe zu ersetzen –  lässt die Materialmalerei entstehen. Die Spuren der Zerstörung werden an der Behandlung des Materials erprobt – Stiche, Schnitte, Brandspuren. Die internationale Künstlergruppe „ZERO“ bezieht sich explizit auf den „Nullpunkt“, der sich nach 1945 ergeben hat.

Im Plastischen verändert sich das Material gegenüber der Malerei naturgemäß. Damit wird auch klar, dass in diesem Fall der Pinselstrich selbst zum dargestellten Motiv transferiert wird. Im vierten Abschnitt kann man einige historische Referenzen – internationale wie österreichische – bestaunen, die im Kleinformat und in den grafischen Disziplinen vorhanden sind. Dem Publikum soll das alles sehr wohl als eine „Tour de Force“ vorkommen und einiges abverlangen. Man wird Auslassungen und Überraschungen genauso bemerken, wie man diskussionswürdige Inklusionen feststellen wird.

Mit Arbeiten von unter anderem: Herbert Boeckl, Herbert Brandl, Günter Brus, Friedrich Cerha, Tone Fink, Adolf Frohner, Maria Lassnig, Josef Mikl, Otto Mühl, Hermann Nitsch, Oswald Oberhuber, Arnulf Rainer, Max Weiler, Franz West, Heliane Wiesauer-Reiterer und Erwin Wurm.

Alte Freunde: Bruno Gironcoli. Bild: © Museum Liaunig

Alte Freunde: Bruno Gironcoli. Bild: © Museum Liaunig

Alte Freunde: Bruno Gironcoli. Bild: © Museum Liaunig

Gerhardt Moswitzer. © Robert Schad, Bild: Olaf Bergmann

Sonderausstellung – Alte Freunde: Bruno Gironcoli

Das Museum Liaunig widmet dem 2010 verstorbenen Künstler Bruno Gironcoli anlässlich seines 85. Geburtstages eine Ausstellung im Rahmen der Serie Alte Freunde“. Den seit 2016 in dieser Reihe vorgestellten Künstlerinnen und Künstlern ist Herbert Liaunig seit Jahrzehnten als Freund und Sammler zugetan. So finden sich oft ganze Werkkonvolute aus allen Schaffensphasen der meist singulären Positionen in der Sammlung, die die Grundlage dieser während der Saison wechselnden retrospektiven Personalen bilden.

Die von Peter Liaunig zusammengestellte Ausstellung gibt einen Einblick in die künstlerische Entwicklung des Bildhauers und seiner unverwechselbaren Formensprache, zeigt aber auch den Zeichner und Maler Bruno Gironcoli, der ein umfangreiches grafisches Werk hinterlassen hat. Der gelernte Gold-, Silber- und Kupferschmied studierte bei Eduard Bäumer und Eugen Meier an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien. Ein Paris-Aufenthalt 1960/61, bei dem sich Bruno Gironcoli intensiv mit dem Œu­v­re Alberto Giacomettis und dem Existenzialismus  in den Werken von Jean-Paul Sartre und Samuel Beckett  auseinandersetzte, beeinflusste den Künstler nachhaltig.

Anhand einzelner zentraler Arbeiten aus unterschiedlichen Werkphasen lässt sich die Veränderung in Gironcolis Skulpturenbegriff in der Ausstellung nachvollziehen: Von der Umsetzung der menschlichen Figur in die Dreidimensionalität am Beispiel eines Polyester-Objektes aus dem Jahr 1965, über seine Installationen im Raum, Raumwinkel und Environments, für die er Alltagsgegenstände arrangiert, bis zu seinen dichten assemblageartigen, organisch-technoiden Skulpturen. Neben frühen Akt- und Portraitstudien aus der ersten Hälfte der 1960er-Jahre und  kleinformatigen Skizzen werden in der Schau auch Zeichnungen, in denen sich Motive aus seinen Skulpturen wiederholen, und großformatige malerische Gouachen präsentiert.

Skulpturendepot: Gerhardt Moswitzer. © Robert Schad, Bild: Olaf Bergmann

Skulpturendepot: Gerhardt Moswitzer. © Robert Schad, Bild: Olaf Bergmann

Skulpturendepot: Gerhardt Moswitzer. © Robert Schad, Bild: Olaf Bergmann

Skulpturendepot – Gerhardt Moswitzer

Im runden Skulpturendepot stehen Künstler Gerhardt Moswitzer und sein skulpturales Œu­v­re im Mittelpunkt. Von 1959 bis 1961 besuchte der gelernte Werkzeugmacher die Kunstgewerbeschule in Graz und schuf erste Arbeiten aus Holz und Stein, Holz-Eisen-Montagen sowie Schrott-Skulpturen. Seit 1963 bevorzugte Moswitzer die Materialien Stahl, Aluminium und Buntmetalle. 1970 vertrat der junge Künstler Österreich auf der Biennale di Venezia. Zahlreiche Ausstellungen, Preise sowie die Realisierung von Arbeiten im öffentlichen Raum sollten folgen. 1974 übersiedelte er nach Wien und arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 2013 in seinem „Refugium“, einem der Bildhauerateliers des Bundes am Rande des Praters.

In der von Peter Liaunig zusammengestellten Ausstellung sind Beispiele seiner wichtigsten  Werkgruppen vertreten: Frühe Arbeiten aus den Jahren, strukturierte Stäbe und Scheiben, Turbinen, Könige und „Minis“ aus den 1960er-Jahren, ein Schattenwürfel, Werke aus den Serien „Gläser“ sowie „Kreisel und Raum“ aus den 1970er-/1980er-Jahren und seine späten Rahmenkonstruktionen und Schachtelskulpturen. Neben seinem bildhauerischen Schaffen widmete sich Moswitzer seit den 1980er-Jahren der Komposition experimenteller Musik und der Arbeit am Computer. Es entstanden Tonbandaufzeichnungen, abstrakte Hörbilder, Fotografien, Videoarbeiten, Animationen sowie „digitale Skulpturen“.

www.museumliaunig.at

25. 4. 2021

Academy Awards – „Quo vadis, Aida?“ ist auch für Österreich im Rennen um den Auslands-Oscar

März 24, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Massaker von Srebrenica, die Schande Europas

Die Dolmetscherin Aida Selmanagić sucht unter 25.000 Flüchtlingen ihren Ehemann Nihad und ihre beiden Söhne Hamdija und Sejo: Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Mit etwas Glück, kann auch Österreich an den diesjährigen Academy Awards teilhaben: Der Spielfilm der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić „Quo vadis, Aida?“ ist in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert, zusammen mit Einreichungen aus Hongkong, Rumänien, Tunesien – und Thomas Vinterbergs „Der Rausch“ als dänischem Beitrag.

An der europäischen Koproduktion sind außer Bosnien-Herzegowina sieben weitere Länder beteiligt, aus Österreich die coop99 filmproduktion mit den Koproduzenten Barbara Albert, Antonin Svoboda und Bruno Wagner – die bereits vielfach ausgezeichnete Arbeit, die am 7. Mai in den heimischen Kinos anlaufen soll, hätte sich den Auslands-Oscar mehr als verdient; in Venedig musste man den Goldenen Löwen knapp an Chloé Zhaos „Nomadland“ abtreten … Hier die Filmrezension:

Jasna Đuričić wäre eine Nominierung wert gewesen

Aida rennt. Sie hastet durch Korridore, irrt durchs Labyrinth der früheren Batteriefabrik, vorbei an den Blauhelmen, durchs provisorisch eingerichtete Lazarett, hinaus ins so unfreie Freie, wo 25.000 bosnische Flüchtlinge vergeblich auf Einlass ins UNPROFOR-Quartier in Potočari hoffen. Es ist der 11. Juli 1995, so auch ein früherer Titel des Films: „11th of July“, die Menschen kommen aus Srebrenica – womit sich mehr zu erläutern eigentlich erübrigt. Aida erklimmt das Wärterhäuschen am Schranken, „Nihad, Hamdija, Sejo!“ ruft sie, doch wie unter den vielen hier Ehemann und Söhne finden?

„Quo vadis, Aida?“ der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić ist ein Film, der wehtut. So richtig wehtut. Und das ist gut so. Das Massaker von Srebrenica ist die Schande Europas, und nicht die letzte, wie man anno 2021 weiß. Sieht man die Bilder dieser am Zaun ihrer Überlebenschance abgewiesenen Männer, Frauen, Kinder, muss man unweigerlich an jüngere Ereignisse denken. Derart spannt der Film einen Bogen zu Moria, Kara Tepe, Europas Außengrenzen, Lipa, tatsächlich an der bosnisch-kroatischen. „Quo vadis, Aida?“ ist kein Plädoyer, es ist ein Appell.

Žbanić, selbst Überlebende des Bosnienkriegs, Mitglied des „Democracy in Europe Movement 2025“, Unterzeichnerin der „Deklaration zur gemeinsamen Sprache der Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner“, ließ sich für ihr Skript vom Buch über den Völkermord in Srebrenica des Übersetzers für die UN-Truppen Hasan Nuhanović inspirieren. Diese Dolmetscherin ist nun Aida Selmanagić, die Jasna Đuričić mit einer Eindringlichkeit, einer Unmittelbarkeit spielt, für die sich der serbische Theater- und Kinostar eine Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient hätte.

Eben noch hatte Colonel Karremans den an Hunger sterbenden – denn die bosnisch-serbische Armee ließ keine Hilfslieferungen zu – Srebrenicern erklärt, in der „Schutzzone“ seien sie sicher, da schlagen die Granaten ein, rollen Panzer an, Kriegsherr, Kriegsverbrecher Ratko Mladić im Machtrausch, Darsteller Boris Isaković auch von einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit. „Ich schenke diese Stadt dem serbischen Volk“, verkündet der General in die Fernsehkamera, dieser ständigen Begleiterin seines Eroberungsfeldzugs. Seine „ethnische Säuberung“ wird 250.000 Tote fordern, 1.3 Millionen Flüchtlinge, geschätzte 20.000 bis 50.000 Vergewaltigungsopfer – in Srebrenica wurden 8372 muslimische Männer und Jungen ermordet -, der schlimmste Genozid in Europa seit dem Dritten Reich.

Und die Menschen laufen mit Sack und Pack, Gehbehinderte in Schubkarren, Mütter, die ihre Kinder im Chaos verloren haben, Verletzte, eine Kuh als letztverbliebenes Hab und Gut. Die Statistinnen und Statisten aus Stolac und Mostar, das ist die Stadt an der Brücke Stari Most, sind mit großer Ernsthaftigkeit bei der Sache. Jede und jeder auf den die Grazer Kamerafrau Christine A. Maier, bekannt für Barbara Alberts „Licht“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27053) oder Ruth Maders „Life Guidance“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27841), zoomt, verkörpert einen Charakter, Gesichter, die um das wissen, was hier geschildert wird, Gesichter, die man so schnell nicht vergisst.

Rückblende: Aidas Erinnerungen an einen unernsten Beauty-Contest in Srebrenica. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Niederländer wollen nicht helfen, Aida ist ratlos und verzweifelt: Jasna Đuričić:. Bild: © Polyfilm Verleih

Ratko Mladić-Mann Joka provoziert Major Franken: Emir Hadžihafizbegović und Raymond Thiry. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Unterhändler unterwegs zu Mladić: Rijad Gvozden als Muharem, Johan Heldenbergh als Colonel Karremans und Jelena Kordić-Kuret als Chamila. Bild: @ Polyfilm Verleih

Tausende landen im UNO-Gelände in Potočari, wo bald chaotische Zustände herrschen. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida erklärt den Flüchtlingen, dass sie deportiert werden: Raymond Thiry und Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Ob’s nun heißt, die Basis ist voll oder das Boot ist voll, das Dutchbat ist von der Situation völlig überfordert. Karremans telefoniert vergeblich um Luftunterstützung, die NATO-Generalität urlaubt um diese Jahreszeit. Später wenn Mladićs Tschetniks mit der Unverfrorenheit der Sieger den UN-Stützpunkt nach muslimischen Freischärlern durchsuchen, wenn der abgebrühte, herrlich großsprecherische Joka von Emir Hadžihafizbegović den diensthabenden Major Franken, Raymond Thiry, wie einen Schulbuben abkanzeln wird, werden dessen Jungs in ihren lächerlichen kurzen Camouflage-Hosen ob all des Leids rund um sie den Tränen nahe sein.

Aida, von den Niederländern überdeutlich als Untergebene behandelt, hat es zwischenzeitlich geschafft, ihre Familie ins Camp zu holen, indem sie ihren Mann und ehemaligen Schuldirektor Nihad für die Gruppe der Unterhändler, die Mladić zu sehen verlangt, vorschlägt. Auch Izudin Bajrović als in sich gekehrter Nihad, Boris Ler als nervlich schwer angeschlagener Hamdija und Dino Bajrović als dessen jüngerer Bruder Sejo agieren mit einer Authentizität, die gespenstisch, die kaum auszuhalten ist.

Ebenso Jelena Kordić-Kuret als Chamila und Rijad Gvozden als Muharam, die mit Nihad das „Verhandlerteam“ bilden. Chamila, die sich auf ekelhafte Art nach Waffen abtasten lassen muss, während der niederländische Soldat nach der Losung „Wir dürfen die Serben nicht reizen!“ schweigt, Rijad Gvozden, der als Kriegswaise im SOS-Kinderdorf in Gračanica aufwuchs, und der’s als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur auf die Kinoleinwand schaffte.

Die Anspannung, die Todesangst, die Panik, das Unverständnis über den Hass der gerade noch gewesenen Hausnachbarn ist förmlich mit Händen zu greifen, das nahende Unheil liegt in der Luft, Gerüchte von Vergewaltigungen und Erschießungen gehen um. Zu den nach außen hin ruhig ausharrenden Flüchtlingen mengt Jasmila Žbanić den Kommandoton, im Grunde Ohnmachtsschrei der Soldaten, stille Minuten des Zusammensitzens mit dem mitfühlenden Arzt Dr. Robben, Reinout Bussemaker, ein kleines Lachen, ein schneller Kuss, in der Rückblende Aidas Erinnerung an einen nicht ganz ernst gemeinten Beauty-Contest. Beim Kolo, beim Reigentanz, hält die Kamera inmitten der ausgelassenen Stimmung wie versteinerte Mienen fest. Sind diese Menschen tot, klagen sie uns an, war der oder der nicht unter den Widerstandskämpfern zu sehen?

Momente sind das. Blauhelme mit gesenkten Köpfen vs. die serbischen Herrenmenschen, die Furcht vor Mladićs Unberechenbarkeit so enorm, dass die Niederländer alle Prinzipien, alle Vorschriften außer Acht lassen. Die UNPROFOR, die der General sowieso deppert anrennen lässt, ohne Benzin, ohne Nahrungsmittel, erst die Tschetniks bringen Brot ins Lager, welch ein Armutszeugnis, was muss Mladić gelacht haben. Chamila, die im Gegenüber von Ermin Bravo einen ehemaligen Mitschüler erkennt, die Vorkriegs-Lehrerin Aida im brutalen Beli von Jovan Zivanovic einen früheren Schüler – ein kurzer Dialog, der mit Grüßen an die jeweiligen Verwandten endet, doch als der Major nach dem Verbleib von Hamdija fragt - die beiden waren offensichtlich früher befreundet -, erkennt man, wie doppelbödig diese Frage ist und wie gefährlich eine ehrliche Antwort sein könnte.

Und in all das hinein wird ein Kind geboren, ein Symbol, das jüngste Opfer in Srebrenica war ein wenige Stunden altes Baby, ein Mädchen, das Fatima genannt werden sollte. Und Aida rennt. Wie eine Löwin, mit dem Mut der Verzweiflung hat sie für ihre drei Männer gefightet, für die die plötzlich wieder befehlsgehorsamen Niederländer keinen Platz im abrückenden Konvoi freimachen wollen – die humanitäre Katastrophe ist gleichsam die Niederlage des Humanismus. Jeder Ausweg, den Aida einschlägt, endet vor neuen Hürden, neuen Hindernissen, in Sackgassen. Es ist ein Anlaufen gegen das Unvermeidliche.

Für ihr starkes Spiel hätte sich Jasna Đuričić auch eine Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida, in doppeltem Wortsinn eine Seherin, ist nicht nur Getriebene, sondern auch treibende Kraft, als Übersetzerin versucht sie dort zu vermitteln, wo „vernünftig“ Reden längst nichts mehr bewirken kann. Immer mehr wird sie, der die anderen bevorzugte Behandlung unterstellen, zur Zielscheibe von Neid, Wut und Frustration. In der Szene, in der sie den Flüchtlingen mitteilen muss, dass sie von den bosnisch-serbischen Soldaten nach Kladanj abtransportiert werden, Sätze, bei denen sie ihre Skrupel kaum noch runterwürgen kann, bleibt

einem selbst ein Kloss im Hals stecken. Der Strudel, der Aida in die Tiefe zieht, er hat einen längst erfasst. Was folgt ist scheußlichste Zeitgeschichte. Frauen und Mädchen werden von Männern und Jungen getrennt, was weiblich ist, in Autobusse verfrachtet, was männlich ist, weggeführt, die Selektierten jedem Schutz durch die UNPROFOR entzogen, 200 Meter von der UN-Basis entfernt laden erste Erschießungskommandos durch. Für andere geht’s statt zur „Entlausung“ zu einer „Filmvorführung“, statt Gas einzuleiten ragen Maschinengewehre durch die Oberlichten … „nur weil wir bestimmte Dinge für unvorstellbar halten, heißt das nicht, dass sie nicht geschehen können“, sagt Jasmila Žbanić in einer „Director’s Note“.

Unbegreiflich bleibt dennoch, wie 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Shoah mitten in Europa ein Massaker stattfanden konnte, das bis heute eine klaffende Wunde in den Herzen zweier, nein: dreier Völker ist. Zum 25-Jahr-Gedenken 2020 blieben die Fronten verhärtet. Bosnische Meinungsmacher betreiben Polit-Propaganda, serbische leugnen. Um Peter Handke gab’s genug Aufregung, Aufregung auch, weil die Niederlande demonstrativ ihre Srebrenica-Blauhelme ehrten, Hasan Nuhanović fordert immer noch Gerechtigkeit für sich und seine abgeschlachtete Familie. Nur eine angesichts dieser Konflikte feige Academy-Awards-Jury kann „Quo vadis, Aida?“ den Auslands-Oscar vorenthalten.

Dies ist der Film der Stunde, der größtmögliche Aufmerksamkeit verdient, ein Film, der niemanden kalt lassen kann. Er erzählt von Srebrenica mit einer Allgemeingültigkeit für alle Schauplätze, an denen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihres demokratiepolitischen Engagements verfolgt und verschleppt werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es ist Jasmila Žbanić zu unterstellen, dass sie das Heute wie das Gestern meint, und sage keiner, „das sind andere Umstände, andere Lager, andere Gründe, unlogische, unrealistische, suchen Sie keine Begründungen zur Seite zu schauen, mit den Achseln zu zucken, das Leid nicht zur Kenntnis zu nehmen“, schreibt der Buchenwald-Überlebende Ivan Ivanji in seinem jüngsten Buch (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=45243).

Den Film beschließt ein Epilog – Achtung: Spoiler! Es ist Winter, an Aidas ergrauendem Haar sichtlich etliche Jahre später, die Lehrerin ist zurück in Srebrenica, will wieder als solche arbeiten, und fordert von der jungen Vesna, Edita Malovčić, ihre alte Wohnung zurück. Vesna stellt Aida ihren Sohn Luca als deren künftigen Erstklassler vor. Ein Augenblick, in dem sie – ist er’s wirklich? – im Stiegenhaus Lucas mit Einkaufstaschen bepackten Opa Joka sieht. Er erkennt sie nicht, grüßt freundlich, nicht alle landen im Fangnetz von Den Haag. Eine Aufnahme, in der Frauen um sterbliche Überreste im Kreis gehen, Angehörige, die vergraben, nicht beerdigt wurden, Skelette und Stoffreste – da erkennt Aida Hamdijas Sneaker.

Schnitt. Eine Schüleraufführung. In der ersten Reihe Luca, im Publikum Frauen mit bosnischem Hidzab und ohne, Muslime und Serbisch-Orthodoxe, und eine stolze Lehrerin Aida, die an der Sprossenwand lehnt. Die Kinder singen ein Lied, halten erst die Hände vors Gesicht, dann heißt es: Augen auf! Vielleicht ist ja die nächste Generation eine Friedenschance …

www.facebook.com/quovadisaida           Trailer: www.youtube.com/watch?v=ErLD8P4VUjY          Jasmila Žbanić im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=91OYf2rspDQ           Streaming: www.curzonhomecinema.com/film/watch-quo-vadis-aida-film-online

  1. 3. 2021

Hauptsache Koscher!

Juni 14, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine großartige Hommage an den jüdischen Humor

Aus dem Repertoire einer vertriebenen Revue- und Kabarettkultur: Bruno Salomon, Tania Golden, Shlomit Butbul und Wolfgang Schmidt. Bild: Screenshot „Hauptsache Koscher!“

„Hauptsache Koscher, oder auch nicht“, ein Streifzug durch den jüdischen Humor mit Szenen und Chansons aus dem Repertoire einer lange vertriebenen Revue- und Kabarettkultur – so sollte das Programm heißen, und am 14. März in der ArenaBar seine Uraufführung haben.

Dann kam #Corona. Doch das darbietende Quartett, Tania Golden, Shlomit Butbul, Bruno Salomon und Wolfgang Schmidt ließ sich vom Lockdown nur kurzzeitig aus der Kurve tragen und schmiedete geänderte Pläne.

Gemeinsam mit Videofilmer André Wanne, Sohn der 92-jährigen Theaterprinzipalin Helene Wanne, und Susanne Höhne, die ihre Textcollage in ein Drehbuch verwandelte, beschloss man den Abend mit der Kamera festzuhalten. Entstanden ist so eine großartige Hommage, jüdisches Kabarett einmal anders, nämlich modern, schräg, schrill, die Geschlechterklischees negierend oder nonchalant infrage stellend – und zu sehen ab 17. Juni, 19 Uhr, bei 4GAMECHANGERS Roomservice.

Butbul, Golden, Salomon und Schmidt holen die philosophisch-witzige und zum Großteil vergessene Literatur spielend und singend ins 21. Jahrhundert. Sie interpretieren Friedrich Holländer, Fritz Grünbaum, Karl Farkas, Roda Roda, Ralph Benatzky, Louis Taufstein, Robert Neumann und Elfriede Gerstl auf ihre eigene, ganz besondere Art. Einige der Couplets wurden dafür von Wolfgang Schmidt neu vertont, etwa Armin Bergs „Ja, man wird ja so bescheiden“ mit Mundschutz, da die vier in schönster Quarantäne-Klaustrophobie.

Tania Golden singt Karl Farkas‘ „Abschied von New York“. Bild: Screenshot „Hauptsache Koscher!“

Bruno Salomon als Servierfräulein im Sketch „Zechprellen“. Bild: Screenshot „Hauptsache Koscher!“

Shlomit Butbul und Wolfgang Schmidt mit Ralf Benatzkys „Das Rätsel des Lebens“. Bild: Screenshot „Hauptsache Koscher!“

Die Damen diesmal besonders herrlich handgreiflich: Shlomit Butbul und Tania Golden. Bild: Susanne Höhne

Golden und Butbul sind auch hinreißende Herren, erstere als Stammgast Schöberl im ein wenig derangierten Etablissement, in gewisser Weise Conférencier und eine qualtingereske Wirtshausfigur, die sich – so viel zum Titel: Hauptsache, das Essen ist koscher und billig  – im „In der Suppe“-Witz von Salcia Lanzmann mit „Servierfräulein“ Bruno Salomon in die nicht vorhandenen Haare kriegt, bevor sie sich in Karl Farkas‘ „Zechprellen“ mit Shlomit Butbul um die Meisterschaft im Schnorren matcht.

Was das goldene Wienerherz ausmacht, ist die jüdische Seele, das zeigen die Verwandlungskünstler hier vom Feinsten, ein zerdeptschter Hut, eine zerschlissene Spitzenbluse reichen, schnell ist man Schmähtandler, Abzocker, Amtsirrläufer, Schmock, der Einedrahrer mit die besten Ezes, der Machatschek mitm größten Mazel, der Einseifer mit da größtn Chuzpe. Butbul, Golden, Salomon und Schmidt können’s in allen Jargons der Stadt. Gruselig und komisch zugleich, denn ja, es ist schon wieder so weit, wie Butbul Roda Rodas „Darwinismus“ vorträgt, die Geschichte von den einst so stolzen Löwen, die nur überleben können, wenn sie sich an die Mehrheit Menschheit anpassen. Integrieren, assimilieren.

Zum Schmunzeln, wie Salomon in saloppem Gigerl-Slang Taufsteins & Holländers „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ männeremanzipiert umdeutet. Wer das Raunzen erfunden hat, „die Antisemiten oder die Israeliten?“, man kann’s nach dieser Aufführung nicht eindeutig sagen, wiewohl eine reiche Auswahl an Sudern und Räsonieren bis Sich-Aufpudeln und Pahöll-Machen geboten wird. Wunderbar, wie André Wanne die ArenaBar als AltWiener Beisl, Jukebox-Café oder Nachtclub zu nutzen weiß.

Ein großartiger Streifzug durch den jüdischen Humor: Bruno Salomon, Shlomit Butbul, Wolfgang Schmidt, Tania Golden. Bild: André Wanne

In letzterer Atmosphäre singt Shlomit Butbul angetan mit Lockenwicklern und Kittelschürze das Highlight des Abends, Ralf Benatzkys „Das Rätsel des Lebens“, Madame Lizzys Kampf mit der Waage in dramatischstem Arienton, während der Golden das Gesicht entgleist. Die später, angelehnt an den Musikautomaten, über den „Abschied von New York“ sinniert.

„Hauptsache Koscher!“ ist eine Reise von den flirrenden, verrückten 1920er-Jahren, als die Welt gerade aufhörte, in Ordnung zu sein, in ihre Nachkriegszeit, der am Nationalsozialismus erkrankte noch immer nicht und bis heute nicht genesene Kontinent Europa.

Der es Heimkehrern mit seiner hiesigen „Mir wern kann Richter brauchen“- Mentalität schwer macht. „Sind Volksgenossen jetzt schon wieder Spezi?“, ist die gestellte Frage, die dem heutigen Publikum Gänsehaut bereitet. Butbul, Golden, Salomon und Schmidt verstehen sich nicht nur auf Schmonzes, sondern auch auf Tacheles reden. Robert Neumanns „Teuto“ aus seinem Parodien-Band „Mit fremden Federn“ ist das Paradebeispiel dafür. Und wenn Bruno Salomon das wiedergibt, beim Abschminken in der Künstlergarderobe, diese bitterböse Persiflage aufs rechtsgesinnte Heldengedicht, dann bleibt einem das Lachen im Hals stecken.

Am Ende die vier vor symbolisch leerer Bühne. Ein Glück, dass sie sie wieder mit Leben gefüllt haben. „Hauptsache Koscher!“ ist die Empfehlung für Connaisseurs und zum Kennenlernen des jüdischen Humors. Oder wie einer dessen legendärsten Könner simpl sagte: „Schau’n Sie sich das an!“ Der Film wird ab 17. Juni, 19 Uhr, von 4GAMECHANGERS gestreamt. Tickets: 5 Euro – der gesamte Erlös geht an die Künstler.

Trailer: player.vimeo.com/video/426174565

Ticketcode: tickets.4gamechangers.io/shop/broadcast/registrations#koscher1

14. 6. 2020

National Theatre online: Frankenstein

Mai 3, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Benedict Cumberbatch brilliert als Monster wie Victor

Benedict Cumberbatch und Jonny Lee Miller spielen alternierend das Monster und dessen Schöpfer Victor Frankenstein. Bild: Clare Nicholson

Etwas wahrhaft Einmaliges bietet das Londoner National Theatre nun im kostenlosen Stream an: Mary Shelleys „Frankenstein“, für die Bühne adaptiert von Nick Dean, inszeniert vom als Filmemacher bekannten Danny Boyle – mit Superstar Benedict Cumberbatch und Boyles „Trainspotting“- Longtime-Companion Jonny Lee Miller in den Hauptrollen. Und dies alternierend! Zu sehen bis 8. Mai auf ntlive.nationaltheatre.org.uk.

Die Inszenierung ist mit einem Wort brillant. Boyle und Dean konzentrieren sich auf das Opfer der Wissenschaft, heißt: das „Monster“, erst nach mehr als der Hälfte der zweistündigen Spielzeit hat Victor Frankenstein seinen Auftritt, und entstanden ist so ein intensiver, intelligenter, von humanistischem Denken durchtränkter Abend. Eigentlich zwei, denn es lohnt, beide Versionen anzuschauen, da beide Darsteller doch differente Auffassungen der Schöpfung und ihres obsessiven Schöpfers verkörpern. Ihre Performances zu vergleichen, ist ein unvergleichliches Theatervergnügen.

Durch die schauspielerische Dopplung wird die Charakterspiegelung umso deutlicher, wird einer umso deutlicher des anderen Alter Ego, sehr heutig mutet diese Furcht vor dem Fremden und dem Unverständlichen an, auf das ergo Jagd gemacht werden muss, aber auch Mary Shelleys Aufbegehren gegen ungerechte sozial-gesellschaftliche Strukturen findet seinen modernen Widerhall. Wer jedoch, to cut a long story short, nur für eine Aufführung Zeit findet, sollte Miller als Kreatur und Cumberbatch als Victor wählen.

Das Setting, das Ausstatter Mark Tildesley und Lichtdesigner Bruno Poet, nomen est omen, entworfen haben, ist atemberaubend. Unterm rotglimmenden und elektrische Blitze aussendenden Sternenzelt wird unter Schmerzen die Kreatur geboren, als künstliche Gebärmutter steht eine riesige Hautmembran auf der blutig beleuchteten Bühne, darin pulst und bewegt es sich, bis es herausfällt – das Neugeborene, ecce homo, nackt und erbarmungswürdig, zappelnd wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Und der Schöpfer? Kein liebevoller Vater, sondern einer, der’s mit der Angst kriegt und seinen Schutzbefohlenen verstößt, direkt vor die Eisenbahn, auf deren dampfender Lokomotive Danny Boyles liebste Brit-Band Underworld, Karl Hyde und Rick Smith, nun angebraust kommt, als wär‘ das Industriezeitalter aller Laster Anfang. Mit „Dawn of Eden“ (www.youtube.com/watch?v=LLbbWlTgS4w) untermalt diese musikalisch, wie die Kreatur aufsteht, herumstolpert, sich an der Natur erfreut und ihr ausgeliefert ist, der eigenen wie Spatzenschwarm und Regenguss, verprügelt und halb verhungert, bis sie ein Buch findet, 〈Mary Shelleys?〉, und kichernd die Seiten rascheln lässt.

Miller wie Cumberbatch leisten körperliche Schwerstarbeit, die Performance aus sabberndem Grunzen und spastischen Gesten im Bildschirm-Closeup in ihren feinsten Nuancen zu würdigen, sehr symbolisch ist, was passiert – und in cineastischem Sinne sinnlich. Cumberbatchs Kreatur besitzt Humor wie Pathos: Sein Eintritt in die Welt ist ein hilfloses Hineinwackeln ins Land kindlicher Neugier; unter De Laceys Fittichen wird er zum Schüler – Karl Johnsohn auch als verarmter, vom Großbürger zum Altbauern gewordener Blinder ein King Lear.

Und wunderbar tragikomisch ist, wie der Lehrmeister seines Pflegesohns „Piss off! Bugger off!- denn etwas anderes hatte der zuvor nie gehört -Wortschatz erweitert. „Someone will love you, whoever you are. Love can overcome prejudice“, sagt De Lacey, der des Monsters Zurichtung freilich nur ertasten kann, und dieses erwidert erstaunt: „What is love?“ Da hat das Live-Publikum gut lachen, bei den Dialogen zwischen dem zaghaften Erkunder seiner Existenz und dem Philosophen, der weniger an Gott, denn an Verstand und Vernunft glaubt.

Benedict Cumberbatch und Haydon Downing. Bild: Catherine Ashmore

Benedict Cumberbatch und Jonny Lee Miller. Bild: Catherine Ashmore

Naomie Harris und Benedict Cumberbatch. Bild: Catherine Ashmore

Episch ist’s, wie Cumberbatch John Miltons „Paradise Lost“ rezitiert, und ergreifend, wie er die Friedhofserde als seinen Ursprungsort erkennt, entsetzlich, als er empört über seine neuerliche Vertreibung durch De Laceys Sohn Keusche samt Bewohnern niederbrennt. „I sweep to my revenge,“ diesen Satz schreit auch Jonny Lee Miller, doch seine Kreatur ist ungleich animalischer, auf eine gewisse Art männlicher, also gefährlicher, die Stimme rauer, tiefer, lauter, also aggressiver. Dass das Monster an Ella Smiths „Gretel‘s“ Schoß schnüffelt, hatte man bei Cumberbatch gar nicht bemerkt, auch nicht, dass es der Dirne den Schnaps aus der Hand nimmt, trinkt, spuckt.

Und auch die Tanzillusion von Andreea Paduraru als Female Creature wird durch Millers Reaktion zum eindeutig sexuell konnotierten Traum. Dazu passt nun neckisch De Laceys „Was it a good dream?“ – „It was pleasing!“, doch grauenhaft klar wird erst bei diesem zweiten Mal Sehen, dass Eva hier bereits ihr Ende andeutet. Wirkt Cumberbatch wie ein naiv Wissbegieriger, so Miller als ein verzweifelt Suchender, wo der eine schüchtern nachhakt, muss der andere vehement widersprechen. Mit Miller mutet die Inszenierung insgesamt gewalttätiger an, gegen Miller ist das Cumberbatch-Monster ein Elegiebürscherl, welch ein Paradebeispiel dafür, wie ein Protagonist das große Ganze prägt.

Wenn Millers Monster Frankensteins kleinen Bruder William auf seine Schultern hebt, bangt man in der Minute um dessen Leben. Bei Cumberbatch gehört die Schuld dafür, da ja zum Mord getrieben, letztlich Victor. Und als die Kreatur Victors Braut vergewaltigt, bevor sie sie tötet, ist es, als würde sie lediglich die dunklen, unterdrückten Wünsche ihres Schöpfers erfüllen. Jonny Lee Miller ist ein obsessiv-eisiger Wissenschaftler, der sein Werk vor die Liebe stellt, denn auch er kennt deren wahre Bedeutung nicht, sein Frankenstein ganz Herrenmensch, selbstgerecht und frauenverachtend, nur George Harris als sein Vater ist noch herrischer als er.

Nach der Panik in der Anfangssequenz platzt er nun vor Stolz auf sein großes Experiment, dies Ausdruck seines großen Geistes, und wird von Cumberbatchs Kreatur darob als „genius“ verspottet. Auf Millers überraschtes „It speaks!“ schleudert diese ihm ihre tiefe Verachtung entgegen – warum sie gemacht wurde? „To prove that I could!“ – „So you make sport with my life?“ – „In the cause of science!“ Und wieder Paradise Lost, und Cumberbatch sagt: „God was proud of Adam, but it’s Satan I sympathize with.“ Wie aus der natürlichen Veranlagung zum Guten durch gesellschaftliche Deformation Böses entsteht, wow! Nick Dean!

Der in der Figur von Frankensteins Dauerverlobter Elizabeth auch Mary Shelleys feministischer Kritik an der männlichen Usurpation des Gottesbegriffs zu ihrem Recht verhilft. Millers Frankenstein, der Egomane mit dem Gottkomplex, wird also in dieser Auseinandersetzung dank des Monsters Logik an die Wand argumentiert, die Szene das Herzstück der Aufführung, da begegnen sich zwei Ebenbürtige auf Augenhöhe, sowohl was die Charaktere als auch deren Darsteller betrifft. Und über allem steht Danny Boyles Frage zu Deans von Glaubensfragen durchzogenem Text – nämlich, wer das Monster ist, wer abstoßend, wer ekelerregend.

Beider Hybris ist herausragend, was Wunder, dass sie einen Pakt schließen, was Wunder, dass einer des anderen darling – und beide Male ist sie Frankensteins Braut – killen wird. Mary Shelleys zweiten Romantitel „The Modern Prometheus“ bedient Cumberbatch, indem er aus diesem eine Lord-Byron’sche Figur macht. Sein Frankenstein ist ein nobleman mit jungenhaftem Charme, gleichzeitig ein in sich und seine wissenschaftlichen Theorien versponnener Forscher, subtiler im Gift und Galle Spucken, enthusiasmiert und hibbelig, sobald das neue Projekt der Leichenteil-Braut ansteht.

Benedict Cumberbatch. Bild: Catherine Ashmore

Naomie Harris und Jonny Lee Miller. Bild: Catherine Ashmore

Karl Johnson und Cumberbatch. Bild: Catherine Ashmore

Underworld mit Ensemble. Bild: Catherine Ashmore

In beiden Rollen verhalten sich die Proportionen Millers zu Cumberbatchs wie eine archaische Religion zur reformierten Kirche, ist Millers Monster verstörender und einen emotional angreifender, so Cumberbatchs Frankenstein ein Künstler. Schock und Spaß sitzen nun an anderer Stelle, die Schlüsselszene ist jetzt die Präsentation der weiblichen Kreatur, ob der der grüblerische Schöpfergott und sein entfesselter Satan rasch zu Rivalen im Wettstreit ums ewige Weib werden.

Der Januskopf im Auge-um-Auge-Kampf, da hat auch Cumberbatchs „Mein Herz schlägt wie deines“-Griff an Elizabeths Busen nichts Harmloses mehr, weil sich Miller danach in den Schritt greift. The Erbsünde-apple is eaten, um’s Denglisch zu formulieren, he will harm her, und fabelhaft ist, wie sich die Mit- auf vier verschiedene Hauptakteure eingelassen haben. Allen voran Naomie Harris als Elizabeth, die dem Monster als gute Christin mit Mitgefühl begegnet und dafür dessen Rechnung mit Frankenstein bezahlt, ihre Schändung zweifellos der affektive Höhepunkt in deren Ringen, sein zu wollen, wer man ist und wer einen daran hindert.

Harris verleiht Elizabeth große Tiefe und harmoniert mit Miller wie Cumberbatch hervorragend, keineswegs unterwürfig konfrontiert sie ihren Endlich!-Ehemann mit der Klage, warum er ein künstliches Kind, statt eines so sehnlich gewünschten mit ihr erschaffen hat, eine Szene voll aufgestauten Leids und Leidenschaften. Den düsteren leeren Raum mit seiner ahnungsvollen Atmosphäre durchbricht Boyle mit kleinen skurrilen Momenten, wie’s nur die Briten können.

Mark Armstrong als Rab und John Stahl als dessen Onkel Ewan sind kauzige Grabräuber, die beim Buddeln unbeschwert in originellem Orcadian-Dialekt schwatzen, darin Hamlets Totengräbern nicht unähnlich, ebenso wie Ella Smith sowohl als des Monsters Prostituierte Gretel als auch als Frankensteins Bedienstete Clarice eine Falstaff-Frau ist. Hayden Downing ist als William Typ wohlerzogener Spitzbub.

Fazit: Cumberbatch und Miller brillieren in allen Facetten von Wahnsinn, ist des ersteren Kreatur ein sensibler Intellektueller, überzeugt Miller mit Gefühl und Furor. Kann Cumberbatch auch das lächerlich Selbstverliebte in Frankenstein zum Vorschein bringen, so Miller dessen irritierende Skrupellosigkeit. Der Rollentausch hebt die Ironie des Gezeigten hervor, wie schnell sich in der Welt doch der Platz von Herr und Sklave drehen, und am Ende … bleiben beide für immer Verbundene. Hier im ewigen Eis. Eine Warnung für zartbesaitete Gemüter: Bei der Brautkammerszene wäre ich vor Schreck fast vom Stuhl gefallen. Und das zweimal, nein!, eigentlich: viermal.

Cumberbatch und Jonny Lee Miller. Bild: Catherine Ashmore

Cumberbatch und Jonny Lee Miller. Bild: Catherine Ashmore

Cumberbatch als Monster, bis 7. Mai: www.youtube.com/watch?v=tl8jxNrtceQ&feature=youtu.be

Cumberbatch als Victor Frankenstein, bis 8. Mai: www.youtube.com/watch?v=dI88grIRAnY&feature=youtu.be

www.nationaltheatre.org.uk           ntlive.nationaltheatre.org.uk

Trailer: www.youtube.com/watch?v=DmkQHV8e4Rk          www.youtube.com/watch?v=XKNNZKAu12g            www.youtube.com/watch?v=9NPlf4CEExU           www.youtube.com/watch?v=psAtbHDdaOU&t=23s

Benedict Cumberbatch, Jonny Lee Miller, Danny Boyle und Nick Dear im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=wanlO8fb1co           www.youtube.com/watch?v=E67Ty4diDgE           www.youtube.com/watch?v=8yUMbxSTWqg

3.5. 2020