Houchang Allahyari: Goli Jan. Ich darf kein Mädchen sein

September 8, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Neuer Spielfilm und Retrospektive zum 80. Geburtstag

Fatima Amiri als Goli Jan. Bild: © Allahyari Filmproduktion

Nach seinen Dokumentarfilmen „Rote Rüben in Teheran“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=21727) und „Die Liebenden von Balutschistan“ kehrte Houchang Allahyari in den Iran zurück, um einen Spielfilm zu drehen, dem es an Aktualität wahrlich nicht mangelt. Geschildert wird die Geschichte von Goli Jan, einer jungen Frau, die – nachdem ihr Vater von den Taliban ermordet wurde und ihr Onkel sie an einen alten Mann zwangsverheiraten will –

gemeinsam mit dem Fahrradboten Jawad aus Afghanistan in den Iran flieht und sich als Junge verkleiden muss, um nicht aufzufallen. Stets in Angst vor der Rache des mächtigen Onkels, begegnen die beiden neben verschlagenen auch hilfsbereiten Zeitgenossen, die sie bei sich aufnehmen und ihnen die Chance für einen Neuanfang eröffnen. Der Film, der am 9. September im Metro Kinokulturhaus Premiere hat, ist eine mit sparsamen Mitteln hergestellte, aber umso persönlichere Auseinandersetzung mit den Themen weibliche Selbstbestimmung, männliche Dominanz, Solidarität, grenzübergreifende Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe, mit einem Wort: ein echter Allahyari, und dies zu Zeiten da „Afghanistan“ vielen ein Reizwort ist.

Das Drehbuch entstand in Zusammenarbeit mit Allahyari-Sohn Tom Dariusz und der künstlerischen Leiterin des diverCITYLAB Asli Kişlal (www.divercitylab.at). Begleitet wird die Premiere von einer Retrospektive zum 80. Geburtstag von Houchang Allahyari. Und so beginnt die Story. Mit einer beklemmenden Stille über Ruinen, voller Staub über brachliegendem Land, und kein Lebensraum nirgendwo. Flüchtende Kinder, allesamt männlich, springen auf einen Pickup, von den – vor den jüngsten Entwicklungen – geschätzt drei Millionen illegaler afghanischer Flüchtlinge im Iran sind zahlreiche unbegleitete zwischen zehn und achtzehn Jahren. Lieferant Jawad fährt mit dem Fahrrad durch ein Geisterdorf, „keiner weiß noch, wer gegen wen kämpft“, sagt er, und sieht Goli Jans Vater Gashem mit den beiden Dorfcapos im Streit um die Wasserrechte für die Felder.

Die sind an der Macht. Ich habe mich arrangiert, um zu überleben“, wird ihn sein älterer, wohlhabender Bruder später schelten, doch da wird schon Gashems Leichnam nach Hause getragen. Die Dorfobersten, an denen Allahyari die brutale Willkürherrschaft der Taliban festmacht, deren Tyrannisieren der eigenen Leute, sind wieder dabei Jungen „einzusammeln“. Auch Jawad steht auf ihrer Liste, der schmiedet Pläne für die Flucht in den Iran. Der vor Begierde sabbernde Onkel will Gashems Witwe „aus Mitleid“ heiraten, „wenn ihr arbeiten geht, bringt ihr Schande über mich“, und auch Goli Jan an den Ehemann bringen.

Der betagte Bräutigam hat schließlich schon bezahlt, er reist an. Mit einem Schaf, ein paar Plastikblumen und seiner ersten Frau zur Begutachtung der alsbald zweiten. Es ist die Szene, in der Goli Jan mit dem Brennstoff, mit dem sie Feuer unterm Teekessel machen soll, sich selbst entzünden will, der ihre Mutter bewegt, das Mädchen Jawad anzuvertrauen. Verkleidet als „Cousin Assad“, verstaut im Kofferraum eines Schleppers.

„Die Handlung basiert auf wahren Begebenheiten. Flüchtlinge aus Afghanistan haben sie mir bei den Dreharbeiten von meinem Dokumentarfilm ,Rote Rüben in Teheran‘ erzählt“, erklärt Houchang Allahyari im Gespräch. Seine Protagonistinnen und Protagonisten hat der Filmemacher vor Ort gecastet: „Es sind alles Laien, außer der Darstellerin der Mutter von Goli Jan, Halimeh Nassim Amiri. Sie ist Radiosprecherin in einem afghanischen Sender in Iran, hat großes Interesse an Film und Kunst, und zeigte von Anfang an Verständnis für das Projekt. Ihre Tochter Fatima übernahm die Rolle von Goli Jan, obwohl das für afghanische Frauen verboten ist, und durch sie und ihre Mutter habe ich den Darsteller von Jawad, Nemat Amiri, gefunden.“

Derart entstand ein großartig empathischer, eindringlicher Film, Allahyaris erster im Iran gedrehter Spielfilm, freilich ohne offizielle Erlaubnis, doch mit Hilfe von Regisseur Babak Behdad, der sich um Drehgenehmigungen „für sich selber“ kümmerte und das Drehbuch in einen stimmigen afghanischen Dialekt übersetzte, und Allahyaris wie stets warmherziger Blick aufs Ensemble wird diesmal noch durch dessen Authentizität aufgewertet.

Halimeh Nassim Amiri (re.) . Bild: © Allahyari Filmproduktion

Mutter und Tochter. Bild: © Allahyari Filmproduktion

Mit Nemat Amiri als Jawad. Bild: © Allahyari Filmproduktion

Nemat Amiri und Fatima Amiri. Bild: © Allahyari Filmproduktion

Allahyari: „Es gab zwar ein fertiges Drehbuch, aber ich habe es an Fatima und Nemat angeglichen. Wir mussten auch darauf Rücksicht nehmen, dass Fatima während der Dreharbeiten der Schule nicht fernbleiben konnte. Sie legt großen Wert auf Bildung, Nemat weniger. ,Wenn du schon keine Bücher liest, dann schau Fernsehen, damit du etwas lernst‘, hat sie zu ihm gesagt. Der Satz ist nun im Film. Es ist sehr viel von ihr eingeflossen, vor allem der Mut und die Kraft, mit denen sie sich Schwierigkeiten stellt.“

Über weite Strecken ist „Goli Jan“ ein Roadmovie. In langen, langsamen Einstellungen hält der in seiner Heimat hochgehandelte Kameramann Reza Teymouri die karge Landschaft fest, Einöde und Einheimische, Gesichter, in die sich ihr Schicksal eingegraben hat, ohne jemals in die Lokalkolorit-Falle zu tappen. Und je näher Goli Jan und Jawad Richtung Teheran kommen, umso mehr bangt man um eine Love Story zwischen den beiden (Spoiler: Man wird nicht enttäuscht werden und doch Houchang Allahyari das Ende seines Films niemals verzeihen).

Die Betreiberin einer Pension, auch dieser Kurzauftritt ein scharf gezeichneter Charakter, verdient sich ein Zubrot als Schmugglerin von Illegalen in die Hauptstadt, wo Jawad und „Assad“ Arbeit am Bau finden. Anrührend ist das, wie Gentleman Jawad die ihm Schutzbefohlene vorm gemeinsamen Waschen mit anderen Arbeitern rettet. „Es duschen immer zwei Mann, um Wasser zu sparen“, bescheidet ihm der anlassige Landsmann Vahid, der die Scharade längst durchschaut hat. In ihrer Not wendet sich Goli Jan an die Frau des Bauunternehmers, Neda Urudji und Mehdi Urudji als die guten Menschen von Teheran, die ihr einen Job als Hausmädchen gibt und sie für die Schule anmeldet.

Es kommt der Moment, da Jawad beinah schon den Arm um Goli Jan legt, sie prahlt mit ihrem Englischunterricht, er sagt den einzigen Satz, den er kann: I love you. Doch Vahid hat die jungen Liebenden an den tobenden Onkel verraten – und der rückt samt Gefolge an … Denkt man, mit welch großen Gesten und Tränendrück-Gefühlen an ein solches Thema herangegangen hätte werden können, beeindruckt Allahyaris Schlichtheit umso mehr. Reza Teymouri hat durchgehend mit Handkamera gearbeitet und „unbewegte Einstellungen nur mit einem Polster stabilisiert“, so Allahyari. „Goli Jan“ ist sein sanfter Appell, mitsammen daran mitzuwirken, dass Happy Endings möglich sind.

Doch apropos: Houchang Allahyari leistet sich einen Cameo-Auftritt als mehr oder minder er selbst, der in einem von Mehdis Häusern eine Wohnung bezieht. Als Goli Jan und Jawad als Putztrupp erscheinen und den Herrn Doktor nach dem Paradies Österreich fragen, kann der ihnen nur bedingt Hoffnungen machen. Wenn der Filmemacher über Rassismus, Ressentiments gegenüber Flüchtlingen, Ausländerfeindlichkeit und sein eigenes „Fremd-Sein“ referiert, ist das wie eine verbale Ohrfeige für die heimischen Verhältnisse (Allahyaris anderer Sohn Kurosch ist Obmann des Vereins Purple Sheep: www.purplesheep.at). Dennoch wird sich das Paar von der strapaziösen und gefährlichen Reise nicht abhalten lassen, wie zum Schluss ein Telefonat in Wien beweist …

„Goli Jan – Ich darf kein Mädchen sein“ ist dazu angetan, die via Medien gefilterten Nachrichten neu zu bewerten und den Begriff „Afghanistan“ neu zu denken. Nicht nur die radikalen Islamisten, ein gesuchter Terrorist als Innenminister, ein ehemaliger Guantanamo-Häftling als Chef des Geheimdienstes und die Scharia machen dieses Land aus, sondern auch die Zehntausenden, die stillschweigend leiden und dulden, weil Widerstand ohne Hilfe von außen zwecklos ist. Es sind Frauen, Männer, Alte und Kinder, die – um Shakespeare zu bemühen – wie wir bluten, wenn man sie sticht. Höchste Hochachtung vor den Frauen, die dieser Tage unter Lebensgefahr in Kabul für ihre Rechte demonstrieren!

Abschlussfrage an Houchang Allahyari: Wird „Goli-Jan – Ich darf kein Mädchen sein“ auch im Iran im Kino laufen?Nein, das ist in diesen Zeiten nicht möglich, da vor allem die Schauspielerinnen sehr gefährdet wären. Sie könnten von ihrer Familie verstoßen, sogar ermordet werden, da sie in ihren Augen Schande über sie bringen.“

Trailer: www.youtube.com/watch?v=Ij802VaOyU4          www.filmarchiv.at

Retrospektive

Anlässlich des Kinostarts von „Goli Jan“ und des 80. Geburtstags von Houchang Allahyari präsentiert das Filmarchiv Austria eine Auswahl seiner Arbeiten. Im Metro Kinokulturhaus wird eine umfangreiche Retrospektive parallel zum Kinostart von „Goli Jan“ anlaufen. Sie beginnt am 16.9. um 19 Uhr mit „Der letzte Tanz“ in Anwesenheit von Houchang Allahyari. Preview „Seven Stories about Love“ am Sa, 18.9. um 19 Uhr, anschließend um 21 Uhr noch „Rote Rüben in Teheran“ in Anwesenheit von Houchang Allahyari.

Geboren in Absurdistan, A 1999. Bild @ Houchang Allahyari Filmproduktion / Filmarchiv Austria

Die verrückte Welt der Ute Bock, A 2010. Bild @ Houchang Allahyari Filmproduktion / Filmarchiv Austria

Rote Rüben in Teheran, A 2016. Houchang Allahyari (M.) Bild: @ Houchang Allahyari Filmproduktion

I love Vienna, A 1991. Bild @ Houchang Allahyari Filmproduktion / Filmarchiv Austria

Fleischwolf + Der mit dem gelben Pullover (17.9., 18 Uhr + 30.9., 19 Uhr)
Rote Rüben in Teheran (18.9., 21 Uhr + 24.9., 18 Uhr), Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=21727

I love Vienna (19.9., 19 Uhr + 26.9., 19 Uhr)
Höhenangst (19.9., 21 Uhr + 28.9., 18 Uhr)
Geboren in Absurdistan (20.9., 19 Uhr + 5.10., 20 Uhr)
Die verrückte Welt der Ute Bock (20.9., 21 Uhr + 7.10., 18 Uhr), Interview mit Houchang Allahyari: www.mottingers-meinung.at/?p=31182

Das persische Krokodil + I like to be in America + The Mozart Minute (22.9., 18 Uhr + 4.10., 20 Uhr)
Pasolini inszeniert seinen Tod + Die Wahrheit + Trotz alldem (29.9., 19 Uhr + 13.10., 18 Uhr)
Der Gast (24.9., 19 Uhr + 1.10., 21 Uhr)
Rocco (23.9., 19 Uhr)
Robert Tarantino (27.9., 19 Uhr), Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=5512

Mehr Infos: www.mottingers-meinung.at/?p=44455           www.filmarchiv.at

  1. 9. 2021

Academy Awards Streaming: Sophia Loren in La vita davanti a sé“ / „Du hast das Leben vor dir“

April 16, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Edoardo Pontis Oscar-nominierter Film mit La Mamma

Madame Rosa mit Momò in ihrem Schutzraum im Keller, der von Momò so genannten „Batcave“: Sophia Loren und Ibrahima Gueye. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Mehr als zehn Jahre ist es her, dass Sophia Loren zuletzt in einem Film zu sehen war, nun kehrt die italienische Diva mit einem fulminanten Auftritt zurück – im auf Netflix zu streamenden Drama „La vita davanti a sé“, deutsch: „Du hast das Leben vor dir“, ihres Sohnes Edoardo Ponti. Regisseur und Drehbuchautor Ponti hat die Geschichte nach

dem gleichnamigen Prix-Goncourt-Gewinner-Roman des französischen Autors Romain Gary selbstverständlich ganz auf La Mamma zugeschnitten – und allüberall befand das Feuilleton, dass sich die Loren für dies perfekte Spiel ihren dritten Oscar verdient hätte. Ponti führt mit dem 12-jährigen italienisch-sengalesischen Filmdebütanten Ibrahima Gueye außerdem einen beachtenswerten Jungschauspieler ein. Dennoch konnte sich die Academy punkto des andernorts gerne ausgezeichneten Films – etwa mit dem Grand Dame Award for defying ageism oder den Capri Hollywood Awards für die Loren und Ponti – „nur“ zu einer Nominierung für den Besten Filmsong durchringen, „Io si“ von Diane Warren und Laura Pausini, und von Pausini im Abspann auch gesungen.

Jene Madame Rosa, die der 86-jährige Leinwandstar hier verkörpert, mag nicht die uneingeschränkte Hauptrolle des Films sein, dessen Herzschlag aber ist sie allemal. Sophia Lorens Art, sich Figuren anzueignen, ist es in großem Maße zu danken, dass „La vita davanti a sé“ nicht Richtung Rührstück verrutscht. In Madame Rosas behaglich abgenutzter Wohnung lehnt sie am Türstock, wie sie es immer getan hat. Die Arme unter der Brust verschränkt, den Kopf ein klein wenig zur Seite geneigt, sodass ihr Stolz und ihre Resolutheit deutlich gemacht sind, im Bedarfsfall schon mal Blitze aus den Augen schießend, in dieser Pose betrachtet sie wortlos die Szenerie, bevor sich das Temperament Bahn bricht.

Die Loren im nachlässig übergeworfenen Hauskleid, das hochgesteckte Haar in Auflösung begriffen: Sie ist eine ewige Filumena, deren Feuer Funken sprüht. Der Typ hart, aber herzlich, erschöpft, aber niemals ausgeknockt liegt der Charakterdarstellerin seit den Arbeiten mit Vittorio De Sica, und auch ihre Madame Rosa legt sie ohne großes Getue an – die Holocaust-Überlebende, die sich im apulischen Bari als Prostituierte durchschlug und die nun die Kinder anderer Sexarbeiterinnen betreut.

Da kommt eines Tages Hausarzt Dr. Cohen, Renato Carpentieri, zu ihr und bittet sie, den 12-jährigen Momò, eine Waise aus dem Senegal, aufzunehmen. Ausgerechnet den kleinen Gangster, der sie gerade eben auf dem Markt beklaut hat. Doch Dr. Cohen gibt ihr die gestohlene Einkaufstasche zurück, und weil Rosa das Geld braucht, das der Mediziner ihr für Momòs Unterbringung anbietet, willigt sie schließlich ein. Ein schönes Früchtchen hat sie sich da mit dem ungezogenen, zornigen Momò ins Haus geholt. Also sind die nächsten 90 Filmminuten darauf verwendet, zu zeigen, wie die Ziehurgroßmutter den Jungen mit sanfter Seelengüte und fester Hand auf den Pfad der Tugend scheucht. „Basta, stronzetto!“, das sagt die Loren eben wie keine andere. Ihr Humor, ihr vollmundiger neapolitanischer Tonfall erden den Film dort, wo er ins Melodramatische abdriftet könnte.

Ibrahima Gueye ist eine Entdeckung. Sein Momò, Mohammed, der im Übrigen als Ich-Erzähler seiner Story fungiert, ist scheu und angriffslustig zugleich, und beileibe kein hilfloses Ausländerkind. Von den beiden Beinen, mit denen er im Leben steht, steckt er mit einem zwecks Drogendealen zwar im Kriminal, aber Momò – und durch die Kopfhörer schallt der HipHop – nimmt’s Gesetz der Straße locker. „Ich werde dem Glück nicht in den Arsch kriechen“, ist sein Motto. Die Dreistigkeit und der schlitzohrige Charme, die frühreife Männlichkeit, mit der Ibrahima Gueye das rüberbringt, erinnern an einen jungen Omar Sy – und eine ebensolche Karriere, Sy zuletzt als „Lupin“ zu sehen (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=44044), wünscht man Gueye auch.

Filmdebütant Ibrahima Gueye liefert als Momò eine grandiose Performance. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Madame Rosa quält Iosif mit Hebräisch-Stunden: Iosif Diego Pirvu. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Signor Hamil soll Momò einen Job in seiner Greißlerei geben: Babak Karimi. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Ein flottes Tänzchen mit der Trans-Nachbarin: Abril Zamora als Lola. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Die in die Schusslinie der Scharmützel zwischen Madame Rosa und Momò geraten sind: Madames zweiter Schützling Iosif, Iosif Diego Pirvu gleichfalls in seinem ersten Film, den sie mit ihrem Hebräisch-Unterricht für die Bar Mizwa traktiert. Und die Prostituierte Lola, deren Baby Babu ebenso von Rosa betreut wird, und die als Transfrau und ehemaliger Boxchampion im Mittelgewicht an einem ausgewachsenen Vaterkomplex knabbert – gespielt von der spanischen Trans-Schauspielerin Abril Zamora, was erwähnt, aber nicht betont wird. Oder wie Zamora im Golden-Globes-Interview sagt: „Die Transsexualität ist eine weitere ,Info‘ zur Figur und es ist wunderbar, dass sie natürlich behandelt wird und dass sich die Handlung nicht darauf konzentriert. Dies ist der nächste Schritt bei der Trans-Integration in das Audiovisuelle. Nicht alle Trans-Charaktere konzentrieren sich auf Sexualität. Es ist viel integrativer, einen LGTB-Charakter außerhalb eines LGTB-Plots zu haben.“

Es dauert, bis sich die Jüdin und der junge Muslim annähern. Wundersame Szenen entstehen so. Er bemerkt beim Abwaschen die tätowierte Nummer auf ihrem Unterarm, sie erklärt „Damals war ich so alt wie du“ und „Ich habe mich in Auschwitz unter der Baracke versteckt“, doch von Drittem Reich und Konzentrationslagern hat Momò noch nie gehört. Einmal folgt er Madame Rosa in den Keller und stöbert sie dort in einem vollständig möblierten Versteck auf. „Ihre Batcave“, meint Iosif, und dass Madame mutmaßlich Geheimagentin sei.

Sie wiederum beobachtet Momò, als Iosif von seiner Mutter abgeholt wird, Momò, der von seiner Mutter nicht einmal ein Foto hat, und wie Sophia Loren den Jungen in diesem Moment wahrnimmt, seinen Schmerz erkennt und dieses Erkennen mit einem fast unmerklichen Straffen ihres Körpers und mit dem plötzlich wachen Blick der nahenden Rettung spielt, ist großartig. Als Madame Rosa sich allerdings mit Momòs imaginärer Löwenmutter konfrontiert sieht, fragt sie Signor Hamil um Rat. „Sie üben die Kunst der Verführung mit Ihren Augen und Ihrer Stimme aus“, antwortet der versonnene Philosoph verzückt.

Der iranische Schauspieler Babak Karimi, den die Berlinale 2011 für seine Rolle im Drama und späteren Auslands-Oscar-Gewinner „Nader und Simin – Eine Trennung“ mit einem Silbernen Bären auszeichnete, spielt diesen Hamil, einen muslimischen Greißler, dem Rosa einen Job für Momò abschwatzt. Karimi spielt ihn auf so leise Weise, so beharrlich gut, dass man sich neben ihn setzen und seinen Geschichten lauschen möchte, während er mit bedächtigen Bewegungen und in tiefer Ruhe die Seiten von Victor Hugos „Les Misérables“ zusammenklebt – das Buch, das Momò in einem Wutanfall nach ihm geworfen hat. Signor Hamil wird zur Vaterfigur für Momò und versucht ihm die Religion und Kultur seines Geburtslandes nahe zu bringen.

Das alles bebildert Edoardo Ponti mit einer abgesofteten, poetischeren Spielart des Neorealismo, mehr à la De Sica als Luigi Zampa. Schriftsteller Romain Gary war selber Jude, diente in der französischen Luftwaffe und floh rechtzeitig nach England, von wo aus er mit Charles de Gaulle den Widerstand gegen die Nationalsozialisten organisierte. Immer wieder schrieb er über das Überleben, das Weiterleben nach der Shoa oder die Unmöglichkeit, dies zu tun. In „La vie devant soi“ hat er sich für den Altruismus als Überlebensweisheit entschieden. Madame Rosa tut Gutes. Basta!

Momòs imaginäre Löwenmutter: Ibrahima Gueye. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Madame Rosa in katatonischem Zustand: Sophia Loren. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Das Ensemble am Set mit Regisseur Edoardo Ponti. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Sophia Loren und Sohn Edoardo Ponti. Bild: Regine De Lazzaris aka Greta © Netflix 2020

Ponti fügt dem eine Fußnote hinzu. Wenn’s passiert, dass die Kinder Madame Rosa in katatonischem Zustand vorfinden, einmal regungslos während des Wäscheaufhängens im strömenden Regen. Wenn sie „Sie sind auf der Treppe!“ schreit. Als sie sich weigert ins Krankenhaus gebracht zu werden, weil die Ärzte allesamt Folterer seien, die an ihr Experimente durchführen wollen. Seelische Gebrochenheit und ungebrochene physische Präsenz, nur die Loren kann das so gekonnt in einem Charakter vereinen, der US-Kritik fiel dafür immer wieder das Wort „königlich“ ein. Falsch ist das nicht.

In Madame Rosa und Momò prallen die Traumatisierten zweier Generationen aufeinander, kurz zeigt Ponti „Illegale“, Miganten, Frauen, Kinder, die von der Polizei in Autobusse gezerrt werden, Momò will das sehen, Madame schnell weg. Eine subtile, melancholische Kritik an der Festung Europa, in der man nach wie vor Jagd auf Menschen macht. Keine Frage, der Film „La vita davanti a sé“ ist der Loren würdig.

Schließlich nimmt Rosa ihren Schutzbefohlenen in ihrem Kellerschrein mit, die mit Erinnerungsstücken aus ihrem Elternhaus gefüllte Batcave, sie ziehe sich hierher zurück, wenn sie schutzbedürftig sei und Sicherheit brauche, sagt sie, und auch Momò findet zwischen kolorierten Fotografien und dem Grammophon bald zu einer ungeahnten Unbeschwertheit und beim Arm-in-Arm-Einschlafen mit Rosa eine ungekannte Geborgenheit …

„La vita davanti a sé“ ist ein Film voller Ecken und Kanten, und gerade in seiner Kargheit sympathisch. Edoardo Ponti hat Romain Garys Roman, knapp nach Erscheinen in den 1970er-Jahren mit Simone Signoret als Madame Rosa schon einmal verfilmt, geschickt nach Italien und in die Gegenwart geholt, mit Elementen, wie den übers Mittelmeer kommenden Flüchtlingen, der Transgender-Nachbarin Lola oder dem Koran-kundigen Hamil und deren Erfahrungen als Bürger zweiter Klasse.

Die Themen, um die es Gary in den Siebzigern ging – das Aufeinandertreffen und gegenseitige Verständnis verschiedener Generationen, Kulturen und Religionen -, sind heute so dringlich wie damals. Mit der superben Sophia Loren und ihrem charismatischen Co-Star Ibrahima Gueye hat dieser mit viel Empathie erzählte Film alles, was großes Kino braucht. Wenn derzeit auch nur auf den Bildschirmen.

Trailer OV/dt.: www.youtube.com/watch?v=En1jkf34xjc  www.youtube.com/watch?v=PGpSQm-oPWo           Sophia Loren und Edoardo Ponti im Gespräch, ital.: www.youtube.com/watch?v=b7QCmMlJ8zk           www.netflix.com

16. 4. 2021