Akademietheater: Engel in Amerika

November 16, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Mit Drag Queen Glamour gegen die Todesseuche

Patrick Güldenberg. Bild: © Susanne Hassler-Smith

Mit höchstem Lob und Beifall soll in dieser insgesamt bemerkenswerten Inszenierung als erste Dorothee Hartinger bedankt sein, die erst am Vormittag gefragt wurde, ob sie den Part der erkrankten, beinah stimmlosen Barbara Petritsch übernehmen könne. Ohne Probe und mit Textzettel in der Hand stürzte sich die Hartinger kopfüber ins Geschehen.

Immerhin galt es Mutter Hannah Porter Pitt, Rabbi Isidor Chemelwitz, den Arzt Henry und das geröstete Gespenst von Ethel Rosenberg zu verkörpern – und voilà, beim Bühnenvollblut lag die Herausforderung in besten Händen. Glücklich darf sich ein Direktor schätzen, der auf derlei Schauspielerinnen und Schauspieler zurückgreifen kann. Vom insgesamt jubelnden Publikum wurde Dorothee Hartinger mit einem besonders herzlichen Applaus bedacht.

Am Akademietheater wird also in der Regie von Daniel Kramer Tony Kushners „Engel in Amerika“ gezeigt. Der US-amerikanische Dramatiker schrieb seine mit dem Pulitzer-Preis, einem Tony Award und einem Drama Desk Award ausgezeichnete „Gay Fantasie on National Themes“ im Jahr 1990 – und freilich hat

sich in der sogenannten Ersten Welt (und nur dort) mittlerweile mit PEP einiges bewegt. Doch „Engel in Amerika“ – zuletzt bei der Neuen Oper Wien als Péter Eötvös‘ Musiktheater zu erleben, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34820 – ist mehr als ein AIDS-Drama. Es ist eine gesellschaftliche Abrechnung mit Neoliberalismus, Freunderlwirtschaft, dem Anspruch auf Gleichberechtigung bei gleichzeitiger Intoleranz von Politik (und deren Unfähigkeit mit der derzeitigen Pandemie umzugehen) und Glaubensgemeinschaften. Eine wütend-sarkastische Anti-Anti-Story. Und noch immer kriminalisieren 80 Staaten einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen. In fünf Ländern (Iran, Jemen, Mauretanien, Saudi-Arabien, Sudan) sowie in Teilen Nigerias und Somalias werden sie sogar mit dem Tode bestraft.

Felix Rech und Markus Scheumann. Bild: © S. Hassler-Smith

Nils Strunk und Felix Rech. Bild: © Susanne Hassler-Smith

Annamária Láng. Bild: © Karolina Miernik

Nils Strunk und Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Aber auch in Ländern ohne solch homophobe Strafgesetze sind Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender oft dem Hass paramilitärischer Gruppen oder Übergriffen der Staatsorgane ausgesetzt. Die Formen der Gewalt reichen von willkürlichen Verhaftungen, Schikanierung und Erpressung über Prügel und sexuelle Demütigungen bis hin zu Vergewaltigungen und brutalen Morden. In Europa ist es ebenso um die Menschenrechte der LGBTQI+-Community mancherorts schlecht bestellt. Gerade in Staaten des ehemaligen Ostblocks werden Gay Pride Paraden von rechtsradikalen Schlägertrupps angegriffen; in einigen Hauptstädten – darunter Warschau, Moskau, Riga und Chisinau – sind sie von den Behörden verboten.

So etwas verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und ist mit der Mitgliedschaft in der EU und im Europarat unvereinbar. Doch die Amtsstellen hoffen, dass diese Missachtung europäischer Werte und demokratischer Prinzipien nicht weiter auffällt, da sie sich gegen eine vermeintlich „kleine Minderheit“ richtet. Mutige Menschenrechtsverteidiger machen hingegen deutlich, dass sexuelle Selbstbestimmung kein Menschenrecht zweiter Klasse ist.

Zurück zum hochaktuellen gestrigen Abend, keinem „Rückblick“ oder „Stück schwuler Kulturgeschichte“, da „von AIDS niemand mehr spricht“, wie hie und da zu lesen, dafür mit den beiden Zuschauerinnen in der Reihe hinter einem, die den „scheußlichen Vorhang“ nicht als Regenbogenflagge identifizieren konnten. Vom Foyer in den Saal kommend empfangen einen unterm Glitter einer Discokugel Cyndi Lauper, Boy George, die Village People und Gloria Gaynor. I will survive. Immer noch der #1-Hit der Schwulenbewegung. Annette Murschetz zeigt, als sich der Vorhang hebt, vor desolater, getaggter Kachelwand einen gestapelten Haufen schwarzer Särge, die später als Bar, Pissoir, Theaterschminkspiegel und Totenlade dienen werden.

Kushner verwebt den New Yorker Totentanz seiner Figuren zu einem kunstvollen, immer surrealer, immer expressionistischer werdenden Gebilde, bis sich der Kreis zum Ganzen schließt. Da ist zunächst das Liebespaar Mayflower-Nachkomme Prior Walter (Patrick Güldenberg) und – der nicht wirklich fromme Jude – Louis Ironson (Nils Strunk), der mit der AIDS-Erkrankung seines Lebensgefährten nicht umzugehen weiß, der sich vor dessen Krankheitssymptomen ekelt, überfordert zwischen Fluchtgedanken und Aufopferungswillen pendelt, und ihn schließlich verlässt. Außerdem das Mormonenehepaar Joe Pitt (Felix Rech), der mit seiner Religion vs. seiner sexuellen Orientierung kämpft, und Harper Pitt (Annamária Láng), die sich täglich ins Valium-Nirvana halluziniert, um die unterschwellige Ahnung, die sie über Joe hat, nicht Wahrheit werden zu lassen.

Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Scheumann und Rech. Bild: © K. Miernik

Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Joe und Louis sind Mitarbeiter am Bundesappellationsgericht, wo sie einander eines Tages auf der Herrentoilette begegnen und … naja. Man befindet sich also am unteren Ende der Oberschicht, dominiert vom zwielichtigen Juristen Roy M. Cohn (Markus Scheumann), der einzig real existiert habenden Person im Stück – dazu die Kurzzusammenfassung: politischer Ziehsohn von J.Edgar Hoover, der ihn an Joseph McCarthy weitervermittelte, Kommunistenhetzer, verantwortlich für die Hinrichtung Ethel Rosenbergs auf dem elektrischen Stuhl, Rechtsanwalt von Donald Trump, Berater von Richard Nixon und Ronald Reagan, homosexuell. Als bei ihm 1984 AIDS diagnostiziert wurde, behauptete er bis zuletzt Leberkrebs zu haben. Schwulsein ist nichts für Macher.

Schon Scheumanns intrigant-hektische Eröffnung des Schauspiels ist vom Feinsten. Auf drei Uralt-Handys gleichzeitig telefonierend beschafft er einer Senatorengattin Cats-Karten, macht seinen Assistenten zur Schnecke und versucht einen Deal an Land zu ziehen, dies im Sprech-Stakkato und alsbald im Jockstrap, während er Richtung Joe Grimassen schneidet, die erläutern, mit welchen Armleuchtern er es hier zu tun hat. Mit Joe hat er große Pläne, er soll sein Mann in Washington werden, wo er es sich wegen seiner Machenschaften verscherzt hat. Doch der macht sich Sorgen, nicht nur wegen seines Gönners Skrupellosigkeit, sondern auch, dass Harper den Politsündenpfuhl nicht verkraftet.

Je mehr Fahrt die Handlung aufnimmt, desto fantastischer werden die Kostüme. Der georgische Modedesigner Shalva Nikvashvili, in seinen Arbeiten stets mit Identitätsfragen und Ideosynkrasie beschäftigt, wechselt vom Grau in Grau der Yuppie-Anwaltswelt zu Paradiesvögeln, die einen direkt in RuPaul’s Drag Race katapultieren. (Die Rosa Winkel, die Homosexuelle als Kennzeichnung in den NS-Konzentrationslagern auf der Häftlingskleidung tragen mussten, als Sinnbild für das Kaposi-Sarkom auf die Körper der Darsteller gemalt, wurden auch zum Symbol der Schwulenbewegung Act Up.)

Im Wortsinn schönster Nutznießer von Nikvashvilis Ideenreichtum ist der genial-spielfreudige Bless Amada als Belize, vormals Drag Queen und Priors Lover, nun dessen staatlich geprüfter Krankenpfleger. In Fieberträumen, Wahnvorstellungen, queeren Visionen, eskalierenden Phantasmagorien erscheinen die Gespenster einer güldenen Vergangenheit, Kontorsionistin und Drag Queen Pandora Nox hat dazu die Choreografien erdacht. Hinreißend Patrick Güldenbergs Outfit als sterbender Schwan, später als eine Art Königin der Nacht.

Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Bless Amada und Annamária Láng. Bild: © Karolina Miernik

Amada, Rech, Strunk und Scheumann. Bild: © Karolina Miernik

Bless Amada und Patrick Güldenberg. Bild: © Karolina Miernik

Es ist Regisseur Daniel Kramer hoch anzurechnen, dass er den Spagat zwischen Erotik und Exzentrik, Dramatik, Witz und Sentiment ebenso parallel zu führen versteht, wie die oft synchron ablaufenden Szenen, wie er Explizites im Central Park und Schwulenclubs elegant zu lösen vermag. Bless Amada wird als blau-weiß-grinsende Glückspille zu Harpers „Reiseagent“, der mit ihrem Eisbären-Ich und Riesenmedikamentendose in der Arktis landet. Bless Amadas Belize, die sich selbst Kadaverette nennt und bittersüß Playback-Songs singt, mal als Christbaum, mal als Santa Claus‘ Lieblingself, mal als Diana Ross‘ sexyer Sister. Dann wieder Prior betreuend, der in einem gläsernen Schneewittchen-Sarg beziehungsweise Inkubator liegend teerige Körperflüssigkeit verliert.

Eine der stärksten Szenen des Abends ist, wenn Louis sich vor Belize in einen völligen Schwachsinn über die Ausgrenzung Andersseiender anderswo deliriert, dazu seine Ansichten zum angeblich problemlosen Zusammenleben à la USA zelebriert, bis Belize die Spucke wegbleibt. So viel rassistischen Unfug hat er noch nie gehört. Das ist nicht nur von Nils Strunk und Bless Amada glänzend gespielt, sondern zeigt: „Race“ ist jenes Thema des Stückes, das an gesellschaftlicher Relevanz noch zugelegt hat. Das geht so lange ungut, bis der Jude und die Person of Color einander gegenseitig Rassismus vorwerfen, Belize, die Louis Feigheit vor Priors Krankheit anprangert. Und während der drei Stunden Spieldauer senkt sich ein gigantischer HI-Virus auf die Bühne herab.

Zum Ende? Dorothee Hartinger als Ethel Rosenberg mit elektrisch aufgeladenen Haaren, Markus Scheumann, der wie Dracula seinem Sarg entsteigt, um in der brennheißen Hölle zu landen – und endlich der Engel, Safira Robens, geharnischt in Stahlgrau und mit flammendem Schwert. Dessen letzte Worte an Prior: „Sieh nach oben! / Sieh nach oben! / Bereite den Weg …“ Eine Schlussapotheose, die im Getümmel leider ein wenig untergeht. Im nicht gerade überfüllten Akademietheater hatten nach der Pause noch einige Teile des Publikums die Flucht ergriffen. Schade, den „Engel in Amerika“ mit diesem sensationellen Ensemble und grandiosem Leading Team ist ein absolutes Muss!

Teaser: www.youtube.com/watch?v=CHWg74-R9v8           www.burgtheater.at

TIPP – Werk im Fokus #41: Engel in Amerika. Am 17. November sind Nils Strunk und Patrick Güldenberg ab 18.45 Uhr auf ZOOM zu Gast, um mit dem Publikum über ihre Charaktere Louis Ironson und dessen Lebensgefährten Prior Walter zu diskutieren. Kostenlos für Newsletter-AbonnentInnen. Der Link dazu wird am jeweiligen Tag direkt verschickt. Mehr Info: www.burgtheater.at/newsletter-bestellen

  1. 11. 2022

Endlich im Kino: Koproduzent Österreichs Oscar-Beitrag „Quo vadis, Aida?“

Juli 13, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Massaker von Srebrenica, die Schande Europas

Die Dolmetscherin Aida Selmanagic sucht unter 25.000 Flüchtlingen ihren Ehemann und ihre beiden Söhne: Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Für einen Oscar 2021 hat’s zwar nicht gereicht, der Spielfilm der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić „Quo vadis, Aida?“ war in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert, dafür gab’s bisher 16 andere internationale Auszeichnungen. An der europäischen Koproduktion sind außer Bosnien-Herzegowina sieben weitere

Länder beteiligt, aus Österreich die coop99 filmproduktion mit den Koproduzenten Barbara Albert, Antonin Svoboda und Bruno Wagner – COV19-, heißt: Lockdown-bedingt immer wieder verschoben, ist das Drama über das Massaker von Srebrenica nun endlich in den heimischen Kinos zu sehen. Hier noch einmal die Filmrezension vom März: Aida rennt. Sie hastet durch Korridore, irrt durchs Labyrinth der früheren Batteriefabrik, vorbei an den Blauhelmen, durchs provisorisch eingerichtete Lazarett, hinaus ins so unfreie Freie, wo 25.000 bosnische Flüchtlinge vergeblich auf Einlass ins UNPROFOR-Quartier in Potočari hoffen. Es ist der 11. Juli 1995, so auch ein früherer Titel des Films: „11th of July“, die Menschen kommen aus Srebrenica – womit sich mehr zu erläutern eigentlich erübrigt. Aida erklimmt das Wärterhäuschen am Schranken, „Nihad, Hamdija, Sejo!“ ruft sie, doch wie unter den vielen hier Ehemann und Söhne finden?

„Quo vadis, Aida?“ der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić ist ein Film, der wehtut. So richtig wehtut. Und das ist gut so. Das Massaker von Srebrenica ist die Schande Europas, und nicht die letzte, wie man anno 2021 weiß. Sieht man die Bilder dieser am Zaun ihrer Überlebenschance abgewiesenen Männer, Frauen, Kinder, muss man unweigerlich an jüngere Ereignisse denken. Derart spannt der Film einen Bogen zu Moria, Kara Tepe, Europas Außengrenzen, Lipa tatsächlich an der bosnisch-kroatischen. „Quo vadis, Aida?“ ist kein Plädoyer, es ist ein Appell.

Žbanić, selbst Überlebende des Bosnienkriegs, Mitglied des „Democracy in Europe Movement 2025“, Unterzeichnerin der „Deklaration zur gemeinsamen Sprache der Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner“, ließ sich für ihr Skript vom Buch über den Völkermord in Srebrenica des Übersetzers für die UN-Truppen Hasan Nuhanović inspirieren. Diese Dolmetscherin ist nun Aida Selmanagić, die Jasna Đuričić mit einer Eindringlichkeit, einer Unmittelbarkeit spielt, für die sich der serbische Theater- und Kinostar eine Oscar-Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient gehabt hätte.

Eben noch hatte Colonel Karremans den an Hunger sterbenden – denn die bosnisch-serbische Armee ließ keine Hilfslieferungen zu – Srebrenicern erklärt, in der „Schutzzone“ seien sie sicher, da schlagen die Granaten ein, rollen Panzer an, Kriegsherr, Kriegsverbrecher Ratko Mladić im Machtrausch, Darsteller Boris Isaković auch von einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit. „Ich schenke diese Stadt dem serbischen Volk“, verkündet der General in die Fernsehkamera, dieser ständigen Begleiterin seines Eroberungsfeldzugs. Seine „ethnische Säuberung“ wird 250.000 Tote fordern, 1.3 Millionen Flüchtlinge, geschätzte 20.000 bis 50.000 Vergewaltigungsopfer – in Srebrenica wurden 8372 muslimische Männer und Jungen ermordet -, der schlimmste Genozid in Europa seit dem Dritten Reich.

Und die Menschen laufen mit Sack und Pack, Gehbehinderte in Schubkarren, Mütter, die ihre Kinder im Chaos verloren haben, Verletzte, eine Kuh als letztverbliebenes Hab und Gut. Die Statistinnen und Statisten aus Stolac und Mostar, das ist die Stadt an der Brücke Stari Most, sind mit großer Ernsthaftigkeit bei der Sache. Jede und jeder auf den die Grazer Kamerafrau Christine A. Maier, bekannt für Barbara Alberts „Licht“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27053) oder Ruth Maders „Life Guidance“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27841), zoomt, verkörpert einen Charakter, Gesichter, die um das wissen, was hier geschildert wird, Gesichter, die man so schnell nicht vergisst.

Rückblende: Aidas Erinnerungen an einen unernsten Beauty-Contest in Srebrenica. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Niederländer wollen nicht helfen, Aida ist ratlos und verzweifelt: Jasna Đuričić:. Bild: © Polyfilm Verleih

Ratko Mladić-Mann Joka provoziert Major Franken: Emir Hadžihafizbegović und Raymond Thiry. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Unterhändler unterwegs zu Mladić: Rijad Gvozden als Muharem, Johan Heldenbergh als Colonel Karremans und Jelena Kordić-Kuret als Chamila. Bild: @ Polyfilm Verleih

Tausende suchen im UNO-Gelände in in Potočari, wo bald chaotische Zustände herrschen. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida erklärt den Flüchtlingen, dass sie deportiert werden: Raymond Thiry und Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Ob’s nun heißt, die Basis ist voll oder das Boot ist voll, das Dutchbat ist von der Situation völlig überfordert. Karremans telefoniert vergeblich um Luftunterstützung, die NATO-Generalität urlaubt um diese Jahreszeit. Später wenn Mladićs Tschetniks mit der Unverfrorenheit der Sieger den UN-Stützpunkt nach muslimischen Freischärlern durchsuchen, wenn der abgebrühte, herrlich großsprecherische Joka von Emir Hadžihafizbegović den diensthabenden Major Franken, Raymond Thiry, wie einen Schulbuben abkanzeln wird, werden dessen Jungs in ihren lächerlichen kurzen Camouflage-Hosen ob all des Leids rund um sie den Tränen nahe sein.

Aida, von den Niederländern überdeutlich als Untergebene behandelt, hat es zwischenzeitlich geschafft, ihre Familie ins Camp zu holen, indem sie ihren Mann und ehemaligen Schuldirektor Nihad für die Gruppe der Unterhändler, die Mladić zu sehen verlangt, vorschlägt. Auch Izudin Bajrović als in sich gekehrter Nihad, Boris Ler als nervlich schwer angeschlagener Hamdija und Dino Bajrović als dessen jüngerer Bruder Sejo agieren mit einer Authentizität, die gespenstisch, die kaum auszuhalten ist.

Ebenso Jelena Kordić-Kuret als Chamila und Rijad Gvozden als Muharam, die mit Nihad das „Verhandlerteam“ bilden. Chamila, die sich auf ekelhafte Art nach Waffen abtasten lassen muss, während der niederländische Soldat nach der Losung „Wir dürfen die Serben nicht reizen!“ schweigt, Rijad Gvozden, der als Kriegswaise im SOS-Kinderdorf in Gračanica aufwuchs, und der’s als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur auf die Kinoleinwand schaffte.

Die Anspannung, die Todesangst, die Panik, das Unverständnis über den Hass der gerade noch gewesenen Hausnachbarn ist förmlich mit Händen zu greifen, das nahende Unheil liegt in der Luft, Gerüchte von Vergewaltigungen und Erschießungen gehen um. Zu den nach außen hin ruhig ausharrenden Flüchtlingen mengt Jasmila Žbanić den Kommandoton, im Grunde Ohnmachtsschrei der niederländischen Soldaten, stille Minuten des Zusammensitzens mit dem mitfühlenden Arzt Dr. Robben, Reinout Bussemaker, ein kleines Lachen, ein schneller Kuss, in der Rückblende Aidas Erinnerung an einen nicht ganz ernst gemeinten Beauty-Contest. Beim Kolo, beim Reigentanz, hält die Kamera inmitten der ausgelassenen Stimmung wie versteinerte Mienen fest. Sind diese Menschen tot, klagen sie uns an, war der oder der nicht unter den Widerstandskämpfern zu sehen?

Momente sind das. Blauhelme mit gesenkten Köpfen vs. die serbischen Herrenmenschen, die Furcht vor Mladićs Unberechenbarkeit so enorm, dass die Niederländer alle Prinzipien, alle Vorschriften außer Acht lassen. Die UNPROFOR, die der General sowieso deppert anrennen lässt, ohne Benzin, ohne Nahrungsmittel, erst die Tschetniks bringen Brot ins Lager, welch ein Armutszeugnis, was muss Mladić gelacht haben. Chamila, die im Gegenüber von Ermin Bravo einen ehemaligen Mitschüler erkennt, die Vorkriegs-Lehrerin Aida im brutalen Beli von Jovan Zivanovic einen früheren Schüler – ein kurzer Dialog, der mit Grüßen an die jeweiligen Verwandten endet, doch als Major Beli Mutter Aida nach dem Verbleib von Hamdija fragt - die beiden waren offensichtlich früher befreundet -, erkennt man, wie doppelbödig diese Frage ist und wie gefährlich eine ehrliche Antwort sein könnte.

Und in all das hinein wird ein Kind geboren, ein Symbol, das jüngste Opfer in Srebrenica war ein wenige Stunden altes Baby, ein Mädchen, das Fatima genannt werden sollte. Und Aida rennt. Wie eine Löwin, mit dem Mut der Verzweiflung hat sie für ihre drei Männer gefightet, für die die plötzlich wieder befehlsgehorsamen Niederländer keinen Platz im abrückenden Konvoi freimachen wollen – die humanitäre Katastrophe ist gleichsam die Niederlage des Humanismus. Jeder Ausweg, den Aida einschlägt, endet vor neuen Hürden, neuen Hindernissen, in Sackgassen. Es ist ein Anlaufen gegen das Unvermeidliche.

Für ihr starkes Spiel hätte sich Jasna Đuričić eine Oscar-Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient gehabt. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida, in doppeltem Wortsinn eine Seherin, ist nicht nur Getriebene, sondern auch treibende Kraft, als Übersetzerin versucht sie dort zu vermitteln, wo „vernünftig“ Reden längst nichts mehr bewirken kann. Immer mehr wird sie, der die anderen bevorzugte Behandlung unterstellen, zur Zielscheibe von Neid, Wut und Frustration. In der Szene, in der sie den Flüchtlingen mitteilen muss, dass sie von den bosnisch-serbischen Soldaten nach Kladanj abtransportiert werden, Sätze, bei denen sie ihre Skrupel kaum noch runterwürgen kann, bleibt

einem selbst ein Kloss im Hals stecken. Der Strudel, der Aida in die Tiefe zieht, er hat einen längst erfasst. Was folgt ist scheußlichste Zeitgeschichte. Frauen und Mädchen werden von Männern und Jungen getrennt, was weiblich ist, in Autobusse verfrachtet, was männlich ist, weggeführt, die Selektierten jedem Schutz durch die UNPROFOR entzogen, 200 Meter von der UN-Basis entfernt laden erste Erschießungskommandos durch. Für andere geht’s statt zur „Entlausung“ zu einer „Filmvorführung“, statt Gas einzuleiten ragen Maschinengewehre durch die Oberlichten … „nur weil wir bestimmte Dinge für unvorstellbar halten, heißt das nicht, dass sie nicht geschehen können“, sagt Jasmila Žbanić in einer „Director’s Note“.

Unbegreiflich bleibt dennoch, wie 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Shoah mitten in Europa ein Massaker stattfanden konnte, das bis heute eine klaffende Wunde in den Herzen zweier, nein: dreier Völker ist. Zum 25-Jahr-Gedenken 2020 blieben die Fronten verhärtet. Bosnische Meinungsmacher betreiben Polit-Propaganda, serbische leugnen. Um Peter Handke gab’s genug Aufregung, Aufregung auch, weil die Niederlande demonstrativ ihre Srebrenica-Blauhelme ehrten, Hasan Nuhanović fordert immer noch Gerechtigkeit für sich und seine abgeschlachtete Familie.

Dies ist der Film der Stunde, der größtmögliche Aufmerksamkeit verdient, ein Film, der niemanden kalt lassen kann. Er erzählt von Srebrenica mit einer Allgemeingültigkeit für alle Schauplätze, an denen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihres demokratiepolitischen Engagements verfolgt und verschleppt werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es ist Jasmila Žbanić zu unterstellen, dass sie das Heute wie das Gestern meint, und sage keiner, „das sind andere Umstände, andere Lager, andere Gründe, unlogische, unrealistische, suchen Sie keine Begründungen zur Seite zu schauen, mit den Achseln zu zucken, das Leid nicht zur Kenntnis zu nehmen“, schreibt der Buchenwald-Überlebende Ivan Ivanji in seinem jüngsten Buch (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=45243).

Den Film beschließt ein Epilog – Achtung: Spoiler! Es ist Winter, an Aidas ergrauendem Haar sichtlich etliche Jahre später, die Lehrerin ist zurück in Srebrenica, will wieder als solche arbeiten, und fordert von der jungen Vesna, Edita Malovčić, ihre alte Wohnung zurück. Vesna stellt Aida ihren Sohn Luca als deren künftigen Erstklassler vor. Ein Augenblick, in dem sie – ist er’s wirklich? – im Stiegenhaus Lucas mit Einkaufstaschen bepackten Opa Joka sieht. Er erkennt sie nicht, grüßt freundlich, nicht alle landen im Fangnetz von Den Haag. Eine Aufnahme, in der Frauen um sterbliche Überreste im Kreis gehen, Angehörige, die vergraben, nicht beerdigt wurden, Skelette und Stoffreste – da erkennt Aida Hamdijas Sneaker.

Schnitt. Eine Schüleraufführung. In der ersten Reihe Luca, im Publikum Frauen mit bosnischem Hidzab und ohne, Muslime und Serbisch-Orthodoxe, und eine stolze Lehrerin Aida, die an der Sprossenwand lehnt. Die Kinder singen ein Lied, halten erst die Hände vors Gesicht, dann heißt es: Augen auf! Vielleicht ist ja die nächste Generation eine Friedenschance … Erstveröffentlichung: www.mottingers-meinung.at/?p=45395

www.facebook.com/quovadisaida       Jasmila Žbanić im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=91OYf2rspDQ       Original-Trailer – unbedingt ansehen: www.youtube.com/watch?v=ErLD8P4VUjY

13. 7. 2021

Academy Awards – „Quo vadis, Aida?“ ist auch für Österreich im Rennen um den Auslands-Oscar

März 24, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Massaker von Srebrenica, die Schande Europas

Die Dolmetscherin Aida Selmanagić sucht unter 25.000 Flüchtlingen ihren Ehemann Nihad und ihre beiden Söhne Hamdija und Sejo: Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Mit etwas Glück, kann auch Österreich an den diesjährigen Academy Awards teilhaben: Der Spielfilm der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić „Quo vadis, Aida?“ ist in der Kategorie Bester internationaler Film nominiert, zusammen mit Einreichungen aus Hongkong, Rumänien, Tunesien – und Thomas Vinterbergs „Der Rausch“ als dänischem Beitrag.

An der europäischen Koproduktion sind außer Bosnien-Herzegowina sieben weitere Länder beteiligt, aus Österreich die coop99 filmproduktion mit den Koproduzenten Barbara Albert, Antonin Svoboda und Bruno Wagner – die bereits vielfach ausgezeichnete Arbeit, die am 7. Mai in den heimischen Kinos anlaufen soll, hätte sich den Auslands-Oscar mehr als verdient; in Venedig musste man den Goldenen Löwen knapp an Chloé Zhaos „Nomadland“ abtreten … Hier die Filmrezension:

Jasna Đuričić wäre eine Nominierung wert gewesen

Aida rennt. Sie hastet durch Korridore, irrt durchs Labyrinth der früheren Batteriefabrik, vorbei an den Blauhelmen, durchs provisorisch eingerichtete Lazarett, hinaus ins so unfreie Freie, wo 25.000 bosnische Flüchtlinge vergeblich auf Einlass ins UNPROFOR-Quartier in Potočari hoffen. Es ist der 11. Juli 1995, so auch ein früherer Titel des Films: „11th of July“, die Menschen kommen aus Srebrenica – womit sich mehr zu erläutern eigentlich erübrigt. Aida erklimmt das Wärterhäuschen am Schranken, „Nihad, Hamdija, Sejo!“ ruft sie, doch wie unter den vielen hier Ehemann und Söhne finden?

„Quo vadis, Aida?“ der bosnischen Regisseurin und Drehbuchautorin Jasmila Žbanić ist ein Film, der wehtut. So richtig wehtut. Und das ist gut so. Das Massaker von Srebrenica ist die Schande Europas, und nicht die letzte, wie man anno 2021 weiß. Sieht man die Bilder dieser am Zaun ihrer Überlebenschance abgewiesenen Männer, Frauen, Kinder, muss man unweigerlich an jüngere Ereignisse denken. Derart spannt der Film einen Bogen zu Moria, Kara Tepe, Europas Außengrenzen, Lipa, tatsächlich an der bosnisch-kroatischen. „Quo vadis, Aida?“ ist kein Plädoyer, es ist ein Appell.

Žbanić, selbst Überlebende des Bosnienkriegs, Mitglied des „Democracy in Europe Movement 2025“, Unterzeichnerin der „Deklaration zur gemeinsamen Sprache der Kroaten, Serben, Bosniaken und Montenegriner“, ließ sich für ihr Skript vom Buch über den Völkermord in Srebrenica des Übersetzers für die UN-Truppen Hasan Nuhanović inspirieren. Diese Dolmetscherin ist nun Aida Selmanagić, die Jasna Đuričić mit einer Eindringlichkeit, einer Unmittelbarkeit spielt, für die sich der serbische Theater- und Kinostar eine Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient hätte.

Eben noch hatte Colonel Karremans den an Hunger sterbenden – denn die bosnisch-serbische Armee ließ keine Hilfslieferungen zu – Srebrenicern erklärt, in der „Schutzzone“ seien sie sicher, da schlagen die Granaten ein, rollen Panzer an, Kriegsherr, Kriegsverbrecher Ratko Mladić im Machtrausch, Darsteller Boris Isaković auch von einer gewissen äußerlichen Ähnlichkeit. „Ich schenke diese Stadt dem serbischen Volk“, verkündet der General in die Fernsehkamera, dieser ständigen Begleiterin seines Eroberungsfeldzugs. Seine „ethnische Säuberung“ wird 250.000 Tote fordern, 1.3 Millionen Flüchtlinge, geschätzte 20.000 bis 50.000 Vergewaltigungsopfer – in Srebrenica wurden 8372 muslimische Männer und Jungen ermordet -, der schlimmste Genozid in Europa seit dem Dritten Reich.

Und die Menschen laufen mit Sack und Pack, Gehbehinderte in Schubkarren, Mütter, die ihre Kinder im Chaos verloren haben, Verletzte, eine Kuh als letztverbliebenes Hab und Gut. Die Statistinnen und Statisten aus Stolac und Mostar, das ist die Stadt an der Brücke Stari Most, sind mit großer Ernsthaftigkeit bei der Sache. Jede und jeder auf den die Grazer Kamerafrau Christine A. Maier, bekannt für Barbara Alberts „Licht“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27053) oder Ruth Maders „Life Guidance“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=27841), zoomt, verkörpert einen Charakter, Gesichter, die um das wissen, was hier geschildert wird, Gesichter, die man so schnell nicht vergisst.

Rückblende: Aidas Erinnerungen an einen unernsten Beauty-Contest in Srebrenica. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Niederländer wollen nicht helfen, Aida ist ratlos und verzweifelt: Jasna Đuričić:. Bild: © Polyfilm Verleih

Ratko Mladić-Mann Joka provoziert Major Franken: Emir Hadžihafizbegović und Raymond Thiry. Bild: © Polyfilm Verleih

Die Unterhändler unterwegs zu Mladić: Rijad Gvozden als Muharem, Johan Heldenbergh als Colonel Karremans und Jelena Kordić-Kuret als Chamila. Bild: @ Polyfilm Verleih

Tausende landen im UNO-Gelände in Potočari, wo bald chaotische Zustände herrschen. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida erklärt den Flüchtlingen, dass sie deportiert werden: Raymond Thiry und Jasna Đuričić. Bild: © Polyfilm Verleih

Ob’s nun heißt, die Basis ist voll oder das Boot ist voll, das Dutchbat ist von der Situation völlig überfordert. Karremans telefoniert vergeblich um Luftunterstützung, die NATO-Generalität urlaubt um diese Jahreszeit. Später wenn Mladićs Tschetniks mit der Unverfrorenheit der Sieger den UN-Stützpunkt nach muslimischen Freischärlern durchsuchen, wenn der abgebrühte, herrlich großsprecherische Joka von Emir Hadžihafizbegović den diensthabenden Major Franken, Raymond Thiry, wie einen Schulbuben abkanzeln wird, werden dessen Jungs in ihren lächerlichen kurzen Camouflage-Hosen ob all des Leids rund um sie den Tränen nahe sein.

Aida, von den Niederländern überdeutlich als Untergebene behandelt, hat es zwischenzeitlich geschafft, ihre Familie ins Camp zu holen, indem sie ihren Mann und ehemaligen Schuldirektor Nihad für die Gruppe der Unterhändler, die Mladić zu sehen verlangt, vorschlägt. Auch Izudin Bajrović als in sich gekehrter Nihad, Boris Ler als nervlich schwer angeschlagener Hamdija und Dino Bajrović als dessen jüngerer Bruder Sejo agieren mit einer Authentizität, die gespenstisch, die kaum auszuhalten ist.

Ebenso Jelena Kordić-Kuret als Chamila und Rijad Gvozden als Muharam, die mit Nihad das „Verhandlerteam“ bilden. Chamila, die sich auf ekelhafte Art nach Waffen abtasten lassen muss, während der niederländische Soldat nach der Losung „Wir dürfen die Serben nicht reizen!“ schweigt, Rijad Gvozden, der als Kriegswaise im SOS-Kinderdorf in Gračanica aufwuchs, und der’s als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur auf die Kinoleinwand schaffte.

Die Anspannung, die Todesangst, die Panik, das Unverständnis über den Hass der gerade noch gewesenen Hausnachbarn ist förmlich mit Händen zu greifen, das nahende Unheil liegt in der Luft, Gerüchte von Vergewaltigungen und Erschießungen gehen um. Zu den nach außen hin ruhig ausharrenden Flüchtlingen mengt Jasmila Žbanić den Kommandoton, im Grunde Ohnmachtsschrei der Soldaten, stille Minuten des Zusammensitzens mit dem mitfühlenden Arzt Dr. Robben, Reinout Bussemaker, ein kleines Lachen, ein schneller Kuss, in der Rückblende Aidas Erinnerung an einen nicht ganz ernst gemeinten Beauty-Contest. Beim Kolo, beim Reigentanz, hält die Kamera inmitten der ausgelassenen Stimmung wie versteinerte Mienen fest. Sind diese Menschen tot, klagen sie uns an, war der oder der nicht unter den Widerstandskämpfern zu sehen?

Momente sind das. Blauhelme mit gesenkten Köpfen vs. die serbischen Herrenmenschen, die Furcht vor Mladićs Unberechenbarkeit so enorm, dass die Niederländer alle Prinzipien, alle Vorschriften außer Acht lassen. Die UNPROFOR, die der General sowieso deppert anrennen lässt, ohne Benzin, ohne Nahrungsmittel, erst die Tschetniks bringen Brot ins Lager, welch ein Armutszeugnis, was muss Mladić gelacht haben. Chamila, die im Gegenüber von Ermin Bravo einen ehemaligen Mitschüler erkennt, die Vorkriegs-Lehrerin Aida im brutalen Beli von Jovan Zivanovic einen früheren Schüler – ein kurzer Dialog, der mit Grüßen an die jeweiligen Verwandten endet, doch als der Major nach dem Verbleib von Hamdija fragt - die beiden waren offensichtlich früher befreundet -, erkennt man, wie doppelbödig diese Frage ist und wie gefährlich eine ehrliche Antwort sein könnte.

Und in all das hinein wird ein Kind geboren, ein Symbol, das jüngste Opfer in Srebrenica war ein wenige Stunden altes Baby, ein Mädchen, das Fatima genannt werden sollte. Und Aida rennt. Wie eine Löwin, mit dem Mut der Verzweiflung hat sie für ihre drei Männer gefightet, für die die plötzlich wieder befehlsgehorsamen Niederländer keinen Platz im abrückenden Konvoi freimachen wollen – die humanitäre Katastrophe ist gleichsam die Niederlage des Humanismus. Jeder Ausweg, den Aida einschlägt, endet vor neuen Hürden, neuen Hindernissen, in Sackgassen. Es ist ein Anlaufen gegen das Unvermeidliche.

Für ihr starkes Spiel hätte sich Jasna Đuričić auch eine Nominierung als Beste Hauptdarstellerin verdient. Bild: © Polyfilm Verleih

Aida, in doppeltem Wortsinn eine Seherin, ist nicht nur Getriebene, sondern auch treibende Kraft, als Übersetzerin versucht sie dort zu vermitteln, wo „vernünftig“ Reden längst nichts mehr bewirken kann. Immer mehr wird sie, der die anderen bevorzugte Behandlung unterstellen, zur Zielscheibe von Neid, Wut und Frustration. In der Szene, in der sie den Flüchtlingen mitteilen muss, dass sie von den bosnisch-serbischen Soldaten nach Kladanj abtransportiert werden, Sätze, bei denen sie ihre Skrupel kaum noch runterwürgen kann, bleibt

einem selbst ein Kloss im Hals stecken. Der Strudel, der Aida in die Tiefe zieht, er hat einen längst erfasst. Was folgt ist scheußlichste Zeitgeschichte. Frauen und Mädchen werden von Männern und Jungen getrennt, was weiblich ist, in Autobusse verfrachtet, was männlich ist, weggeführt, die Selektierten jedem Schutz durch die UNPROFOR entzogen, 200 Meter von der UN-Basis entfernt laden erste Erschießungskommandos durch. Für andere geht’s statt zur „Entlausung“ zu einer „Filmvorführung“, statt Gas einzuleiten ragen Maschinengewehre durch die Oberlichten … „nur weil wir bestimmte Dinge für unvorstellbar halten, heißt das nicht, dass sie nicht geschehen können“, sagt Jasmila Žbanić in einer „Director’s Note“.

Unbegreiflich bleibt dennoch, wie 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Shoah mitten in Europa ein Massaker stattfanden konnte, das bis heute eine klaffende Wunde in den Herzen zweier, nein: dreier Völker ist. Zum 25-Jahr-Gedenken 2020 blieben die Fronten verhärtet. Bosnische Meinungsmacher betreiben Polit-Propaganda, serbische leugnen. Um Peter Handke gab’s genug Aufregung, Aufregung auch, weil die Niederlande demonstrativ ihre Srebrenica-Blauhelme ehrten, Hasan Nuhanović fordert immer noch Gerechtigkeit für sich und seine abgeschlachtete Familie. Nur eine angesichts dieser Konflikte feige Academy-Awards-Jury kann „Quo vadis, Aida?“ den Auslands-Oscar vorenthalten.

Dies ist der Film der Stunde, der größtmögliche Aufmerksamkeit verdient, ein Film, der niemanden kalt lassen kann. Er erzählt von Srebrenica mit einer Allgemeingültigkeit für alle Schauplätze, an denen Menschen wegen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer sexuellen Orientierung, ihres demokratiepolitischen Engagements verfolgt und verschleppt werden und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es ist Jasmila Žbanić zu unterstellen, dass sie das Heute wie das Gestern meint, und sage keiner, „das sind andere Umstände, andere Lager, andere Gründe, unlogische, unrealistische, suchen Sie keine Begründungen zur Seite zu schauen, mit den Achseln zu zucken, das Leid nicht zur Kenntnis zu nehmen“, schreibt der Buchenwald-Überlebende Ivan Ivanji in seinem jüngsten Buch (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=45243).

Den Film beschließt ein Epilog – Achtung: Spoiler! Es ist Winter, an Aidas ergrauendem Haar sichtlich etliche Jahre später, die Lehrerin ist zurück in Srebrenica, will wieder als solche arbeiten, und fordert von der jungen Vesna, Edita Malovčić, ihre alte Wohnung zurück. Vesna stellt Aida ihren Sohn Luca als deren künftigen Erstklassler vor. Ein Augenblick, in dem sie – ist er’s wirklich? – im Stiegenhaus Lucas mit Einkaufstaschen bepackten Opa Joka sieht. Er erkennt sie nicht, grüßt freundlich, nicht alle landen im Fangnetz von Den Haag. Eine Aufnahme, in der Frauen um sterbliche Überreste im Kreis gehen, Angehörige, die vergraben, nicht beerdigt wurden, Skelette und Stoffreste – da erkennt Aida Hamdijas Sneaker.

Schnitt. Eine Schüleraufführung. In der ersten Reihe Luca, im Publikum Frauen mit bosnischem Hidzab und ohne, Muslime und Serbisch-Orthodoxe, und eine stolze Lehrerin Aida, die an der Sprossenwand lehnt. Die Kinder singen ein Lied, halten erst die Hände vors Gesicht, dann heißt es: Augen auf! Vielleicht ist ja die nächste Generation eine Friedenschance …

www.facebook.com/quovadisaida           Trailer: www.youtube.com/watch?v=ErLD8P4VUjY          Jasmila Žbanić im Gespräch: www.youtube.com/watch?v=91OYf2rspDQ           Streaming: www.curzonhomecinema.com/film/watch-quo-vadis-aida-film-online

  1. 3. 2021

Das brut geht online: Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien. Artist-Talk & Filmscreening

November 17, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Nur mal kurz ganz Wien retten

Die Rabtaldirndln: Vier steirische Actionheldinnen retten in der Bundeshauptstadt, was an der noch zu retten ist. Screenshot: Trailer „Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“

James wer? Ethan wie? Die einzigen, die Wien vor den Machenschaften von vier Bösewichtinnen retten können, sind doch eindeutig die Rabtaldirndln! Das hat die performative Viererformation schon erfolgreich mit Graz getan, wo’s darum ging, das Herz der Grünen Mark vorm Dasein als Disney-Waterpark samt ganzjährigem Aufsteirern zu bewahren. Nun setzen sie ihre Superheldinnenkräfte für die Bundeshauptstadt ein.

Deren erster Bezirk erst warm abgetragen, dann geflutet werden soll, auf dass ein „Dubai an der Donau“ entstünde, eine Oligarchinnen-Insel der Seligen mit dem Burgtheater als Indoorsportpalast und Albertina-Ambiente für die Luxusappartements … Noch Anfang Oktober haben Barbara Carli, Rosa Degen-Faschinger, Bea Dermond und Gudrun Maier ihre Koproduktion mit brut Wien live am Schwendermarkt gezeigt, das nervenzerfetzende Action-Movie-Spektakel getarnt als Filmdreh in und um die VHS Rudolfsheim-Fünfhaus mit dem Publikum als Komparsinnen und Komparsen. Doch die seit „Live and please die“ Spionagefall-erfahren Frauen erlebten mit „#Corona never dies“ sozusagen ihr „Octoberpussy“ – weshalb sie nun zum Online-Artist-Talk & Filmscreening von „Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“ luden, der Film nach wie vor zu sehen auf brut-wien.at.

Mit famosem Humor arbeitet sich das Frauenkollektiv am Bond-Mythos samt dessen Klischees von Männlichkeit ab. Die muss nicht unbedingt gleich „toxisch“ sein, wie eine Diskussionsteilnehmerin im „Wie konntet ihr nur?“-Tonfall nicht aufhört zu fragen. Nein, sagen die Rabtaldirndln, this is a Women’s World, und Frauen treten im Gegensatz zum Loner Spy als Kollektiv an, aber: Die Rabtaldirndln seien als Kunstfiguren ebenso gewaltbereite, die ethisch außerhalb jeder Grenze agieren – und in diesem speziellen Setting neben ihren Superheldinnenrollen außerdem als Schurkinnen eingesetzt.

Helene hält die Cue Cards hoch. Bild: © Franzi Kreis

War Room. Screenshot: „Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“

Control Room. Screenshot: „Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“

Action Room. Bild: © Franzi Kreis

Und so landet man via Video ebendort, beim Making-of, für das kein Geringerer als toxic-dreams-Mastermind Yosi Wanunu als Regisseur fungiert, und Gerda Saiko als Outside Eye, der Parcours voll aberwitziger Ideen gestaltet von Ausstatter Georg Klüver-Pfandtner. „Wir tun jetzt so, als würdet ihr glauben, dass wir einen Film drehen“, empfiehlt Gudrun Maier dem Publikum, und dieser Selbstbetrug wird nun hundert Minuten lang durchgezogen. Die Handlung, teilweise durchspickt mit Original-Floskeln, ist eine soziale Dystopie über Turbokapitalismus und Demokratieversagen, Kagran eine Sondermülldeponie, auf der Flüchtlingskinder nach Seltenen Erden graben, die Lobau Malaria-verseucht, der Fluss gefährdet von suizidalen Reichsbrücken-Befahrern.

Einzig der erste Bezirk ist eine Schutzzone, vor der bewaffnete Sicherheitskräfte Ausweise und Bankomatkarten kontrollieren. Welch ein Uschi-Stenzel-Traum! 184 Minikameras, versteckt in – no na – Armbanduhren, Blumenkästen und einem Dirndl-Schneidezahn drohnen durch die totale Paranoia, jene dunkelwindige Atmosphäre, in der Assistent Director Helene die Cue Cards für die Komparserie im doppelten Wortsinn hochhält. Derart versteckt sich im spaßigen Spiel die Dirndl-typische Gesellschaftskritik, nach Landflucht und Pflegenotstand ist’s nun die über Gentrifizierung und Kommerzialisierung; die Frage, die sie diesmal stellen, so die Performerinnen im Talk, ist: Wem gehört die Innere Stadt und ihre Kultur?

Welch ein Theater-Film-Experiment im, darauf wird wert gelegt, Olivier-Assayas-Stil. In einer geheimen Mission stürmt das #Corona-Masken-vermummte Komparserie-Publikum die als Headquarter auserkorene VHS, um dort vom War Room in den Control Room in den Action Room geleitet zu werden. In ersterem wird man top secret darüber informiert, wie sich die Bürgermeisterin in die Hände eines kriminellen Konsortiums begab, in zweiterem hat man als Geheimdiensthacker endlich die ebenfalls mit besonderen Begabungen ausgestattete Kanaille auf dem Schirm, eine Feuerteufelin, eine Cyborg, eine Banshee und eine niederträchtige Wassernixe.

In Bond-Pose: Barbara Carli, Rosa Degen-Faschinger, Gudrun Maier und Bea Dermond. Screenshot: „Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“

Im dritten folgen spektakuläre Verfolgungsjagden auf dem Snowboard vor hochalpiner Kulisse auf solche mittels Paraglider auf Motoryacht und Edelkarosse, augenzwinkernde Zitate aus Pappendeckel und Faschingsseide. Und während das Publikum mit Windmachen und Knöpfe-Drücken beschäftigt ist, wird Agentin X der berüchtigte, von den anderen als antifeministisch, von ihr aber als weibliche Selbstermächtigung gelesene „Buchtel-Satz“ aus dem Skript gestrichen, verschwimmt Fakt mit Fiktion, wenn Agentin Y Dreh mit Diskurs

verbindet und mit den Zuschauerinnen und Zuschauern in einen Dialog ums Wiener Wohnen, hohe Mieten und das Klima in der Stadt tritt. Die schönsten Sequenzen, leider, fanden bereits im Verborgenen statt. Das Bad in einem Martiniglas vor vierzig Bond-Boys, die Sexszene … Dafür darf die Komparserie aus roter Wolle ein Lasernetz spannen, durch das eifrig gerobbt wird, gilt es doch die Bombe zu entschärfen. Welchen Draht durchschneiden – rot oder grün? Die Frage hat sich in Wien erledigt. Doch auf die, was man als Statistin, als Statist in dieser Stadt tun kann, ist die Antwort ein eindeutiges: „Und: Action!“ der Rabtaldirndln.

„Die Stadt der Rabtaldirndln: Wien“ ist höchst amüsanter Nonsens mit ganz viel Hintersinn, bei dem nicht nur ein Kinogenre, sondern selbstverständlich eine Geisteshaltung in ihre Bestandteile gesprengt wird. Die Lockdown-Pause will das Performancekollektiv für ein „Die Stadt der …“-Comicheft nutzen, das im Frühjahr 2021 erscheinen soll, danach warten aufs Format Einladungen in andere europäische Städte. Schlusssatz Yosi Wanunu beim Online-Artist-Talk: Er hoffe, dass die #Corona-Lehre eine „Culture-Diet“ sei, „und die Kulturverantwortlichen nicht länger die Big Events und die Festivals abfeiern, sondern endlich die vorhandenen, das ganze Jahr über arbeitenden Künstlerinnen und Künstler entsprechend fördern“.

brut-wien.at           dierabtaldirndln.wordpress.com

Trailer: vimeo.com/452533536           Film: vimeo.com/479300245

  1. 11. 2020

Barbara Sukowa und Martine Chevallier in „Wir beide“

Oktober 28, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Recht auf späte Liebe

Martine Chevallier und Barbara Sukowa. Bild: © Paprika Films

Nach außen hin ist alles klar, und Nina nur die Nachbarin von nebenan. Tatsächlich aber ist Nina für Madeleine die große Liebe. Schon seit Jahren führen die Frauen eine geheime Beziehung und träumen davon, ein neues Leben in Rom zu beginnen. Wo man einander einst kennenlernte, die Französin und die Deutsche, beide sind sie jenseits der Siebzig, und es soll keine Rolle mehr spielen, was die Leute denken.

Doch Madeleine kann sich nicht überwinden, ihrer Familie die Wahrheit übers „Wir beide“, so der Titel des Films, der am 16. Oktober im Kino anläuft, zu sagen. Für ihre erwachsenen Kinder ist sie die aufopferungsvolle Witwe und Groß-/Mutter, und Nina, die eigentlich längst bei Madeleine wohnt, bleibt bei deren Auftauchen nur das leise Retourschleichen in ihr eigenes, logischerweise ziemlich leeres Apartment. Da schlägt das Schicksal zu. Madeleine erleidet einen Schlaganfall, Nina findet die Geliebte bewusstlos in der Küche – über die nun plötzlich andere verfügen: die Tochter, die Ärzte, eine kurzerhand engagierte 24-Stunden-Pflegekraft. Nur Nina ist von Madeleines Leben ausgeschlossen …

Wie schön und klar und unprätentiös Comédie-Française-Schauspielerin Martine Chevallier und Filmstar Barbara Sukowa dies Paar spielen! Die Enttäuschung, die Entschuldigung, in Sukowas Gesicht dieses „Bitte offenbare dich für deine Frau!“, die Angst vor Enttarnung, die Angst vorm Verlust. Der junge italienische Regisseur und Drehbuchautor Filippo Meneghetti hat aus dem Stoff, den er im Wohnhaus eines Freundes so ähnlich beobachtete, ein sutiles Psychodrama für Herz und Hirn gemacht.

Erste Szene: Zwei Mädchen spielen an einem Parkweg unter Bäumen Verstecken, und schon ist das eine verschwunden, hat sich in Nichts aufgelöst, und das andere zweifelt an seinen Sinnen ebenso wie der Zuschauer. Später wird sich dies Ereignis als Ninas Albtraum erweisen, und dieser unheimliche, ästhetisch wie vom Arthouse-Horror inspirierte Beginn prägt fortan die Dramaturgie von „Wir beide“. Kameramann Aurélien Marra gestaltet dazu die passenden Bilder, größte Nähe bei völliger Distanz, etwa wenn Nina durch den Türspion über den Gang hinüber zu Madeleines Wohnung linst, Licht fällt durchs Oberlicht, was passiert dort drüben? Oder auch, wenn deren Tochter, César-Preisträgerin 2019 Léa Drucker als Anne komplettiert das Damentrio, der Mutter verbissen die Haare föhnt.

Léa Drucker und Martine Chevallier. Bild: © Paprika Films

Martine Chevallier. Bild: © Paprika Films

Martine Chevallier und Léa Drucker. Bild: © Paprika Films

Barbara Sukowa. Bild: © Paprika Films

Zuerst aber sieht man die Sukowa und die Chevallier via Badezimmerspiegel Zärtlichkeiten tauschen, kochen, zu Betty Curtis‘ „Chariot“-Version tanzen, berührend ist das, intim, niemals voyeuristisch. Die Charaktere entfalten sich, Madeleine ist eine stille, zaghafte Frau, deren Wohnung auf die Geschichte ihrer Ehe und die Bürde familiärer Bindungen verweist, die zupackende Nina eine energische Kämpfernatur, deren provokant provisorische Nichteinrichtung regelrecht darauf pocht, endlich Richtung Rom aufzubrechen. Der von Marra ausführlich gefilmte Gang ist gleichsam Verbindungsschnur wie Demarkationslinie.

Barbara Sukowa zeigt in diesem Kammerspiel ums Recht auf die späte, hier lesbische Liebe ihre ganze große Schauspielkunst, ihr Spiel dabei so intensiv wie zurückgenommen. Sukowa gleicht einem brodelnden Vulkan, um dessen baldigen Ausbruch man fürchten muss. Wie sie allein im gemeinsamen Bett liegt und ungesehene Tränen weint, wie sie einsam unter Bäumen auf der Parkbank sitzt, da ist mit Verzögerung der Albtraum wieder, wie Meneghetti generell vieles erst im Nachhinein entschlüsselt. Welch Szene, als die Kinder in Madeleines Wohnung kommen, um ein paar Sachen zusammenzupacken, Nina verbirgt sich schnell, da sind zwei Zahnbürsten? Sie nehmen beide mit.

Martine Chevallier und Barbara Sukowa. Bild: © Paprika Films

Sorgen, Warten, Hoffen, Harren, Schlaflos-Sein, Meneghetti ergreift bedingungslos Partei für sein Liebespaar, dafür baut er seinen grandiosen Darstellerinnen eine Bühne – Kinder verlangen von den Eltern irgendwann, sie ziehen zu lassen, warum gilt das nicht vice versa, ist die Frage, die er aufwirft, und die danach, was man eigentlich tatsächlich vom Nächsten, vom Nachbarn weiß. Und apropos: Welch ein Plädoyer für Partnerschaft jenseits aller Fragen nach Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe, Religion.

Was Wunder, hat man als persönlichen Soundtrack zu diesem Film Jaques Brels „Ne me quitte pas“ im Ohr. Und wieder die Traumsequenz: Sukowa rettet das verlorengegangene Mädchen aus dem Wasser. Nina geht’s also an. Nämlich Pflegerin Muriel – Schauspielerin Muriel Benazeraf – zu beschwatzen, sich als Hilfe anzubieten. Muriel, die die aufdringliche, fremde Frau erst bedrohlich findet, ja, die Sukowa kann tragikomisch-schwarzen Humor, bevor sie zur ersten Eingeweihten wird. Während Nina noch mit ihrem „Geh‘ hinüber und sag‘ es ihnen!“ ringt, und Muriel von Anne höchst unhöflich behandelt wird – eine Minidrama sozialer Diskrepanzen, das Meneghetti hier aufwirft, und das ist Österreich, siehe #Corona-Alarm um rumänische Pflegerinnen, nicht anders ist.

Die Anne von Léa Drucker stattet Meneghetti mit der typischen Ambivalenz des Nicht-Wissen-Wollens aus. Nie hat sie sonderlich interessiert, was Mutter so treibt, jetzt findet sie Album um Album voller Urlaubsfotos von Madeleine und Nina. Das ist, als hätte sie sie „im Bett erwischt“, empört sie sich in einer Moral-Vorstellung. Und merkt gar nicht, dass sie ihre Mutter dem Leben geradezu entreißt, Martine Chevallier, die mit ihrem stummen Spiel besticht, den Blick ins Nirgendwo gerichtet und auf einmal wache Augen, wenn in der Diskussion rund um sie für Madeleine wichtige Themen angesprochen werden.

Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, heißt es, und Nina wird am Schluss ein Husarenstück wagen, dessen Ende Meneghetti offen lässt – was an dieser Stelle das Beste ist, das seinen Protagonistinnen und dem Publikum passieren kann.

www.weltkino.de/filme/wir-beide

15. 10. 2020