Der Rabenhof auf fm4 – Lesemarathon: Albert Camus‘ „Die Pest“ ab Karfreitag als Videostream

April 7, 2020 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

120 Stimmen in zehn Stunden

Bild: pixabay.com

„Ein monumentales Projekt in Tagen des Ausnahme- zustands“ plant der Rabenhof am Karfreitag ab 12 Uhr
auf fm4.orf.at: „Die Pest“ des französischen Nobelpreis- trägers Albert Camus als Videostream, als Marathonlesung von 120 Stimmen in zehn Stunden. Nach einer Idee von Claus Philipp und Thomas Gratzer sind unter anderem zu sehen und zu hören:

Elfriede Jelinek, Martin Kušej, Birgit Minichmayr, Michael Maertens, Klaus Maria Brandauer, Andrea Breth, Karl Markovics, Michael Heltau, Branko Samarowski, Peter Simonischek, Erwin Steinhauer, Josef Hader, Cornelius Obonya, Wolfgang Ambros, EsRAP, Martin Grubinger, Heinz Fischer, Christoph Schönborn, Herbert Föttinger, Dirk Stermann und Christoph Grissemann, Daniel Kehlmann, Michael Köhlmeier, Stefanie Sargnagel, David Schalko, Clemens J. Setz, Ruth Beckermann, Arik Brauer, Ruth Brauer-Kvam, Adele Neuhauser, Robert Palfrader, Willi Resetarits, Sophie Rois, Manuel Rubey, Robert Stachel und Peter Hörmannseder, Werner Gruber, Gerhard Haderer, Christoph Krutzler, Paulus Manker, Ernst Molden, Katharina Strasser, Ursula Strauss, Oliver Welter und Armin Wolf. „Die Pest“-Marathonlesung wird einen Monat lang abrufbar sein.

Bild: pixabay.com

Bild: pixabay.com

1947 verfasst, schildert Camus den Verlauf der Pest in der algerischen Küstenstadt Oran aus Sicht seines Protagonisten Dr. Bernard Rieux, der sich jedoch erst am Ende des Romans als „Verfasser der Chronik“ zu erkennen gibt. Die Geschichte beginnt im Jahre „194…“. Einige tote Ratten und ein paar harmlose Fälle einer unbekannten Krankheit sind die Anfänge einer schrecklichen Epidemie, die die Stadt in den Ausnahmezustand bringt, die Bewohner von der Außenwelt abschottet und unter ihnen mehrere tausend Todesopfer fordert. Die Pest bedroht das Menschssein der Bevölkerung und wird so zum gemeinsamen Gegner. Jeder nimmt den schier ausweglosen Kampf gegen den Schwarzen Tod auf seine Weise in Angriff.

Rieux ringt als Arzt gleich einem Sisyphos mit der Krankheit und gerät darüber in Disput mit Pater Paneloux, der die Pest als Strafe Gottes deutet. Camus entwickelt dies alles als politische Allegorie, als existenzialistische Parabel. Er seziert hellsichtig das menschliche Handeln im Angesicht der Katastrophe und zeichnet dabei ein erstaunlich vergleichbares Bild der derzeitigen, einer „neuen Normalität“. Das Absurde bleibt dabei sein steter Begleiter. Unschuldige Kinder sterben genauso wie Menschen, die es „verdient hätten“, obwohl sich insgesamt das Prinzip erkennen lässt, dass die Pest bevorzugt solche ohne Solidarität tötet …

Nikolaus Habjan mit Berti Blockwardt. Bild: Screenshot/w24-Rabenhof Theater/Abgesagt?-Angesagt!

Auf www.w24.at zeigt das Rabenhof-TV-Studio unter dem Titel „Abgesagt? Angesagt!“ und moderiert von Manuel Rubey eine Auswahl aktuell gecancelter Produktionen – als Appetizer auf die Acts, sobald Performer und Publikum wieder live zusammen- kommen können. Die jüngste Folge mit unter anderem Nikolaus Habjans „Berti Blockwardt“, Marius Zernatto als „#Werther“ (mehr zu diesem großartigen Goethe-Konzept: www.mottingers-meinung.at/?p=24657), Poetry-Slammerin Yasmo und – abgesagt bei der Biennale, angesagt in Erdberg – Doris Uhlich mit dem „Pudertanz“: www.w24.at/Sendungen-A-Z/Abgesagt-Angesagt/Alle-Folgen?video=17879

www.rabenhoftheater.com           fm4.orf.at           www.w24.at

7. 4. 2020

Waldheims Walzer

Oktober 1, 2018 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Von der Vergangenheit nicht bewältigt

Bild: © Ruth Beckermann Filmproduktion

Man weiß, er wurde trotz allem gewählt. Und so nimmt der neue österreichische Bundespräsident, neben sich ein kleines rot-weiß-rotes Fähnchen im imperialen Gepränge der Hofburg, vor der Fernsehkamera Platz, um seine erste offizielle Ansprache ans Volk zu halten. Er scherzt, die Stirn wird ihm noch abgepudert, mit dem Tisch ist er nun zufrieden, ein „Ladl“ hatte zuvor seine Beinfreiheit eingeschränkt, er wirkt gelöst und wie erleichtert. Kurt Waldheim ist von der Vergangenheit nicht bewältigt worden.

Er hat ausgesessen, was er einmal als größte Verleumdungskampagne in der Nachkriegsgeschichte des Landes bezeichnete: Eine vom profil-Journalisten Hubertus Czernin ausgelöste Diskussion um Waldheims Vergangenheit bei der SA, zu der später die New York Times und der Jewish World Congress weitere wichtige Erkenntnisse lieferten. Mit der Szene um die Rede schließt Ruth Beckermanns Dokumentarfilm „Waldheims Walzer“, diesjähriger heimischer Beitrag im Rennen um den Auslands-Oscar und ab 5. Oktober in den Kinos zu sehen. Beckermann schöpft aus eigenen Erinnerungen und aus größtenteils eigenem Material. Sie war unter den Aktivistinnen und Aktivisten, die 1986 die Bestellung des vormaligen UN-Generalsekretärs zum höchsten Mann im Staate verhindern wollten, sie begab sich mit Kamera und Mikrophon hinein in die Abgründe der österreichischen Seele. Soll sie dokumentieren oder protestieren, fragt sich Beckermann an einer Stelle, und gibt somit übers Politische auch Persönliches preis. Mehr als 30 Jahre später analysiert die Filmemacherin nun anhand ihrer Bilder und mit einer Fülle an Archivmaterial diesen entscheidenden Wendepunkt im Geschichtsverständnis.

Denn, dies vorweg, die „Affäre Waldheim“ führte zur Aushebelung des von der Nation allzu gern gepflegten Narrativs von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus. Trotz der Tatsache, dass eine ganze Generation die Wahrheit kannte, war Österreich bis dahin so geschickt wie erfolgreich gewesen, sich selbst und der Welt seine kollektive Lebenslüge vorzugaukeln. Diese, in Sonntagsreden, Büchern und Heimatfilmen jahrzehntelang reproduziert, brach nun in sich zusammen. Die Opferrolle war endgültig zu Ende gespielt, die Bürger mussten sich der Realität zuwenden … Dennoch, mit dem Wort endgültig gilt es vorsichtig zu sein, in einem Jahr, in dem das „Jetzt erst recht!“ – damals von Waldheims Wahlstrategen für dessen trotzig-beleidigte Anhängerschaft maßgefertigt – wieder als (diesmal FPÖ-)Wahlslogan hergehalten hat. Man kann im doppelten Wortsinn sagen, Beckermanns Film kommt zur rechten Zeit. Das Material, sagt sie, hätte sie auf einer alten VHS-Kassette zufällig wiederentdeckt – und sei sofort „mitten drin“ gewesen.

Bild: © Ruth Beckermann Filmproduktion

Bild: © Lukas Beck

Beckermann zeichnet nicht nur auf, sie zeigt auf – betont sachlich, mit ruhig aneinander gereihten Clips -, die Eigendynamik einer innenpolitischen Causa, die Österreich in den Mittelpunkt des internationalen Interesses rückte. Die Lücken in seiner Kriegsbiografie und die konsequente Auslassung unangenehmer Wahrheiten, und lange war er auf diese Weise durch diverse Institutionen marschiert, führten Waldheim nun mitten hinein in ein Lügennetz, in dem er sich aussichtslos verstrickte. Je deutlicher die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu einer Sensibilisierung der Weltöffentlichkeit führten, desto erfolgreicher erwies sich jedoch in Österreich die Mobilisierung eines dumpfen Wir-Gefühls mit antisemitischen Untertönen.

Schützenhilfe kam von ÖVP-Kollegen wie Mock und Graff, die die Einmischungen aus dem Ausland aufs Schärfste zurückwiesen. Zitat: Die „ehrlosen Gesellen vom jüdischen Weltkongress“ würden „Gefühle wachrufen, die wir alle nicht wollen“. Der Spruch von der „Arroganz der Spätgeborenen“ kam auf. Rhetorische Manöver im selbstbewussten Glauben (oder Wissen?) eine satte Mehrheit der Bevölkerung hinter sich zu haben. Auch darauf, wie auch auf alternative Fakten, greift man derzeit gern wieder zurück.

„Waldheims Walzer“ ist ein Lehrstück über das Schüren von Stimmung, über die Schaffung von Feindbildern und über den medial ausgetragenen Kampf, die Deutungshoheit über die einlangenden Informationen zu behalten. In ORF-Interviews tritt man fast demütig-verständnisvoll an Waldheim heran, während der seine ausweichenden Antworten abspult, konfrontiert mit britischen Journalisten verliert er einmal die Contenance, schlägt sogar mit der Faust auf den Tisch, als ihm Fotografien von Deportationen jüdischer Griechen vorgelegt werden. Man kennt sein „Ich habe nur meine Pflicht getan“, wie Bundeskanzler Fred Sinowatz‘ sicherlich besten Spruch, er nehme zur Kenntnis, dass Waldheim nicht bei der SA war – sondern nur sein Pferd. Man erfährt, dass niemand vom ORF nach Thessaloniki fuhr, wo Waldheim gedient hatte, um zu recherchieren.

Gedreht hat Beckermann auch bei der Abschlussveranstaltung des Waldheim-Wahlkampfs auf dem Stephansplatz. Zwischen den Demonstranten beider Lager gehen die Emotionen hoch, sieht man, der Bruch, der durch die Bevölkerung geht, tritt klar zutage. Von einer ans Licht zu befördernden Vergangenheit der Väter reden die einen, Moral und Christentum und „Werte“ predigen die anderen. „Waldheim nein, Waldheim nein!“ skandiert eine Hälfte der Menschenmenge. Und dann der schockierende Moment: Ein älterer Mann tritt an einen anderen heran, der mit antisemitischen Aussagen auffällt, und wird von dem als „jüdische Drecksau“ beschimpft. Dass der betroffene Herr Beckermanns Vater ist, verschweigt der Film. Dass sich Waldheims Wahlsieg letztlich als seine große Niederlage erwies, ist heute klar. Ruth Beckermann zeigt also auch, wie grundlegend eine wachsame Zivilgesellschaft ein Land verändern kann.

www.waldheimswalzer.at

  1. 10. 2018

Ruth Beckermann: Those who go – Those who stay

März 25, 2014 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine grimmige Ode an Europa

Bild: © Filmladen Filmverleih

Bild: © Filmladen Filmverleih

Nach dem Großen Diagonale-Preis in der Kategorie Dokumentarfilm und dem Darko Bratina-Preis in Gorizia ist Ruth Beckermanns „Those who go – Those who stay“ nun in den heimischen Kinos zu sehen. Regen auf der Fensterscheibe, ein Feuerwehrauto, ein Kater, der unzählige Nachkommen gezeugt hat: Es ist ein absichtlich absichtsloses Schauen, ein Erzählen und Erinnern auf Fährten, die Ruth Beckermann kreuz und quer durch Europa, rund ums Mittelmeer und bis nach Jerusalem verfolgt und wieder verlässt. Offenen Auges lässt die Kamera den Zufall geschehen, der Zusammenhang ist die Filmemacherin selbst: Die Erzählung der Flucht ihrer Mutter nach Palästina, eine grelle FPÖ-Veranstaltung auf dem Stephansplatz in Wien, Puppenkleider, der eigene Schatten. Beckermann filmt die Ecke Rue d’Alexandrie und Passage du Caire im Textilviertel in Paris, um später in Alexandria einem Franzosen zu begegnen, der den Pfaffen und Klerikalen die Köpfe abschlagen will. Im Prozess des Angeschautwerdens erzählt sich der Film immer weiter, es geht um Reisebewegungen, um Fluchtbewegungen und um das Unterwegssein, innerhalb der Welt und innerhalb des eigenen Lebenslaufs.

„Those who go – Those who stay“ führt in ein assoziationsreiches Labyrinth aus Begegnungen und Beobachtungen in Paris, Wien, Alexandria, Jerusalem, Czernowitz, durch Beckermanns Filmografie und die Biografie eines Kulturraums. Wie es ist, Satan zu begegnen. Was es bedeutet, eine Stadt nicht verlassen zu können. Was es heißt, in einem Land nicht willkommen zu sein. Nigerianische Asylwerber in Sizilien, ein arabischer Musikwissenschaftler, die kapitolinische Wölfin, Schaufensterpuppen, minigolfspielende Mädchen und drei verschleierte junge Frauen, die minutenlang versuchen, eine stark befahrene Straße zu überqueren. Schließlich eine elegante Dame im Kaffeehaus, die von ihrer Sammlung besonderer Kleidungsstücke spricht. Dass diese Dame Elfriede Gerstl heißt, ist zugleich bedeutsam und unwichtig, ebenso wie die Identität des Mannes, der ins Meer watet, bis die Wellen seinen Hosensaum benetzen, und die Geschichte des Unbekannten, dessen Ausweis Beckermann in einem Album auf einem Flohmarkt in Jerusalem entdeckt. „Those who go – Those who stay“ ist ein komplexes, oszillierendes Gewebe, dessen Motive nicht alle entschlüsselt werden müssen, um zu bereichern: ein mäandernder Essay voll glückvoller Momente, in denen Zufälligkeiten zueinander in Beziehung treten.

Ruth Beckermann verwebt ihr privates und politisches Interesse mit einer allgemeineren Bewegung: Der der Migration, der Wanderung, der Veränderung, der Fremde. Das Unterwegssein als ewiges und zugleich hochaktuelles Moment unserer Welt, erzwungen, freiwillig, zufällig, nicht enden wollend, hoffend, gewalttätig. Nigerianische Asylwerber in Sizilien, Emigranten in Paris, die jungen Frauen von Alexandria, der arabische Musiker im jüdischen, gelobten Land. Ein zerrissenes, verknotetes, sich auflösendes und wieder neu verdichtetes Gewebe. Der Stoff, aus dem Welt und Geschichte gemacht sind. „Mein Film ist der Versuch, durch zeitliche und geographische Sprünge Denkschienen aufzubrechen und üblicherweise getrennt behandelte Themen miteinander zu verschränken“, sagt die Regisseurin.  „Fluchtbewegungen weg von Europa und hinein nach Europa. Private Erinnerungen und politische Brisanz. Schöne Bilder und Ratlosigkeit darüber, was trotz aller Bilder und Töne verschwiegen wird. Was die Fragmente verbindet, ist mein Blick auf Bewegung und Beweggründe – der Augen, der Kamera, der Stoffe und der Menschen.“
Interview mit Ruth Beckermann
Der Einstieg in den Film erzählt eine kurze Textpassage über griechische Mythologie: wie Theseus von Ariadne einen Faden geschenkt bekam. Von den Fährten, die Theseus hinterließ, als er im Labyrinth umherlief, erzählt der Mythos nichts. Erzählt Ihr Film von den vielen Fährten, auf die Sie sich gemacht haben, um diesen Film zu realisieren? Oder ist Filmemachen per se ein Irren in einem Labyrinth?
Ruth Beckermann: Das Filmemachen selbst ist ein Thema des Films. Es ist weniger ein Irren als vielmehr ein Flanieren im Labyrinth. Manchmal ist es ein Irren, ein Suchen nach Fragen mehr noch als nach Antworten. Eine Suche nach den wichtigen Fragen. Der Film beginnt mit Fragen nach dem Erzählen und dem Filmemachen. Es geht ums Schauen, Erzählen, wobei dem, was am Weg oder um die Ecke liegt, ebenso meine Aufmerksamkeit gilt wie dem Ziel, auf dessen Suche ich mich begeben habe. Mir geht es um Fragen, die bleiben, die immer aktuell sind. Es geht um die Bewegung nicht nur der Augen, sondern auch die freiwilligen und unfreiwilligen Bewegungen der Menschen.
Ihr Eröffnungsblick geht durch eine von Regentropfen beschlagene Fensterscheibe. Worauf weist dieser „unsaubere“ Blick?
Ruth Beckermann: Es handelt sich um Fenster einer Pariser Wohnung. Ich war allein in dieser Wohnung in Paris, es hat geregnet, ich fragte mich, wie ich einen Film machen kann, der so fragmentarisch ist, der nicht nur geografisch springt, sondern auch in den Zeiten. Ich wollte nicht vor die Tür gehen und begann, in der Wohnung zu filmen. Die Regentropfen auf den Fenstern und diese so einmaligen Pariser Dächer haben auch meinen Zustand ausgedrückt. Es war für mich stimmig, da den Film zu beginnen.
Einer der Arbeitstitel dieses Films lautete Die Flaneurin. Sie beginnen den Film in Paris, in jener Stadt, in der sich Benjamins Typus des Flaneurs zu entfalten begann. Eine Kameraeinstellung ruht am Eingang zur Passage du Caire. Wie sehr sind Ihre Arbeiten immer wieder eine Hommage an Walter Benjamin?
Ruth Beckermann: Das ist ganz gewiss so. Einerseits sind Passagen selbst ein Thema, nicht nur in Bezug auf Orte, in Zorros Bar Mizwa geht es um einen „rite de passage“. Those who go – Those who stay thematisiert das Weitergehen und Durchgehen, auch die offene, fragmentarische Form, die Benjamin gewählt hat und durch ihn ist es auch wichtig, dass Teile des Films in Paris gedreht werden. Paris wählte ich auch deshalb, weil es neben London die einzige Stadt ist, wo sich die Menschen so stark mischen. Das unglaubliche Menschengemisch in Paris ist faszinierend. Es ging mir auch um das Bild Europas. Es ist uns wenig bewusst, wie sehr sich das Bild Europas rein physisch in den letzten Jahren verändert hat.
Inwiefern haben Sie sich von einem Zufallsprinzip leiten lassen?
Ruth Beckermann: Der Film ist nicht chronologisch gedreht. Ich habe mich schon immer für das automatische Schreiben der Surrealisten interessiert. Das Faszinierende daran ist, dass man einen Satz hinschreibt, der so Vieles in Gang setzt – man kann sich treiben lassen, es verzweigt sich und man weiß gar nicht, wohin man sich bewegt. Das geht beim Schreiben, beim Filmen ist das aufgrund der Produktionsbedingungen unheimlich schwer. Was ich beim Filmen nicht mag, sind die Filme, wo am Papier alles festgelegt ist und wenig Raum für Überraschungen bleibt. Auch bei Spielfilmen mag ich jene, wo man spürt, dass etwas atmet, dass etwas passieren kann,  und wo unvorhergesehene Dinge Platz haben. Das hab ich diesmal versucht umzusetzen und bin darüber sehr glücklich. Ich habe Dinge gefilmt, ohne zu wissen, wo sie im Film ihren Platz finden werden. Dieser Zugang machte einerseits Angst, war aber auch unheimlich spannend.

Sie verweisen in Ihrem Filma auch auf andere von Ihnen: eine Projektion von Jenseits des Krieges, ein Interview mit Elfriede Gerstl aus homemad(e). Man denkt bei den Bildern aus Ägypten an Ein flüchtiger Zug nach dem Orient …
Ruth Beckermann: Mir wurde bewusst, dass meine Erinnerungen zum Teil Erinnerungen einer Filmemacherin sind und ich mich in meinen Filmen mit Themen meiner Kindheit und meines Lebens auseinander gesetzt habe. Ich habe lange gebraucht, mich als Filmemacherin ernst zu nehmen, heute sehe ich, was für ein wichtiges Projekt Jenseits des Krieges war. Nazi-Zeit, Antisemitismus, Fremdenhass, Migration sind Themen in all meinen Filmen – die wollte ich noch einmal reflektieren. Es kommt die Flucht meiner Mutter 1938 aus Wien vor, es kommen Palästinenser vor, nigerianische Flüchtlinge in Sizilien, Massen von Chinesen, die zum Teil wie Sklaven leben, um in Italien Textilien zu erzeugen – dort zu filmen wurde uns übrigens verboten, vielleicht sollte man einen Fim machen über Filme, die man nicht machen darf -, diverse Fluchtbewegungen, von denen ich meine, man muss über diese verschiedenen schrecklichen Ereignisse, die Menschen dazu zwingen, zu flüchten, sprechen, man darf sie aber nicht gleichsetzen. Das „Wie furchtbar war 38“, was ja inzwischen auch hier in Wien offiziell zugegeben wird und nun Thema von Gedenkveranstaltungen ist, halte ich für zu billig. Man muss heute darüber sprechen, was jetzt passiert und Bezüge herstellen. Die Katastrophe, die erst jüngst vor Lampedusa 500 Tote gefordert hat, ist ein grauenhaftes Beispiel. Ich habe dort gefilmt, ich habe gesehen, wie nahe an der Küste die Schiffe untergehen. Keiner kann sagen, er hätte es nicht gewusst. In Those who go – Those who stay gibt es in Lampedusa einen Schwenk, wo man die Segeljachten sieht und dann geht es weiter und die Flüchtlingsboote sind im äußersten Eck des Hafens, so dass man sie kaum sehen und somit auch nicht filmen kann. Dieses Nicht-Sehen halte ich für so tragisch. Auch nach Theresienstadt kam das Rote Kreuz und hatte den Eindruck, den Leuten gehe es gut. Man glaubt, durch die Erfahrungen der Nazi-Zeit sind die Menschen heute sensibilisiert, man ist es aber nicht und es wird alles getan, um uns abzulenken.
Wenn Sie nicht chronologisch gedreht haben, wie ergaben sich dann die Reisen?
Ruth Beckermann: Es war klar, dass ich nach Lignano Pineta will, wo ich viele Sommerferien verbrachte. Ein spontaner Impuls  geht auf die Initiative von Ernst Löschner vom Komitee gegen Unmenschlichkeit zurück, der jedes Jahr das Alpine-Peace-Crossing in Krimml organisiert. Da wird der jüdischen Flüchtlinge gedacht, die 1947 über die Tauern geflüchtet sind, als die Engländer im besetzten Österreich verhindern wollten, dass die Juden nach Palästina auswandern. Diese Wanderung ist zum einen jedes Jahr ein Gedenken, zum anderen stehen aktuelle Flüchtlingsbewegungen im Mittelpunkt. 2011, als ich dort gedreht habe, war das Thema Palästina, das zu meinem ganzen Themenkomplex gepasst hat.In Israel fanden mehrere Drehs zu verschiedenen Zeitpunkten statt. Alexandria war eine Destination, die auf Ein flüchtiger Zug nach dem Orient verweist. Alexandria steht für mich für eine vergebene Chance. Es war in den fünfziger Jahren eine phantastische Stadt. Dort hat es sich einmal vermischt, im Unterschied zu Paris, wo es sich auch heute mischt. Auf der anderen Seite des Mittelmeers mischt es sich immer weniger. In Alexandria wurden schon ab den fünfziger Jahren die Juden, Griechen und anderen Europäer rausgeworfen. Ich bin mir sicher, dass seit meinen Dreharbeiten zu Ein flüchtiger Zug nach dem Orient noch mehr Frauen mit Kopftuch unterwegs sind. Das finde ich sehr beunruhigend.
Those who go – Those who stay ist  auch ein Ausdruck einer Ratlosigkeit über den Zustand Europas. Wohin kann das gehen?
Ruth Beckermann: Die Vermischung der Kulturen ist auch Thema der Diskussion mit einem Musiker in Galiläa. Barbara Taufer lebt schon seit 30 Jahren in Israel, ist zum Judentum übergetreten und lebt in einem Kibbuz und ist für mich eine Wanderin zwischen den Welten. Sie hat mich in dieses arabische Dorf mitgenommen, wo sie mit einem Musiker, einem Drusen, also arabischen Christen, diskutiert. Auch dieses Gespräch habe ich offen und ratlos erlebt, ratlos im negativen und offen im positiven Sinn. Sie vertritt die Meinung, ohne Orient würde Europa gar nicht existieren und er wiederum sagt „Was für eine arabische Kultur? Hätte es je eine arabische Kultur gegeben, dann wären wir heute nicht in diesem Zustand“. Jeder ist sehr selbstkritisch. Das ist ein Diskurs, den ich heute vermisse, auf beiden Seiten. Selbstkritik ist weder auf arabischer noch auf europäischer Seite eine gängige Haltung.
Das Flüchtige bewusst und gleichzeitig sichtbar machen ist ein Thema, dem Sie sich in allen Filmen stellen.
Ruth Beckermann: Es ist ja auch das Schwierigste im Leben, das Flüchtige zu halten und wieder gehen zu lassen, ob es Lieben, Kinder, Eltern oder materielle Dinge sind. Der Titel Those who – go Those who stay hat viel damit zu tun. Mit „to go“ ist ja auch das Sterben gemeint. Der Film endet in Istanbul mit dem kleinen Jungen in der Straßenbahn. In dieser Straße gab es in den fünfziger Jahren einen schrecklichen Pogrom, wo beinahe alle griechischen Geschäfte zerstört wurden. Die Griechen sind auch Menschen, die in der Mittelmeerzone immer wieder vertrieben wurden. Es gefiel mir, den kleinen Jungen zu fragen – Wohin wirst du gehen? In welcher
Türkei wirst du aufwachsen?

thosewhogo.derfilm.at

Trailer: www.youtube.com/watch?v=fhD2WlRxEHY

Wien, 25. 3. 2014

Filmpreise der Diagonale 2014

März 24, 2014 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Auszeichnungen für Houchang Allahyari

und Ruth Beckermann

Houchang Allahyari: Der letzte Tanz - Daniel Sträßer, Erni Mangold Bild: (c) Reinhard Mayr

Houchang Allahyari: Der letzte Tanz – Daniel Sträßer, Erni Mangold
Bild: (c) Reinhard Mayr

Bei der Preisverleihung der Diagonale wurden im Orpheum Graz 18 Filmpreise vergeben, darunter die mit je € 21.000 dotierten Großen Preise für den jeweils besten österreichischen Kinospielfilm bzw. Kinodokumentarfilm. Als bester österreichischer Spielfilm wurde Der letzte Tanz von Houchang Allahyari ausgezeichnet. Nach dem Diagonale-Preis Kurzdokumentarfilm 2012 für Das persische Krokodil ist dies die zweite Auszeichnung für den Regisseur bei der Diagonale. Der Film erzählt von einem jungen Zivildiener, der für einen vermeintlich unakzeptablen Akt der Liebe und der Menschlichkeit von der Gesellschaft ausgeschlossen wird. Für ihre außergewöhnliche Darstellung einer Alzheimerpatientin in Der letzte Tanz erhielt Erni Mangold überdies den Diagonale-Schauspielpreis. Those who go Those who stay von Ruth Beckermann – ein Film über das Unterwegssein in der Welt und im eigenen Lebenslauf – gewann den Großen Diagonale-Preis Dokumentarfilm. Der Preis Innovatives Kino ging an High Tide von Lukas Marxt. Gloria Dürnberger wurde für den Dokumentarfilm Das Kind in der Schachtel mit dem Publikumspreis ausgezeichnet. Neben Erni Mangold wurde Gerhard Liebmann für seine Rollen in Blutgletscher, Das finstere Tal und Bad Fucking mit dem diesjährigen Diagonale-Schauspielpreis ausgezeichnet. Insgesamt wurden im Rahmen der Diagonale 2014 Preise im Wert von knapp € 165.000 vergeben.

Großer Diagonale-Preis Spielfilm des Landes Steiermark (€ 21.000)
Houchang Allahyari für Der letzte Tanz

Großer Diagonale-Preis Dokumentarfilm des Landes Steiermark (€ 21.000)
Ruth Beckermann für Those who go Those who stay

Diagonale-Preis Innovatives Kino der Stadt Graz (€ 10.500)
Lukas Marxt für High Tide
Lobende Erwähnung: Josephine Ahnelt für Wasser aus Korn

Diagonale-Preis Kurzspielfilm von ServusTV (€ 4.000)
Stefan Bohun für Musik
Lobende Erwähnung: Alexandra Makarová für SOLA

Diagonale-Preis Kurzdokumentarfilm der Jury der Diözese Graz-Seckau (€ 4.000)
Antoinette Zwirchmayr für Der Zuhälter und seine Trophäen

Diagonale-Preis der Jugendjury des Landes Steiermark (€ 4.000)
Britta Schoening, Michaela Taschek und Sandra Wollner für Uns geht es gut

Diagonale-Preis Bildgestaltung des Verbandes Österr. Kameraleute AAC (je € 4.000)
Thomas W. Kiennast für Das finstere Tal (Spielfilm)
Joerg Burger und Attila Boa für Das große Museum (Dokumentarfilm)

Diagonale-Preis Schnitt des Verbandes Film- und Videoschnitt aea (je € 3.000)
Karina Ressler für Oktober November (Spielfilm)
Dieter Pichler für Das große Museum (Dokumentarfilm)

Diagonale-Preis Sounddesign des Verbandes Österreichischer Sounddesigner/innen
VOESD (je € 2.000)

Christoph Amann für Shirley – Visions of Reality (Sounddesign Spielfilm)
José Miguel Enriquez und Alejandro de Icaza für Calle López (Sounddesign Dokumentarfilm)

Diagonale-Preis Szenenbild und Kostümbild
des Verbandes Österreichischer Filmausstatter/innen (je € 3.000)
Christina Schaffer für Fieber (Szenenbild Spielfilm)
Theresa Ebner-Lazek für Die Werkstürmer (Kostümbild Spielfilm)

Diagonale-Publikumspreis der Kleinen Zeitung (€ 3.000)
Gloria Dürnberger für Das Kind in der Schachtel

Diagonale-Schauspielpreis in Kooperation mit der VDFS (je € 3.000)
Erni Mangold für Der letzte Tanz
Gerhard Liebmann für Blutgletscher, Das finstere Tal und Bad Fucking

Preis Innovative Produktionsleistung der VAM Verwertungsgesellschaft für
audiovisuelle
Medien (je € 5.000)
Prisma Film- und Fernsehproduktion für Alphabet und Dor Film für Der Letzte der Ungerechten

Etwa 25.500 Besucher/innen (also ein leichter Besucher/innenanstieg: 2013: ca. 25.000) waren auf den Veranstaltungen der Diagonale. Auch abseits der Kinosäle – bei Werkstattgesprächen und Podiumsdiskussionen, beim Branchentreffen, bei den Ausstellungen oder der Nightline herrschte großer Andrang. Einen Höhepunkt markierte die dem Filmkünstler Manfred Neuwirth gewidmete Personale. Zum Publikumsliebling avancierte der diesjährige Tribute-Gast Agnès Godard – eine Ausnahmeerscheinung des zeitgenössischen Kinos. Viel Publikumszuspruch fanden auch die Spezialprogramme zu Peter Lorre und Austrian Pulp. Positives Echo von den rund 150 teilnehmenden Fachbesucher/innen gab es außerdem auf das diesjährige Branchentreffen „Digital Revolution Meets Reality“. Und am letzten Festivaltag konnte sich Spezialgast James Benning über eine ausverkaufte Matineevorstellung seines Meisterwerks Landscape Suicide freuen.

Wie immer positionierte sich das Festival als unverzichtbarer Ort der Begegnung und des Austausches von Filmbranche und Publikum. Zehn Jahre nach der Widerstands-Diagonale regte sich erneut Protest in der Filmbranche. In einer an die Regierungsparteien und die Geschäftsführung des ORF adressierten Videobotschaft warnten zahlreiche Vertreter/innen vor den unmittelbaren Auswirkungen der drohenden Mittelkürzung des ORF nach dem Wegfall der Gebührenrefundierung. www.filmfernsehfreunde.at

Die Diagonale 2015 findet von 17. bis 22. März statt.

www.diagonale.at

www.mottingers-meinung.at/diagonale-georg-friedrich-erhaelt-den-schauspielpreis

Wien, 24. 3. 2014

Viennale 2013: 24. Oktober bis 6. November

Oktober 22, 2013 in Film

VON RUDOLF MOTTINGER

Will Ferrell ist Stargast der diesjährigen Viennale

Will Ferrell: "Blades of Glory" (2007) Bild: DreamWorks Pictures

Will Ferrell: „Blades of Glory“ (2007)
Bild: DreamWorks Pictures

Die Viennale, die heuer von 24. Oktober bis 6. November stattfindet, widmet dem großen amerikanischen Schauspieler und Komiker Will Ferrell ein umfangreiches Film-Tribute. Die gemeinsam mit Will Ferrell getroffene Auswahl aus seinen Arbeiten umfasst einige seiner absoluten Klassiker wie STEP BROTHERS (2008), TALLADEGA NIGHTS: THE BALLAD OF RICKY BOBBY (2006) oder OLD SCHOOL (2002), aber auch weniger Bekanntes wie etwa CASA DE MI PADRE (2012), YOU’RE WELCOME AMERICA. A FINAL NIGHT WITH GEORGE W. BUSH (2009), sowie unter dem Titel SAFETY LAST! eine Auswahl seiner besten Shorts und TV-Sketches. Die Viennale ist das erste Filmfestival weltweit, das dem Ausnahmekünstler Will Ferrell eine längst überfällige Hommage widmet und freut sich, dass Will Ferrell aus diesem Anlass persönlich Gast der diesjährigen Viennale sein wird. Am Mittwoch, den 6. November findet um 17 Uhr im Gartenbaukino eine Galaveranstaltung mit dem Film ANCHORMAN: THE LEGEND OF RON BURGUNDY in Anwesenheit von Will Ferrell statt, gefolgt von einem ausführlichen Bühnengespräch. „Mit Will Ferrell würdigt die Viennale einen der originärsten und intelligentesten Komiker des gegenwärtigen Kinos. Umso größer ist unsere Freude, dass wir Will Ferrell persönlich im Rahmen der diesjährigen Viennale begrüßen können,“ so Viennale-Direktor Hans Hurch.

WELTPREMIEREN BEI DER VIENNALE 2013

NEUE ARBEITEN BEDEUTENDER FILMEMACHER WIE EDGARDO COZARINSKY, GONZALO GARCÍA PELAYO, JEAN-MARIE STRAUB, KLAUS LEMKE UND RUTH BECKERMANN
In diesem Jahr wird es eine besonders reichhaltige und spannende Auswahl an Welturaufführungen und internationalen Premieren geben, darunter Werke einer Reihe von prominenten und international relevanten Regisseuren. Der Argentinier Edgardo Cozarinsky zeigt in Wien erstmalig CARTA A UN PADRE, seinen lang erwarteten Essay über die Geschichte und das Schicksal seines Vaters. Jean-Marie Straub hat dem Festival die Premiere seines neunen Films DIALOGUE D’OMBRES nach einem Text von Georges Bernanos – und zugleich eines der frühsten Projekte seines langen Arbeitslebens – überlassen. Gonzalo García Pelayo, dem die Viennale in diesem Jahr ein Tribute widmet, präsentiert persönlich die Welturaufführung seines ersten Films nach 31 Jahren, ALEGRÍAS DE CÁDIZ, in Wien. Ebenfalls bei der Viennale erstmalig zu sehen ist KEIN GROSSES DING, der neue Film von Klaus Lemke, und die aktuelle Dokumentation von Ruth Beckermann THOSE WHO GO THOSE WHO STAY. Dazu kommen weitere Arbeiten, darunter Filme von Harald Bergmann, Sandro Aguilar oder Luciano Piazza, sowie die internationalen Premieren neuer Werke von Volker Koepp, Raya Martin und Mark Peranson, von Jennifer Reeder, Robert Beavers und Ning Ying. „Die jährlich wachsende Zahl an bedeutenden RegisseurInnen, die der Viennale die Premiere ihrer Arbeiten
anvertrauen, ist für uns ein schöner Hinweis auf die große internationale Wertschätzung und Bedeutung, die dem Festival weltweit entgegengebracht wird“, so Viennale-Direktor Hans Hurch.

Retrospektive 2013

JERRY LEWIS

Bereits mit fünf Jahren stand Jerry Lewis, 1926 als Joseph Levitch und Sohn russisch-jüdischer Eltern geboren, gemeinsam mit seinem Vater, einem Entertainer, erstmals auf einer Bühne. Und als er 1945 auf Dean Martin traf, konnte er auf drei Jahre Erfahrung als eigenständiger Komiker zurückblicken. Lewis und Martin wurden zum Dreamteam der New Yorker Clubs, ab 1949 auch Hollywoods und traten in sechzehn Filmen gemeinsam auf. 1956 trennten sich ihre Wege und Lewis’ Karriere als Regisseur begann. Gleichzeitig hinter und vor der Kamera, und auf beiden Seiten gleich perfektionistisch, schuf er in der Slapstick-Tradition eines Stan Laurel sein eigenes geniales Universum der komisch-desaströsen Tollpatsche, Sissies und sympathisch schüchternen Außenseiter, die vor lauter Bemühen dazuzugehören eine fröhliche Spur der Verwüstung hinterlassen. Seit Beginn der siebziger Jahre machte der «King of Comedy» sich rar als Filmemacher wie als Schauspieler, wurde aber seit seiner Rolle in Scorseses gleichnamigem Film von 1983 endlich auch als Darsteller jenseits des Komikerfachs ernstgenommen. Seine größte Wertschätzung erfuhr Lewis, der wie der Inbegriff des Amerikanischen erscheinen mag, paradoxerweise stets jenseits der USA. Es waren die europäischen Cineasten, vornehmlich in Frankreich, die schon früh in ihm einen der großen Individualisten des Kinos erkannten.

www.viennale.at

Wien, 22. 10. 2013