Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite
April 8, 2020 in Buch
VON MICHAELA MOTTINGER
Der neue Roman der Bachmann-Preisträgerin 2019: Eine tröstliche Tragifarce über Resozialisierung
Arthur sitzt der Frau vom Amt gegenüber. Gesundheitscheck wegen des Therapieplatzes. Befragt nach Hobbys, Sport, Alkohol, Drogen … antwortet Arthur: „Ich bin nicht wirklich Raucher, ich leihe mir nur ab und zu Zigaretten. Oder ich kaufe sie, aber hauptsächlich, um nicht auf andere angewiesen zu sein.“ – „Aha“, sagt Gerhild Rothenberger und notiert etwas. „Ihre sozialen Beziehungen sind also abhängig vom Vorhandensein Ihrer Suchtmittel.“
Das ist die Art Galgenhumor, mit der Birgit Birnbacher ihren neuen Roman „Ich an meiner Seite“ spickt. 2019 für ihren Prosatext „Der Schrank“ mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet, versteht es die Salzburger Schriftstellerin auch ihr aktuelles Buch als Mikrostudie von Lebensverhältnissen anzulegen. Mit ihrer knisternden, ergreifenden, manchmal auch gnadenlosen Sprache erzählt sie nach dem realen Vorbild „eines Menschen, der bereits war seine diesbezüglichen Erfahrungen mit mir zu teilen“, von einem 22-jährigen Zufallskriminellen.
Arthur, der gerade 26 Monate Gefängnis hinter sich gebracht hat. Nun soll er nach dem Willen ebendieser in der Gesellschaft wieder Fuß fassen, in der WG „Weitermachen e. V.“ mit
anderen jungen Ex-Straftätern und einem eher eigenwilligen Psychopädagogik-Projekt, dem „Starring“-Prinzip, Starring von Star, heißt: man entwirft sich selbst als Hauptfigur, als Held, als ureigene Optimalversion, und lässt diese sich in brenzligen Situationen „spielen“. Die Rolle „Ich“, die instagramig weichgezeichnete, weltläufige, weitaus klügere als Retter in der Not der Behörden- und Bewerbungsgespräche, die auf einen Haftentlassenen zukommen. Die sich das ausgedacht haben sind das grandiose Gegensatzpaar in Birnbachers Panoptikum, Betty Bergner und Konstantin Vogl, sie das Hirn, er das Herz einer Uni-Studie, sie pedantisch-penible akade- mische Aktenanlegerin, er abgefuckter Bewährungshelfer mit sehr speziellem Rechtsverständnis und Spitzname Börd, gemeinsames Credo: „Nicht, wer wir sein wollen, ist entscheidend, sondern wen wir darstellen können.“
Beim bärbeißigen Börd, Markenzeichen vorabendliche Alkoholfahne, abgeschmierter Arbeitsmantel, weil Wohnort eine aufgelassene Autowerkstatt, weiß Arthur und mit ihm der Leser nie, woran er ist. Birnbacher zeichnet mit Verve einen Bessere-Zeiten-gehabt-Charakter, der bald zum Stützpfeiler im Leben seines Schützlings wird. Man mag einander, Arthur, weil „es angenehm ist, mit Börd unterwegs zu sein. Immer fällt Börd unangenehmer auf als er selbst.“ Mit Börd dreht Birnbacher ihr Coming-of-Age-Resozialisierungsdrama, denn die Momente, die einem die Luft abschnüren, in denen ein Mensch ohne die richtigen Papiere kein Mensch ist, hat der Roman durchaus, zur skurrilen Tragifarce. Börd, immer lässig und leicht daneben, wiewohl die Autorin auch seinen holprigen Lebensweg in Andeutungen enthüllt, der sich von seinen Klienten nicht vollraunzen lassen will, und sie deshalb veranlasst, was sonst die Sitzung mit dem Therapeuten wäre, lieber solo auf Tonbänder zu sprechen.
Zum Zwecke einer „Dokumentation“, die freilich gar nicht existiert, Arthurs Aufnahmen aber ein zeitversetzter zweiter Handlungsstrang, ein Was-bisher-Geschah von der Jugend bis zur Justizanstalt. Derart erfährt man von einem stillen Kind, „das Räume leise betritt und trotzdem alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Als ginge eine stumme Spannung von ihm aus, die es niemandem mehr erlaubt, sich zurückzulehnen. Immer ist er vielen voraus. Denkt schneller und schweigt dann, bis sie soweit sind. Aber die Ungeduld sieht man ihm an den Fingerknöcheln an. Ins Gespräch kommen die wenigsten mit ihm.“ So wird’s auch bleiben. Der Vater haut ab, die Mutter zieht Arthur und Bruder Klaus in der – was Raum und Geist betrifft engen – Bischofshofener Eisenbahnersiedlung auf, bis Georg auftaucht und mit ihm Pläne für ein Luxus-Sterbehospiz in Andalusien.
Arthur arrangiert sich mit dem Staaten- und sozialen Schichtwechsel, Klaus kehrt der Familie den Rücken, aus Arthur, Milla und Princeton, die beiden ebenfalls verpflanzte und umso mehr verwöhnte Rich Kids, wird eine pubertätsgepeinigte ménage à trois. Es kommt während eines bekifften Bootsausflugs zu einem tödlichen Badeunfall, der aus der Bahn geworfene Arthur flüchtet zurück nach Österreich, Wien diesmal, wo der wohlstandsverwahrloste Geschäftsführerinnen-Spross aus Geldmangel zum Phishing-Betrüger mutiert.
Das alles beschreibt Birnbacher nicht so linear wie hier. Beinahe zwei Drittel der Seiten bleibt unklar, wer, was, wie, während sich die Abwärtsspirale in den Rückblenden immer rasanter dreht, in einer Gefängnisvergewaltigung gipfelt, und sich im Jetzt und Heute die Endlosschleife abgelehnter Bewerbungen und erfolgloser Wohnungssuche wie eine Schlinge um Arthur zusammenzieht. Anschaulich, spannend, nachvollziehbar wird das geschildert. Arthurs Traumatisiert-Sein, seine Panikattacken aus der Hinter-Gitter-Zeit, seine akute Angst nach Ablauf seines Jahres in der „Maßnahme“ ohne Schutzschirm und wieder im freien Fall zu sein.

Bild: pixabay.com

Bild: pixabay.com

Bild: pixabay.com

Bild: pixabay.com
Ein Glück. Birnbacher vergisst aufs Tröstliche und Komödiantische nicht. Sie beherrscht Sprache in subtilsten Nuancen, kann’s von spitzfedrig bis superempathisch, wechselt im Wortumdrehen zwischen den emotionalen Aggregatzuständen ihrer Figuren, die namenlos bleibende Wendy-Mutter ist ein hingeschriebenes Kabinettstück, Arthurs WG-Zimmergenosse Lennox, Börds „Musterschüler“, weil er sich vom Dealer zum Game-Erfinder gemausert hat, rührt mit seinen hochneurotisch-verzweifelten Versuchen seinen Koks-Kumpels zu entkommen.
Birnbacher ist ihren literarischen Geschöpfen spürbar zugewandt, sie ist scheint’s das erzählerische Commitment eingegangen, anständig mit ihnen umzugehen und auch den größten Loser nicht auflaufen zu lassen. Sie holt selbst kleinste Randerscheinungen in die Mitte des Geschehens und bietet ihnen den Platz, ihr Dasein, wenn auch nur kurz, zu entfalten. Mit großer Sensibilität, viel Gespür fürs Zwischenmenschliche und einer angenehmen autorlichen Zurückhaltung befühlt sie deren Schicksale. Und nimmt sich ungeniert den Freiraum, abseits eines sonst oft bemühten und spröden Sozialrealismus, die schiefe Bahn, über die ihr Personal rutscht, für den Leser zur himmelhoch-erdenschweren Seelenschaukel zu machen. Ihr Tonfall – eine Lakonie, die den Text locker lässt und trotz des Themas, dem Thema zum Trotz jede Moralinsäure verunmöglicht.
Bei Weitem kein Rand-, obgleich ein Phänomen ist „la famosa Grazetta“, die Arthur als Patientin des stief-/elterlichen Hospiz‘ kennenlernt, viel zu kurzes Kleid, Glitzerjäckchen in Knallblau-getigert, spindeldürr, schwer geschminkt mit schwarzen Oberlidbalken, „Kleopatra, denkt Arthur, Nofretete“, auf dem Boden hingestreckt, weil mit dem Rollator ausgerutscht, gewesene Schauspielerin und immer noch in allen Kulissenfarben schillernd, die in Wahrheit gutwienerisch Maria Meischberger heißt, und die bald der Dreh- und Angelpunkt in Arthurs Existenz wird.
Sie gibt im Roman eine famose Abschiedsvorstellung, während sie den Allzu-Kindgebliebenen in das Erwachsenendasein einschult, und als gar nicht so gutes Herzerl den tatsächlich vom „Scheißpech“ Verfolgten, dem sie nach Wien nachreist, wo sie samt 24-Stunden-Pflegerin im Bristol residiert, von seiner Verpflichtung zur „Scheißehrlichkeit“ entbindet, wegen derer er kein Praktikum kriegt. So mäandert Börds Starring-Methode ihrem Ende entgegen, zwischen neonbeleuchteten Sandler-Ausspeisungen und in Stadtrandbrachen irrlichternden Schmalspurganoven, wobei’s erst zum Showdown, dann zum unerwartet versöhnlichen Familienfinale kommt.
Börd ist mit seiner Therapie gescheitert – und auch nicht. Mehr und mehr widerspricht ihm Arthur, widerlegt Bettys wissenschaftlichen Ansatz. „Er, so hat er sich Betty gegenüber einmal ausgedrückt, sei durch all dieses Hauptfiguren-Getöse eben nicht seiner Vorbildfigur nähergekommen, sondern vor allem sich selbst. ,Es kommt mir so vor‘, hat Arthur zu Betty gesagt, ,als habe gegen euer allzu großes Einwirken eine Verteidigung meines Selbst begonnen. Schon bald habe ich das Gefühl gehabt, dass kein Glanzbild mich heil hier rausbringen wird, sondern einzig und allein ich an meiner Seite.‘“
Über die Autorin: Birgit Birnbacher, geboren 1985, lebt als Soziologin und Autorin in Salzburg. 2016 erschien ihr Debütroman „Wir ohne Wal“, sie wurde unter anderem mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto Stiftung, dem Rauriser Förderungspreis und dem Theodor Körner Förderpreis ausgezeichnet. 2019 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis.
Zsolnay Verlag, Birgit Birnbacher: „Ich an meiner Seite“, Roman, 272 Seiten.
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/zsolnay
8. 4. 2020