Theater der Jugend: Krieg der Welten

Juni 2, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Im Garten Erde schmarotzt der Parasit Mensch

Rette sich, wer kann, die Aliens rücken an: Maria Astl, Uwe Achilles, Johanna Hainz, Enrico Riethmüller, Soffi Povo und Valentin Späth. Bild: © Rita Newman/TDJ

„Der Krieg der Welten“ ist als 1898 veröffentlichte Dystopie von H. G. Wells ein Klassiker der Sci-Fi-Literatur. Legendär auch das Hörspiel von Orson Welles, die fiktive Reportage über den Alien-Angriff, der zu Halloween 1938 eine Massenpanik und die höchst zeitgemäße Frage nach der Medien Kompetenz und Verantwortung auslöste. Verfilmungen gibt’s en masse, Stephen Spielberg mit Tom Cruise, Roland Emmerichs Wells-Hommage „Independence Day“, die Satire

„Mars Attacks!“ von Tim Burton … Mark Slee machte aus dem Stoff eine Mockumentary, die einen Angriff von Marsianern nach Wells‘schem Vorbild als Alternativszenario zum Ersten Weltkrieg entwarf. Nun also eine Uraufführung im Theater der Jugend. Regisseur Jethro Compton hat entlang der Vorlage eine neue Bühnenfassung erarbeitet, übersetzt von Birgit Kovacsevich, in der die Außerirdischen nicht mehr landen, um Ressourcen zu plündern, sondern um diese zu bewahren. Das erfährt man am Ende dieser Aufführung, die die großen Themen dieser Tage auf einwandfreie Weise zu verbinden weiß.

Von der Flüchtlings- zur Klima- zur Regierungskrise, von Entsolidarisierung zu Individualisierung zu Ignoranz, Covid-19, die pandemische Plage. Der weltberühmte Roman, entstanden als kraftvolle Metapher über die britische Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts, ist in Zeiten globaler Katastrophen, die der Kooperation der gesamten Menschheit über alle ideologischen Gräben hinweg bedürfen, von erschreckender Aktualität, stellt Wells doch darin die nicht enden wollende Selbstgefälligkeit menschlichen Handelns einer unumstößlichen Wahrheit gegenüber: Hybris kommt vor dem Fall.

Beim britischen Theatermacher Compton sind es nun drei Teenagerinnen im dritten Wiener Bezirk, die mit der Invasion aus dem All konfrontiert werden: Johanna Hainz spielt eine Art Fridays-For-Future-Aktivistin, Julia, die von der Sorge um den ökologischen Fußabdruck ihrer Vielflieger-Mutter umgetrieben wird. In die Fußstapfen ihres xenophoben Vaters tritt Maria Astl als Laura, an der der Text großartig die ererbten Vorurteile samt deren Widersprüchlichkeiten durchdekliniert: „Die Ausländer sind allesamt arbeitsscheue Sozialschmarotzer“ vs. „Die Ausländer nehmen uns Österreichern die Arbeitsplätze weg“.

Enrico Riethmüller, Soffi Povo und Maria Astl. Bild: © Rita Newman/TDJ

Uwe Achilles als Orchideenzüchter. Bild: © Rita Newman/TDJ

Maria Astl, Soffi Povo und Johanna Hainz. Bild: © Rita Newman/TDJ

Kein Wunder, dass die Wutbürgerstochter in Streit mit der von Soffi Povo dargestellten Amira gerät, ein muslimisches Mädchen, das von den Eltern aus einem Kriegsgebiet auf die lange Reise ins sichere Europa geschickt wurde. Amira mit ihrer Flucht- und Kriegserfahrung, so wird man noch sehen, ist einerseits traumatisiert, aber andererseits eine, die sich bedrohlichen Situationen auszusetzen, zu widersetzen weiß. Enrico Riethmüller, Valentin Späth und Uwe Achilles bestreiten alle weiteren Rollen, Soldat und Schuldirektorin, einen Botaniker, den geheimnisvollen Adam, Fernseh- und Radioreporter, NASA-Wissenschaftler, vor allem auch als Wells-Welles’sche Erzähler …

Es kommt zum Angriff, den Laura sofort als einen islamischen deklariert. Der Stephansdom wird zerstört, und ganz fabelhaft ist, wie die auf der Bühne natürlich „unsichtbare“ Gefahr mittels Licht- und Soundeffekten, „Stimmen“ wie griechisch-migrantenfeindliche Schallkanonen, dem Publikum durch Mark und Bein fährt – Bühne: Diana Zimmerman, Licht: Lukas Kaltenbäck, Musik: Jonny Sims, Kostüme: Andrea Bernd. Dass die Marsianer die Menschen via der GPS-Systeme ihrer Smartphones ausmachen, um sie alsdann auszuradieren, die Protagonistinnen die ihren aber dennoch nicht von sich schmeißen, macht einen fast lachen. Es gibt in der Pause keinen unter Dreißig, der nicht am Mobilgerät daddelt. Generation Handy, halt.

Die Marsianer kommen näher: Maria Astl, Soffi Povo und Johanna Hainz. Bild: © Rita Newman/TDJ

Valentin Späth als sinistrer Soldat, Johanna Hainz, Soffi Povo und Maria Astl. Bild: © Rita Newman/TDJ

Im Gewächshaus des Botanikers: Soffi Povo, Uwe Achilles, Johanna Hainz und Maria Astl. Bild: © Rita Newman/TDJ

Valentin Späth, Enrico Riethmüller und Uwe Achilles als NASA-Wissenschaftler nebst Reporter. Bild: © Rita Newman/TDJ

Im Military-Setting, zwischen Camouflage-Netzen und olivgrünen Schutzkoffern treffen die drei jedenfalls auf Valentin Späth als sinistren, Befehle bellenden Soldaten, dem Amira unterstellt, sein eigenes Süppchen zu kochen, später und ausgerechnet in einer Kapelle auf Enrico Riethmüller als Adam. Statt Solidarität gibt’s Streit unter den Parteien, die stets misstrauische Amira krankt an Flashbacks vom Verlust ihrer kleinen Schwester über den Budapester Bahnhof 2015 bis Traiskirchen, die zugestaute A1 Richtung Linz ist von den Maschinen menschenleer gemacht worden – und plötzlich müssen alle Beteiligten erkennen, wie klein ihre Streitereien gegen diesen numinosen Horror sind.

Man landet im Gewächshaus des Botanikers Uwe Achilles, und siehe: die Aliens rücken gegen dessen Orchideenzucht nicht vor. Der Mensch ist der Feind von Fauna und Flora, und die beiden übernehmen. Blumen statt Asphalt lautet bald das Motto. Das alles ist spannend, duster, eindrücklich. Beim Aufstand gegen die Maschinen gibt es das eine oder andere Menschenopfer. Die Dystopie des Originals hat sich um 180 Grad gedreht: Im Garten Erde sind wir die Parasiten, und die Aliens angerauscht zum Umwelt-, zum Artenschutz. Jethro Compton statuiert ein Exempel über das, was wir für selbstverständlich halten.

Es zeigt sich, ohne zu spoilern und wie in der Regel, dass das Problem ein hausgemachtes ist. Der Kreis schließt sich im „Dschungel“ von Calais, jener menschenunwürdigen Zeltstadt, in der Flüchtlinge auf eine bessere Zukunft hoffen. Das sichere Europa … mehr Science Fiction ist kaum mehr möglich, und das Theater der Jugend macht diese Zustände ohne erhobenen Zeigefinger greifbar. Was bleibt zu sagen? Dass dieser Produktion viele Zuschauerinnen und Zuschauer (ab 11 Jahren) zu wünschen ist, und dass diese es einmal besser machen werden. Menschsein ist Work in Progress. Arbeiten wir daran.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=LDiY1bt_0mI           www.tdj.at

  1. 6. 2021

Volksoper: Kiss me, Kate

September 4, 2020 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Shakespeare wie er swingt und lacht

Peter Lesiak, Juliette Khalil, Martin Bermoser, Ursula Pfitzner, Andreas Lichtenberger, Wolfgang Gratschmaier, Oliver Liebl und Sulie Girardi. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

„Premierenfieber ist ein Gefühl“, das kann man dieser Tage laut sagen, scharren doch sowohl Künstlerinnen und Künstler als auch ihr Publikum in den Startlöchern zur neuen Saison. Endlich wieder Theater! Und die Volksoper begann dieses vor der ersten Premiere, „Sweet Charity“ am 13. September, mit der Wiederaufnahme ihres Klassikers „Kiss me, Kate“ in der schnittigen Inszenierung von Bernd Mottl aus dem Jahr 2012 – und mit allerhand Rollendebütanten.

Shakespeare wie er swingt und lacht, möchte man den Abend übertiteln, auch wenn Mezzosopranistin Sulie Girardi als Garderobiere Hattie das „Premierenfieber“ einmal mehr in wundersam schönen Operntönen erklingen lässt, und damit das Screwball-Musical in Gang setzt, eine Aufführung, die rundum ausschließlich Erfreuliches zu bieten hat. Fred-Graham-Urgestein Andreas Lichtenberger duelliert sich diesmal mit Ursula Pfitzner als Lilli Vanessi, die beiden Rosenkrieger par excellence.

Und wenn Lilli ihren Quasi-Verlobten Harrison Howell zu Hilfe ruft, der aber nicht kann, weil’s in Baltimore #blacklivesmatter-Unruhen gibt, weshalb der Präsident das nunmehrige Notstandsgebiet als Sicherheitsrisiko für Leib und Leben einstuft, dann ist dieses Käthchen definitiv im Jahr 2020 angekommen. Von Newcomern bis alten Hasen ist diese Produktion gesanglich und schauspielerisch vom Feinsten, Dirigent Guido Mancusi hat das richtige Händchen für die Cole-Porter-Hits, die Choreografie ist schwungvoll, der Volksopernchor sowieso.

Ursula Pfitzner und Andreas Lichtenberger. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Ursula Pfitzner. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Ursula Pfitzner und Andreas Lichtenberger. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Besagter Fred Graham also ist Produzent und Regisseur eines „Der Widerspenstigen Zähmung“-Projekts, in dem er die Rolle des Petruchio mit sich selbst besetzte, für die Rolle der Kate aber seine Ex-Frau Lilly engagierte. Obwohl es zwischen ihnen nach wie vor knistert, sind die beiden stückkonform auf Krawall gebürstet, Liebe und Hiebe auf und hinter der Bühne – das ergibt eine tollkühne Parodie aufs Showbusiness, großartig, wenn Fred bedauert, eine „Musicalhupfdohle“ für einen Shakespearedarsteller gehalten zu haben, und Bernd Mottl erweiterte den Spaß um eine Schmierentheater-Satire, in der statt des britischen Barden das Chaos herrscht.

Freds kreischbuntes Bauklötzchen-Bühnenbild, das verzweifelt italienische Renaissance imitiert, und die grellen Kostüme mit der unübersehbaren Herrenausstattung verdeutlichen, dass hier nicht die erste Liga spielt – siehe der mittelschwer überkandidelte Fred Graham, der selbsternannt „ernsthafte Mime“, den Andreas Lichtenberger zu Outrage-Höchstleistungen bringt.

Wo ein Star, da ein Sternchen, Juliette Khalil gefällt als Freds frech-frivoles Nachtclubliebchen Lois Lane, die er als Bianca einsetzt, die ihrerseits aber mit dem Bill Calhoun aka Lucentio des Peter Lesiak kokettiert. Was sie zwar prinzipiell mit jedem tut. Ursula Pfitzners brillant bissiges „Nur kein Mann“ konterkarieren Khalil und Lesiak mit einem temperamentvollen „Aber treu bin ich nur dir Schatz auf meine Weise“ – und apropos Bill Calhoun: Da der es geschafft hat, den Schuldschein für seine Spielschulden als Fred Graham zu unterschreiben, erwarten diesen bald zwei zwielichtige Gestalten in der Garderobe.

Christian Graf, Andreas Lichtenberger und Jakob Semotan. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Martin Bermoser mit Ensemble und Wiener Staatsballett. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Wolfgang Gratschmaier, Juliette Khalil, Sulie Girardi und Martin Bermoser. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Jeffrey Treganza, Juliette Khalil, Peter Lesiak und Oliver Liebl. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Christian Graf und Jakob Semotan erstmals als Ganovenpaar mit schönstem Jargon, das die Vanessi zwecks Füllen der Theaterkasse daran hindern muss, die Show zu verlassen, was die beiden unter großartigen Kapriolen als „Diener“ auf die Bühne treibt, worauf sie – „Schlag nach bei Shakespeare“, einmal Theaterblut geleckt, nicht mehr zu bremsen sind. Als Laurel und Hardy der Volksoper fliegen ihnen die Herzen der Zuschauer nur so zu, dies deutlich zu merken am Szenen- wie Schlussapplaus. Auch ihnen ist mit dem „Nicht die Waffe tötet Menschen …“-Zitat Tagesaktuelles in den Mund gelegt.

Martin Bermoser singt und tanzt als Garderobier Paul ein sehr laszives „Viel zu heiß“. Thomas Sigwald ist nicht wie weiland Kurt Schreibmayer ein würdig-eleganter Harrison Howell, sondern hat als Geschäftsmann mit bester Vernetzung zum Weißen Haus etwas Mafiöses an sich. Wolfgang Gratschmaiers Harry Trevor muss sich als Baptista herrlich komisch mit seinen beiden ungleichen Töchtern plagen. Oliver Liebl und Jeffrey Treganza als Bianca-Verehrer Gremio und Hortensio sowie Georg Wacks als überforderter Inspizient Ralph runden den fabelhaften Cast ab.

Bernd Mottls „Kiss me, Kate“ ist alles andere als ein Nostalgieabend, vielmehr von einer Rasanz und Souveränität, die auch diese 48. Vorstellung hell strahlen lässt. In der Zähmung der Widerspenstigen folgt er dem Weg den Elizabeth Taylor und Richard Burton vorbereitet haben, Lillys Kate ironisiert ihre Unterwerfung auf schmerzhafte Weise, indem sie dem Macho mit ihren High Heels zu Boden ringt … Dafür viel Jubel und Beifallklatschen!

www.volksoper.at

  1. 9. 2020

Und der Zukunft zugewandt

Oktober 30, 2019 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein Schweigegelübde zum Wohle des Sozialismus

Antonia Berger widersetzt sich dem Parteibonzen Leo Silberstein und seinem Vernehmer: Alexandra Maria Lara, Stefan Kurt und Peter Kurth. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Gesichter ungewaschen, die Kleider zerlumpt, in einer armseligen Holzbaracke sitzen eine Frau und ihre sich beinah zu Tode hustende Tochter, draußen der Vater, der beide seit drei Jahren nicht mehr gesehen hat. Er erklimmt also den Stacheldrahtzaun, wird erwartungsgemäß von den Soldaten heruntergeschossen, der Leichnam seiner Familie vor die Füße gelegt. Es ist das Jahr 1952, und es ist ein Straflager im sowjetischen Nirgendwo, und die Situation erscheint der Frau so aussichtslos, dass sie sich bei

der Zwangsarbeit im Wald von einem eben gefällten Baum erschlagen lassen will … „Und der Zukunft zugewandt“ heißt der Film von Drehbuchautor und Regisseur Bernd Böhlich, der am Freitag in den heimischen Kinos anläuft, der Titel die zweite Textzeile aus der DDR-Nationalhymne „Auferstanden aus Ruinen“, das Geschilderte wirklich passiert – und zwar der Schauspielerin Swetlana Schönfeld, die im Gulag Kolyma im Fernen Osten Russlands geboren wurde, und im Film nun die Mutter der Protagonistin verkörpert. Es sind Böhlich diese ersten fünfzehn Minuten seiner Arbeit nachzusehen, deren Anfang als ein allzu konventionelles Zeitgeschichtsdrama, die Bilder theatralisch, die Blicke pathetisch, der Dreck an Darstellerinnen wie auf dem Set punktgenau platziert.

Denn was Böhlich nach seiner weihevollen Heraufbeschwörung von Historie zeigt, sind ungeahnt erschütternde Schicksale, Szenen eines den meisten Österreicherinnen und Österreichern unbekannten Deutschlands, der DDR, in der Menschen von einem repressiven Politsystem kleingehalten und bei Widerborstigkeit auch klein gemahlen werden. „Und der Zukunft zugewandt“ beginnt tatsächlich, als das totalitäre System unter Stalin drei weibliche Gefangene freilässt, bei ihnen Antonia Berger mit ihrer schwer lungenkranken Tochter Lydia. 1938 war die Leninistin und Pianistin als Mitglied der Agitprop-Truppe „Kolonne Links“ im Rahmen einer Tournee nach Moskau gelangt, wurde dort unter dem haarsträubend absurden Vorwurf der Spionage verhaftet und interniert.

Über das ganze Musiker-Ensemble wurde damals das Todesurteil gefällt, einzig Antonia überlebte. Nun, da einige Volksvertreter der jungen Deutschen Demokratischen Republik das an ihren Bürgerinnen begangene Unrecht gutmachen wollen, sitzt sie im idyllischen Fürstenberg, bald schon Stalinstadt, dem beflissenen Funktionär Leo Silberstein gegenüber. Die Rückkehr in den Arbeiter- und Bauernstaat ist vollzogen, eine schöne Wohnung steht bereit, eine Stelle als künstlerische Leiterin des Hauses des Volkes, es gibt Geld und Lebensmittelkarten, und die beste medizinische Versorgung für Lydia. Als Gegenleistung verhängt Silberstein über die gerade noch Haftgenossinnen ein von oben verordnetes Stillschweigen, kein Sterbenswort darf über die Säuberungswellen des Stählernen, Deportationen und Hinrichtungen und am eigenen, gefolterten Leib erlittenes Leid gesagt werden.

Hoffnung auf ein neues Leben in der jungen DDR: Alexandra Maria Lara, Carlotta von Falkenhayn als Tochter Lydia und Robert Stadlober als deren Arzt Konrad Zeidler. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Wahrheit über die Sowjetdiktatur, so fürchtet die Spitze der realsozialistischen, könnte die neu gegründete Nation zum Nachdenken bringen. Um über im Namen des Kommunismus verübte Gewalt zu sprechen, sei das Volk zu instabil, der Kapitalismus allzu nahe, der Kalte Krieg eine zu heiße Propagandaschlacht, und die alte Macht der Nazis im Westen geradezu greifbar. Der Rote Stern muss strahlen, seine Opfer werden ein Schweigegelübde unterzeichnen.

Es sind Momente wie dieser, in denen die unbewegte Miene der Alexandra Maria Lara als Antonia Berger mehr sagt, als die sparsam gesetzten Sätze in diesem so beklemmenden wie gleichermaßen gefassten Drama. Es ist diese Sprachlosigkeit, ihr Der-Situation-Ausgeliefertsein, mit dem einen Laras Antonia in Bann schlägt.

Derweil im Laufe der Handlung Vergangenheit und Gegenwart zu immer unversöhnlicheren Gegnern werden, gelingt Bernd Böhlich und seinem Stab, Kameramann Thomas Plenert, Szenenbildner Eduard Krajewsk, Kostümbildnerin Anne-Gret Oehme und der Maske von Daniela Schmiemann und Antje Langne, Außerordentliches:

Sie zeigen jene DDR, die heute oft nur noch als Zitat zu Mauerfall, Wende, Ausreisewelle dient, die Demokratierufe „Wir sind das Volk!“ längst von rechts okkupiert, in ihrer unseligen Entwicklung vom Utopia der Werktätigen, vom Anspruch das bessere, weil antifaschistische Deutschland zu sein, zum „Großer Bruder“-Staat, in dem sich eine immer grobschlächtiger werdende, menschenverachtende Ideologe breitmacht. Gebäudefronten, Innenräume bis ins kleinste Ausstattungsdetail, Frisuren und Garderoben atmen den Aufbruchsgeist dieser Anfangsphase, und Antonia erfährt – oder glaubt zumindest diese zu erfahren – eine Solidarität, die ihren Glauben an eine gerechte Zukunft stärkt, während die Gegenwart den Begriff Freiheit allerdings nach eher undurchsichtigen Gesetzen normiert.

Böhlich verdichtet die zeithistorischen Geschehnisse auf ein paar Monate in den Jahren 1952 und 1953, deren Kernstück der Tod Stalins im März, der, man weiß es, nicht zur Überprüfung der Überzeugungen genutzt, sondern zum sozialistischen Trauma wurde. In diesem Sinne ist eine Klammer zu sehen, die Böhlich setzt: Antonia Berger am 9. November 1989 vor dem Fernsehapparat – und die Art und Weise, wie sie auf das Gezeigte reagiert, samt eines Telefonats, über das sich erst am Ende herausstellen wird, wer am anderen Ende der Leitung ist.

„Und der Zukunft zugewandt“ ist mehr noch als Polit- ein Frauenfilm mit Affinitäten zum großen Melodram. Zwei Männer nämlich machen Antonia den Hof: Silberstein und der Lydia behandelnde Arzt Konrad Zeidler, ein aufrichtiger und in seinen Anschauungen konsequenter Mensch, der in der Hamburger Praxis seines Vaters ein weitaus bequemeres Leben führen könnte. Beide begreifen nur vage, wie entfernt Antonia mental und emotional von ihnen ist, bis sie ihr geheimes Tagebuch endlich Konrad offenbart. Dies nachdem eine ihrer früheren Leidensgenossinnen beim feuchtfröhlichen Sektumtrunk anlässlich Stalins Hinscheiden die Vergangenheit der drei bloßlegt. Nun muss nicht nur Antonia Stellung beziehen, sondern Konrad verlangt das in einer vehement geführten Aussprache auch von seinem Freund Leo Silberstein.

Der in Antonia verliebte Konrad weiß nicht, ob er Freund Leo noch trauen kann: Robert Stadlober und Stefan Kurt. Bild: © Polyfilm Verleih

Nachbar Alois Hoecker heißt Antonia und Lydia allzu herzlich willkommen: Jürgen Tarrach und Carlotta von Falkenhayn. Bild: © Polyfilm Verleih

Bernd Böhlich ist mit „Und der Zukunft zugewandt“ ein hochspannender Film gelungen, der außerdem höchstkarätig besetzt ist. Mit der grandiosen Alexandra Maria Lara spielen: Robert Stadlober den großherzig verliebten Konrad Zeidler, Stefan Kurt den privat gutmütigen, politisch rigiden Leo Silberstein, Barbara Schnitzler und Karoline Eichhorn Antonias Gulag-Gefährtinnen Susanne Schumann und Irma Seibert, von denen erstere bei erster Gelegenheit „rübermachen“ wird, und Carlotta von Falkenhayn in einer sehr intensiven Darstellung Antonias Tochter Lydia.

Branko Samarovski hat im Haus des Volkes einen berührenden Auftritt als ehemaliger Kolonnen-Genosse, der mit dem Anstimmen des Truppenlieds über die Erschaffung eines Roten Vaterlands Antonia die Tränen in die Augen treibt. Jürgen Tarrach gibt gewohnt vielschichtig den Wiener Maler Alois Hoecker, ein Expressionist, der da als „entartet“ eingestuft, die Flucht ergriff, und nun mit seinem Freundlich-Tun seinen Opportunismus übertüncht. Es wäre ein Leichtes gewesen, all diese Charaktere aus westlicher Siegersicht zu beschreiben. Sie als Verblendete zu porträtieren, die trotz ihrer Erfahrungen an den Aufbau des Sozialismus glauben.

Es ist jedoch das große Verdienst des Films, seine Figuren im Zwiespalt zwischen ihrem Eintreten für eine faire Gesellschaft und den Zweifeln an den Methoden daran zu zeichnen. Zwei Schlüsselszenen gibt es, die Gänsehaut machen: Einmal, als Antonia Berger dem von Peter Kurth dargestellten Vernehmer gegenübersitzt und von einer bei der Zwangsarbeit zugezogenen Beinverletzung berichtet. Da springt Kurth auf, krempelt das Hosenbein hoch und zeigt eine Beinprothese, Lager?, brüllt er rasend vor Wut, er sei in einem Lager gewesen, Buchenwald, als Versuchskaninchen der SS-Ärzte.

Einmal, als Antonia ihre Mutter auf deren Bauernhof besucht, ein keineswegs freudiges Wiedersehen, akzeptiert die Mutter doch nicht, dass die Tochter all die langen Jahre nichts von sich hören ließ, wo man erfahren wollte, wie gut es ihr in der Sowjetunion geht. Es hagelt Vorwürfe, „wenigstens eine Karte hättest du schreiben können“, statt dass sanft liebe Worte fallen. Alexandra Maria Lara sitzt in diesem Moment Swetlana Schönfeld vis-à-vis, die eine Schauspielerin der Schatten der anderen. Und wie beim Vernehmer presst Antonia den Mund bis zur Schmerzgrenze zusammen und macht keinen Mucks. Es wurde ihr schließlich ja verboten, aufzumucken …

 

und-der-zukunft-zugewandt-film.de

30. 10. 2019

TAG: Die Ratten

April 4, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Kind als Kapital und Konsumgut

Herr John ist überglücklich, doch Frau John hat ihrem Bruder bereits einen mörderischen Auftrag erteilt: Michaela Kaspar und Jens Claßen, hinten: Raphael Nicholas. Bild: Anna Stöcher

„Frei nach“ Gerhart Hauptmann nennt Bernd Liepold-Mosser seine Version von dessen Tragikomödie „Die Ratten“, und kommt dabei dem Original in der Intentionen so nahe, dass es greifbarer kaum geht. Am TAG hat der Sozialphilosoph unter den Theatermachern seine Fassung des berühmten Naturalismusstücks zur Uraufführung gebracht, als ein Gedankenspiel, auf das man allerdings gewillt sein muss, sich einzulassen. Wer dies tut, wird mit einem Bühnenerlebnis der Extraklasse belohnt.

Liepold-Mosser und Ausstatterin Karla Fehlenberg versetzen die Akteure in eine Art dystopische Laborsituation. Weiße Wände umgrenzen die klinische Versuchsanordnung, aus der es kein Entkommen gibt, weshalb die fünf Schauspieler permanent auf der Spielfläche sind – ein Kraftakt, auch wegen des hohen Tempos, in dem das 90-minütige Geschehen abläuft. Was Liepold-Mosser in diesem Setting schildert, ist das Sozialdrama eines Mittelstands, der seine Existenz auf schwankenden Boden gebaut hat. Zwar gilt für Herrn John noch das von allen Figuren vorgebetete Mantra, als fix Verankerter auf dem Arbeitsmarkt, Nachsatz: „Was heutzutage etwas heißen will“, sei er eine wichtige Größe in der Erwerbswelt.

Der Warenhandel an der Wiege: Lisa Schrammel und Michaela Kaspar. Bild: Anna Stöcher

Inzestuöse Geschwisterliebe: Michaela Kaspar und Raphael Nicholas. Bild: Anna Stöcher

Doch dräut am Horizont schon der „Abstieg“ ins freie Unternehmertum, weil, wer nicht zu hundert Prozent einsatzwillig für die Firma ist, in diesem Falle, man weiß es, wegen der vermuteten Vaterschaft, alleine schauen muss, wo er bleibt. Liepold-Mosser hinterfragt mit seiner „Ratten“-Interpretation derart nicht nur die Schattenseiten eines heutigen kapitalistischen Systems, er verschiebt Arbeitsdruck, Ausnutzung, Nutzbarmachung des Menschen auch vom Beruflichen ins Private – zu Frau John und Pauline. Der nämlich stellt die Kindswütige die Alleinerzieherinnen-Armutsfalle in Aussicht, sollte sie sich nicht zur Abgabe des Neugeborenen entschließen.

Die Gleichung, die Liepold-Mosser aufstellt, lautet: Kind ist gleich Paulines Kapital ist gleich ein Konsumgut für Frau John, und so ist es nicht verwunderlich, dass es im Weiteren „das Ding“ oder „die virale Sache“ genannt wird, die Pauline, als wär’s eine Maschine, bei Frau John schließlich doch „in Betrieb gegeben hat“. Der Geburtskanal als Vertriebskanal. Liepold-Mosser hat eine mäandernde, sich stetig wiederholende Kunstsprache erdacht, doch was vom Dialekt befreit ist, immerhin an der Donau verankert, in die sich Pauline statt des Berliner Landwehrkanals erst stürzen will.

Michaela Kaspar als Jette John und Lisa Schrammel als Pauline machen „Die Ratten“ mit ihrer intensiven Darstellung zum Königinnendrama, auch dies etwas von Hauptmann Gewolltes, war doch sein Credo, dass untere Gesellschaftsschichten um nichts weniger als gekrönte Häupter für die große Tragödie taugen. Kaspar und Schrammel gestalten den Infight zweier Frauen meisterlich, manipulativ schmeichlerisch, dann wieder beinhart bedrängend die eine, vehement ihr Recht einfordernd die andere, Pauline hier als 24-Stunden-Pflegekraft aus einem Drittstaat ausgewiesen und damit eine ebenso prekäre Person, wie ihre Piperkarcka-Vorgängerin, auch wenn ihr Frau John zynisch versichert, ohne Babypause könne sie endlich jobmäßig durchstarten.

Performt den Nachbarschaftssong: Georg Schubert mit Jens Claßen, hinten: Raphael Nicholas und Michaela Kaspar. Bild: Anna Stöcher

Bruno ist Pauline auf den Fersen: Raphael Nicholas und Lisa Schrammel, vorne: Michaela Kaspar und Jens Claßen. Bild: Anna Stöcher

Jens Claßen scheint als Herr John ein Versicherungsvertreter für Zukunftsvorsorgen zu sein, und Claßen erzählt den draußen erfolgreichen Pragmatiker daheim als gutgläubigen Toren, dem zu spät die Augen aufgehen. Wenn Frau John über ihren Mann punkto Fortpflanzung sagt, er sei kein begnadeter Miterzeuger, aber ein perfekter miterzeugender Verantwortlicher, so ist diese Figur treffend beschrieben. Georg Schubert versammelt als neugieriger, nervtötender, unangenehmer Nachbar das übrige Personal der zum noch nicht ganz abbezahlten Eigenheimrefugium mutierten Zinskaserne in sich.

Er hat als Lauscher das Ohr wahlweise an der Wand oder auf dem Boden. Als „verschärfte Kontrollinstanz“, wie sich der Nachbar selber nennt, singt und tanzt er, und bestreitet zweifelsfrei den von Hauptmann als satirisch überspitzt vorgesehen Komödienanteil am Drama. Und dann ist da noch Frau Johns kleinkrimineller Bruder Bruno, der sein Handeln bei Liepold-Mosser damit rechtfertigt, ein „Modernisierungsverlierer“ zu sein. Raphael Nicholas spielt ihn als eifersüchtiges Mannkind, der mit dem Säugling um die Liebe seiner Schwester buhlt.

Wobei die beiden aus ihren inzestuösen Anwandlungen kein großes Geheimnis machen. „Du bist die Festplatte, aber ich bin die Maus“, sagt dieser Bruno zu Jette, bevor er sich die Nagermaske aufsetzt und zum gefährlich die Szenerie umschleichenden Raubtier wird. Das von der Inszenierung festgeschriebene „Alles hat seinen Preis“ wird in voller Doppeldeutigkeit auch ihn treffen. Liepold-Mosser und Fehlenberg haben eine pastellästhetische Optik fürs düstere Treiben gewählt. Das verläuft an sprachlosen Stellen nach einem streng choreografierten Bewegungsmuster. Bei Frau Johns Irrsinnstango mit der von der Decke abgehängten Pappkartonwiege. Wenn Pauline und Bruno das Bühnengeviert abschreiten – und man nach der zweiten Kurve entsetzt bemerkt, dass er sie immer mehr einholt. Bruno gehört denn auch der finale Song über eine Wasserleiche als Nahrungsquelle für ein Rattennest. Ein Text, der das Homo homini rattus auf die Spitze treibt.

Liepold-Mosser zeigt den Menschen, wie er sich im engen Käfig seiner Lebenswünsche verfängt, und überlässt es dem Publikum Worten wie Ausbeutung oder Zerfleischung die Silbe „Selbst-“ voranzustellen. Dass sich seine „Ratten“ auf dem schmalen Grat zwischen Tragik und Komik abspielen, auch das ist im Sinne des Erfinders Hauptmann – und natürlich das künstlerische Charakteristikum des TAG.

Trailer: vimeo.com/327432694

dastag.at

  1. 4. 2019

Burgtheater: Die Ratten

März 28, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Versuchstiere irren durchs Lebenslabyrinth

Aug‘ in Aug‘ mit der Ratte: Sylvie Rohrer als Frau Hassenreuter. Bild: Bernd Uhlig

Zurzeit zeigt der Schweizer Fotograf Matthieu Gafsou im Rahmen des Foto-Wien-Festivals in der Otto-Wagner-Postsparkasse seine Bilderserie „H+“ zum Thema Transhumanismus. Darunter ist die Aufnahme einer Laborratte, mittels Gurtenkonstruktion künstlich auf den Hinterbeinen gehalten, in den Kopf eine Elektrode gesteckt, in ihrem Gesicht alles Leid der Welt.

Es ist dieses gequälte Tier, an das einen Andrea Breths Abschiedsinszenierung am Burgtheater von Gerhart Hauptmanns „Die Ratten“ denken lässt. Alles ist grau und Beklemmung und Plage, Breth versetzt des Dramatikers Homo homini rattus in eine Atmosphäre diffuser Angst – und selbst ein, zwei die Zuschauer zum Lachen animierende Momente, etwa, wenn die Gesamtschaft der Theatermenschen zu 1920er-Jahre-Schlagern stolpernd auf die Bühne tänzelt, enttarnen sich als kritischer Kommentar zu deren letzter verzweifelter Selbstbehauptung als bildungsbürgerlicher Kreis. Eine Empfindung von Ausweglosigkeit tut sich auf, unterstrichen vom Bühnenbild Martin Zehetgrubers, dieses ein Labyrinth aus durch Verdreckung opaken Plexiglaswänden, durch das die Figuren mal gehetzt laufen, mal wie somnambul irren.

Getriebene, auf der Flucht vor ihren Lebensumständen. Versuchstiere, deren Verhalten die Breth mit ihrer Arbeit erforschen will. Kein Dachboden, keine John’sche Wohnung mehr, kein oben oder unten, sondern ein sich beinahe beständig drehender Müllfundus aus versifften Matratzen, ausrangierten Kloschüsseln, der Boden bedeckt mit Zeitungsfetzen, später mit gesichtslosem Leichen-Volk, in Winkeln hockende Riesenratten. Durch diesen Schmutz-Filter sind die Szenen zu sehen, die Rotation eröffnet immer wieder neue Räume und Perspektiven, doch kein Durchlass, kein Entkommen nirgendwo. Ein Setting, in dem Breth als Großmeisterin des psychologischen Naturalismus nun die Zustände menschlicher Würde auslotet.

Maurerpolier John freut sich über das Söhnchen: Johanna Wokalek, Oliver Stokowski und Alina Fritsch. Bild: Bernd Uhlig

Doch Pauline Piperkarcka will ihr Kind um jeden Preis zurück: Sarah Viktoria Frick und Johanna Wokalek. Bild: Bernd Uhlig

Und in dessen Mittelpunkt sie bemerkenswerter Weise den oft so genannten und mitunter wenig verstandenen zweiten Handlungsstrang stellt – die Begebenheiten rund um den ehemaligen Theaterdirektor Hassenreuter, dessen Frau und Tochter und Schauspielschüler. Deren groteske Proben zu Schillers „Die Braut von Messina“ auf dem Mietshausspeicher, den daraus entstehenden Streit zwischen Hassenreuter und dem aus dem Theologiestudium ausgeschiedenen Erich Spitta. Hie ein Plädoyer für das Pathos, da die Ablehnung alles gestelzten Bombasts.

Spittas kühne Aussage, eine Putzfrau könne ebenso Protagonistin einer großen Tragödie sein, wie eine Shakespeare’sche Lady Macbeth, leitet Breth direkt über zum Drama der Frau John und des ungewollt schwanger gewordenen Dienstmädchens Pauline Piperkarcka.

Sven-Eric Bechtolf spielt sich als Hassenreuter brillant ins Zentrum der Aufführung. Wie alle Darstellerinnen und Darsteller des Abends beherrscht er die Kunst vielschichtiger Charakterzeichnung, Breth hat mit ihrem Ensemble in feinsten Nuancierungen herausgearbeitet, wann die Figuren vorgeben zu sein und wann sie wirklich sind.

Aus Hauptmanns satirischer Überspitzung macht Bechtolf eine brüchige Gestalt, die im Frack und mit Gehstock Halt in ihrer Großmannshaltung sucht. Er geriert sich als Theatergott, der vom hohen, reinen Parnassos in die Probleme der Zinskaserne gezogen wird, wo er gütig zwischen den Sterblichen zu vermitteln sucht, während tatsächlich sein Familienleben nicht weniger von Lüge und Argwohn umwölkt ist, wie das der Johns.

Beeindruckend ist auch Johanna Wokalek, die die Frau John früh changierend zwischen depressivem Irresein und kalter Berechnung anlegt. So, wie sich in dieser Inszenierung alles zwischen Wahnsinn und Wahnwitz bewegt, hält sie das Söhnchen der Piperkarcka bald für ihr eigenes, vor drei Jahren verstorbenes, und manipuliert ihren offensichtlich geistig beeinträchtigten Bruder, bis er zum Mörder wird. Nicholas Ofczarek macht aus diesem Bruno einen Psychopathen, der einen schaudern lässt und gleichzeitig doch auch Mitleid erregt. Wie man es hier angesichts dieser Erniedrigten, Ausgestoßenen, Hoffnungslosen eigentlich mit jedem hat. Oliver Stokowski gelingt als Maurerpolier John die imposante Studie eines gutherzigen Kerls, der den latenten Gewalttäter allerdings in sich trägt.

Frau Johns Bruder Bruno ist ein gefährlicher Psychopath: Nicholas Ofczarek und Johanna Wokalek. Bild: Bernd Uhlig

Hassenreuter versucht zu vermitteln: Sylvie Rohrer, Oliver Stokowski, Johanna Wokalek und Sven-Eric Bechtolf. Bild: Bernd Uhlig

Christoph Luser als aufmüpfiger Erich Spitta und Marie-Luise Stockinger als Walburga gehören ebenfalls zu den Erfreulichkeiten des Abends. Und natürlich Sarah Viktoria Frick, die als gekaufte und verratene Piperkarcka im Wortsinn gegen die ihr widerfahrenden Ungerechtigkeiten anrennt. Viel große Schauspielkunst zeigt sich auch in den kleineren Auftritten: Roland Koch als rigoroser Gottesmann Pastor Spitta, Stefan Hunstein, der als Käferstein ein Kabinettstück liefert, Elisabeth Augustin als Frau Kielbacke, Bernd Birkhahn als Schutzmann oder Branko Samarovski als Hausmeister Quaquaro.

Als Königinnen des Dramatischen beweisen sich einmal mehr Sylvie Rohrer als realitätsferne Hassenreuters-Gattin, Andrea Wenzl als Wienerisch parlierendes Hassenreuters-Pantscherl Alice Rütterbusch – und die wunderbare Andrea Eckert.

Bis sie erscheint, hält man die Morphinistin Knobbe in der Haushierarchie für die Geringste, doch dann kommt eine Aristokratin des Elends, die sich von den anwesenden Herren gern umgarnen lässt. Eindrucksvoll, wie die Eckert mit minimalen Mitteln maximale Wirkung erzielt. Das Ende ist ein leises. Alina Fritsch verkündet als Selma den Selbstmord der Frau John.

Darauf kein Aufschrei, kein Ausbruch, keine Anklage, sondern stumm stehen die Figuren auf und setzen ihren Gang durchs Lebenslabyrith fort … Dass Andrea Breth mitten im tosenden Schlussapplaus zum Mikrophon griff, um sich beim Burgtheater-Publikum „für seine Treue“ zu bedanken, kam unerwartet und war schön. Zu hoffen ist, dass dies nur den Abschied vom Haus, aber nicht von Wien bedeutet.

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  1. 3. 2019