Akademietheater: Engel in Amerika

November 16, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Mit Drag Queen Glamour gegen die Todesseuche

Patrick Güldenberg. Bild: © Susanne Hassler-Smith

Mit höchstem Lob und Beifall soll in dieser insgesamt bemerkenswerten Inszenierung als erste Dorothee Hartinger bedankt sein, die erst am Vormittag gefragt wurde, ob sie den Part der erkrankten, beinah stimmlosen Barbara Petritsch übernehmen könne. Ohne Probe und mit Textzettel in der Hand stürzte sich die Hartinger kopfüber ins Geschehen.

Immerhin galt es Mutter Hannah Porter Pitt, Rabbi Isidor Chemelwitz, den Arzt Henry und das geröstete Gespenst von Ethel Rosenberg zu verkörpern – und voilà, beim Bühnenvollblut lag die Herausforderung in besten Händen. Glücklich darf sich ein Direktor schätzen, der auf derlei Schauspielerinnen und Schauspieler zurückgreifen kann. Vom insgesamt jubelnden Publikum wurde Dorothee Hartinger mit einem besonders herzlichen Applaus bedacht.

Am Akademietheater wird also in der Regie von Daniel Kramer Tony Kushners „Engel in Amerika“ gezeigt. Der US-amerikanische Dramatiker schrieb seine mit dem Pulitzer-Preis, einem Tony Award und einem Drama Desk Award ausgezeichnete „Gay Fantasie on National Themes“ im Jahr 1990 – und freilich hat

sich in der sogenannten Ersten Welt (und nur dort) mittlerweile mit PEP einiges bewegt. Doch „Engel in Amerika“ – zuletzt bei der Neuen Oper Wien als Péter Eötvös‘ Musiktheater zu erleben, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34820 – ist mehr als ein AIDS-Drama. Es ist eine gesellschaftliche Abrechnung mit Neoliberalismus, Freunderlwirtschaft, dem Anspruch auf Gleichberechtigung bei gleichzeitiger Intoleranz von Politik (und deren Unfähigkeit mit der derzeitigen Pandemie umzugehen) und Glaubensgemeinschaften. Eine wütend-sarkastische Anti-Anti-Story. Und noch immer kriminalisieren 80 Staaten einvernehmliche homosexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen. In fünf Ländern (Iran, Jemen, Mauretanien, Saudi-Arabien, Sudan) sowie in Teilen Nigerias und Somalias werden sie sogar mit dem Tode bestraft.

Felix Rech und Markus Scheumann. Bild: © S. Hassler-Smith

Nils Strunk und Felix Rech. Bild: © Susanne Hassler-Smith

Annamária Láng. Bild: © Karolina Miernik

Nils Strunk und Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Aber auch in Ländern ohne solch homophobe Strafgesetze sind Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender oft dem Hass paramilitärischer Gruppen oder Übergriffen der Staatsorgane ausgesetzt. Die Formen der Gewalt reichen von willkürlichen Verhaftungen, Schikanierung und Erpressung über Prügel und sexuelle Demütigungen bis hin zu Vergewaltigungen und brutalen Morden. In Europa ist es ebenso um die Menschenrechte der LGBTQI+-Community mancherorts schlecht bestellt. Gerade in Staaten des ehemaligen Ostblocks werden Gay Pride Paraden von rechtsradikalen Schlägertrupps angegriffen; in einigen Hauptstädten – darunter Warschau, Moskau, Riga und Chisinau – sind sie von den Behörden verboten.

So etwas verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention und ist mit der Mitgliedschaft in der EU und im Europarat unvereinbar. Doch die Amtsstellen hoffen, dass diese Missachtung europäischer Werte und demokratischer Prinzipien nicht weiter auffällt, da sie sich gegen eine vermeintlich „kleine Minderheit“ richtet. Mutige Menschenrechtsverteidiger machen hingegen deutlich, dass sexuelle Selbstbestimmung kein Menschenrecht zweiter Klasse ist.

Zurück zum hochaktuellen gestrigen Abend, keinem „Rückblick“ oder „Stück schwuler Kulturgeschichte“, da „von AIDS niemand mehr spricht“, wie hie und da zu lesen, dafür mit den beiden Zuschauerinnen in der Reihe hinter einem, die den „scheußlichen Vorhang“ nicht als Regenbogenflagge identifizieren konnten. Vom Foyer in den Saal kommend empfangen einen unterm Glitter einer Discokugel Cyndi Lauper, Boy George, die Village People und Gloria Gaynor. I will survive. Immer noch der #1-Hit der Schwulenbewegung. Annette Murschetz zeigt, als sich der Vorhang hebt, vor desolater, getaggter Kachelwand einen gestapelten Haufen schwarzer Särge, die später als Bar, Pissoir, Theaterschminkspiegel und Totenlade dienen werden.

Kushner verwebt den New Yorker Totentanz seiner Figuren zu einem kunstvollen, immer surrealer, immer expressionistischer werdenden Gebilde, bis sich der Kreis zum Ganzen schließt. Da ist zunächst das Liebespaar Mayflower-Nachkomme Prior Walter (Patrick Güldenberg) und – der nicht wirklich fromme Jude – Louis Ironson (Nils Strunk), der mit der AIDS-Erkrankung seines Lebensgefährten nicht umzugehen weiß, der sich vor dessen Krankheitssymptomen ekelt, überfordert zwischen Fluchtgedanken und Aufopferungswillen pendelt, und ihn schließlich verlässt. Außerdem das Mormonenehepaar Joe Pitt (Felix Rech), der mit seiner Religion vs. seiner sexuellen Orientierung kämpft, und Harper Pitt (Annamária Láng), die sich täglich ins Valium-Nirvana halluziniert, um die unterschwellige Ahnung, die sie über Joe hat, nicht Wahrheit werden zu lassen.

Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Scheumann und Rech. Bild: © K. Miernik

Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Joe und Louis sind Mitarbeiter am Bundesappellationsgericht, wo sie einander eines Tages auf der Herrentoilette begegnen und … naja. Man befindet sich also am unteren Ende der Oberschicht, dominiert vom zwielichtigen Juristen Roy M. Cohn (Markus Scheumann), der einzig real existiert habenden Person im Stück – dazu die Kurzzusammenfassung: politischer Ziehsohn von J.Edgar Hoover, der ihn an Joseph McCarthy weitervermittelte, Kommunistenhetzer, verantwortlich für die Hinrichtung Ethel Rosenbergs auf dem elektrischen Stuhl, Rechtsanwalt von Donald Trump, Berater von Richard Nixon und Ronald Reagan, homosexuell. Als bei ihm 1984 AIDS diagnostiziert wurde, behauptete er bis zuletzt Leberkrebs zu haben. Schwulsein ist nichts für Macher.

Schon Scheumanns intrigant-hektische Eröffnung des Schauspiels ist vom Feinsten. Auf drei Uralt-Handys gleichzeitig telefonierend beschafft er einer Senatorengattin Cats-Karten, macht seinen Assistenten zur Schnecke und versucht einen Deal an Land zu ziehen, dies im Sprech-Stakkato und alsbald im Jockstrap, während er Richtung Joe Grimassen schneidet, die erläutern, mit welchen Armleuchtern er es hier zu tun hat. Mit Joe hat er große Pläne, er soll sein Mann in Washington werden, wo er es sich wegen seiner Machenschaften verscherzt hat. Doch der macht sich Sorgen, nicht nur wegen seines Gönners Skrupellosigkeit, sondern auch, dass Harper den Politsündenpfuhl nicht verkraftet.

Je mehr Fahrt die Handlung aufnimmt, desto fantastischer werden die Kostüme. Der georgische Modedesigner Shalva Nikvashvili, in seinen Arbeiten stets mit Identitätsfragen und Ideosynkrasie beschäftigt, wechselt vom Grau in Grau der Yuppie-Anwaltswelt zu Paradiesvögeln, die einen direkt in RuPaul’s Drag Race katapultieren. (Die Rosa Winkel, die Homosexuelle als Kennzeichnung in den NS-Konzentrationslagern auf der Häftlingskleidung tragen mussten, als Sinnbild für das Kaposi-Sarkom auf die Körper der Darsteller gemalt, wurden auch zum Symbol der Schwulenbewegung Act Up.)

Im Wortsinn schönster Nutznießer von Nikvashvilis Ideenreichtum ist der genial-spielfreudige Bless Amada als Belize, vormals Drag Queen und Priors Lover, nun dessen staatlich geprüfter Krankenpfleger. In Fieberträumen, Wahnvorstellungen, queeren Visionen, eskalierenden Phantasmagorien erscheinen die Gespenster einer güldenen Vergangenheit, Kontorsionistin und Drag Queen Pandora Nox hat dazu die Choreografien erdacht. Hinreißend Patrick Güldenbergs Outfit als sterbender Schwan, später als eine Art Königin der Nacht.

Bless Amada. Bild: © Karolina Miernik

Bless Amada und Annamária Láng. Bild: © Karolina Miernik

Amada, Rech, Strunk und Scheumann. Bild: © Karolina Miernik

Bless Amada und Patrick Güldenberg. Bild: © Karolina Miernik

Es ist Regisseur Daniel Kramer hoch anzurechnen, dass er den Spagat zwischen Erotik und Exzentrik, Dramatik, Witz und Sentiment ebenso parallel zu führen versteht, wie die oft synchron ablaufenden Szenen, wie er Explizites im Central Park und Schwulenclubs elegant zu lösen vermag. Bless Amada wird als blau-weiß-grinsende Glückspille zu Harpers „Reiseagent“, der mit ihrem Eisbären-Ich und Riesenmedikamentendose in der Arktis landet. Bless Amadas Belize, die sich selbst Kadaverette nennt und bittersüß Playback-Songs singt, mal als Christbaum, mal als Santa Claus‘ Lieblingself, mal als Diana Ross‘ sexyer Sister. Dann wieder Prior betreuend, der in einem gläsernen Schneewittchen-Sarg beziehungsweise Inkubator liegend teerige Körperflüssigkeit verliert.

Eine der stärksten Szenen des Abends ist, wenn Louis sich vor Belize in einen völligen Schwachsinn über die Ausgrenzung Andersseiender anderswo deliriert, dazu seine Ansichten zum angeblich problemlosen Zusammenleben à la USA zelebriert, bis Belize die Spucke wegbleibt. So viel rassistischen Unfug hat er noch nie gehört. Das ist nicht nur von Nils Strunk und Bless Amada glänzend gespielt, sondern zeigt: „Race“ ist jenes Thema des Stückes, das an gesellschaftlicher Relevanz noch zugelegt hat. Das geht so lange ungut, bis der Jude und die Person of Color einander gegenseitig Rassismus vorwerfen, Belize, die Louis Feigheit vor Priors Krankheit anprangert. Und während der drei Stunden Spieldauer senkt sich ein gigantischer HI-Virus auf die Bühne herab.

Zum Ende? Dorothee Hartinger als Ethel Rosenberg mit elektrisch aufgeladenen Haaren, Markus Scheumann, der wie Dracula seinem Sarg entsteigt, um in der brennheißen Hölle zu landen – und endlich der Engel, Safira Robens, geharnischt in Stahlgrau und mit flammendem Schwert. Dessen letzte Worte an Prior: „Sieh nach oben! / Sieh nach oben! / Bereite den Weg …“ Eine Schlussapotheose, die im Getümmel leider ein wenig untergeht. Im nicht gerade überfüllten Akademietheater hatten nach der Pause noch einige Teile des Publikums die Flucht ergriffen. Schade, den „Engel in Amerika“ mit diesem sensationellen Ensemble und grandiosem Leading Team ist ein absolutes Muss!

Teaser: www.youtube.com/watch?v=CHWg74-R9v8           www.burgtheater.at

TIPP – Werk im Fokus #41: Engel in Amerika. Am 17. November sind Nils Strunk und Patrick Güldenberg ab 18.45 Uhr auf ZOOM zu Gast, um mit dem Publikum über ihre Charaktere Louis Ironson und dessen Lebensgefährten Prior Walter zu diskutieren. Kostenlos für Newsletter-AbonnentInnen. Der Link dazu wird am jeweiligen Tag direkt verschickt. Mehr Info: www.burgtheater.at/newsletter-bestellen

  1. 11. 2022

Volksoper: Die Dubarry

September 4, 2022 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Babylon Berlin meets Wiener Walzerseligkeit

Endlich zur Mätresse des Königs aufgestiegen: Annette Dasch als Gräfin Dubarry und Harald Schmidt als Ludwig XV. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Kommt man nach der Pause zurück in den Saal, sitzen auf der Bühne bereits Oliver Liebl als Hauslehrer und Annette Dasch, die von diesem vom Arbeitermädchen Jeanne Beçu zur Gräfin Dubarry erzogen werden soll – allerdings nicht für den Hof des französischen Königs Ludwig XV., sondern laut Liebls Zungenschlag eindeutig für den kaiserlichen zu Wien. Da gibt’s freilich viel zu lachen bei diesem Zwischenspiel, wenn der Berlinerin vom Wiener Kaffeeunterricht erteilt wird,

wenn die „Piefkenesin“ an der Knödelfrage „Hauptspeis‘, Zuaspeis‘, Nachspeis‘?“ scheitert, das Hand-Ablecken ist gleich den Handkuss pervers findet, und sich schief lacht über die Anrede „Eiergnaden“. Liebls „Lecker is bei uns goar nix!“ wird von jenem Teil des Publikums mit einem Jauchzer begrüßt, der auch am Schluss für Jubel und Applaus sorgte, während der andere ob des Niveaus indigniert das Leading Team mit Buhrufen bedachte.

Das war sie also die Eröffnungspremiere der Direktion Lotte de Beer an der Volksoper, „Die Dubarry“, mit einem ZuschauerInnen-Unentschieden als Endstand, wobei an dieser Stelle von einem verheißungsvollen Start die Rede sein soll. Hausdebütant Regisseur Jan Philipp Gloger turnt bei seiner theatralen Recherche über die Weibsbilder toxischer Männlichkeit eine Rolle rückwärts, vom Heute in die 1930er-Jahre zum Ende des 19. Jahrhunderts zu Louis Quinze, was weniger mit der von dem betriebenen Beilegung des Habsburgisch-Französischen Gegensatzes zu tun hat, als mit der Zeitlinie, die der Operette eingeschrieben ist:

Der Aufführung des selten gespielten, weil doch ziemlich angestaubten Werks im Jahr 2022, der Originalfassung des österreichischen Komponisten Carl Millöcker anno 1879, der Neufassung vom Deutschen Theo Mackeben von 1931 und der Handlung rund ums Jahr 1769. Entstanden ist so eine frisch aufgebrühte Melange mit dem melodie-verliebten Charme der goldenen Operettenära in der Donaumetropole und einer schmissig-schnoddrigen Revue-Operette à la an der Spree, sozusagen ein Babylon Berlin meets Wiener Walzerseligkeit, eine Konfetti-Explosion voll Witz und Ironie fürs Genre, dessen Dekonstruktion zweifellos – aber durchaus mit dem gebotenen Respekt.

Und in der Titelpartie eine entfesselte Annette Dasch, die mit ihrer Stimme sowieso und ihrem Spiel begeistert, eine grandiose Komödiantin, die ihren Charakter aber auch in Tiefen gleiten lassen kann, wenn es gilt die antiquiert-anzüglichen Frauenfantasien der besseren Herren zu hinterfragen – wobei trotz Feminismus und Büstenhalter-Verbrennung die bittere Essenz des Abends ist, dass Emanzipation bis zum Anschlag immer noch nicht stattgefunden hat. In allen vier Teilen bleibt die Frau mehr oder minder (Sex-)Objekt des Mannes, das alles gut getarnt im Dreivierteltakt als „Weiblicher Reize Macht“.

Los geht’s im Jetzt: Die „Putzmacherinnen“ im Atelier Madame Labille dekorieren Schaufensterpuppen, schwatzen über die neueste Emma-Ausgabe und, dass sie lieber bei Cartier als bei Kik shoppen würden, die Dasch rauscht mit Timbre und Temperament heran. Noch ist sie die aus ärmlichsten Verhältnissen stammende Jeanne Bécu, doch mit bester Freundin Margot, entzückend quirlig wie stets: Juliette Khalil, schmiedet sie größere Pläne. Die so rotzfrechen wie leichtlebigen Gören haben noch was vor: reiche Männer gegens eigene Elend aufreißen. Ergo raus aus dem Modesalon, rein ins Nachtleben, wo Marco Di Sapia als Graf Dubarry, Daniel Ohlenschläger, Oliver Liebl, Martin Enenkel und Wolfgang Gratschmaier ihr zynisches „Cherchez la femme“ anstimmen, Motto: Klug muss sie nicht sein, aber schön. „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen.“

Die Putzmacherinnen und die Blaublüter anno 2022, M.: Wolfgang Gratschmaier und Juliette Khalil. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Die Bohème-Romantik kann er sich einrahmen lassen: Annette Dasch und Lucian Krasznec als Maler René Lavallery. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

In den Berliner 1930ern, gestrandet als Sängerin im Bordell: Annette Dasch und Marco Di Sapia als Graf Dubarry. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Im k.u.k.-Reich Seiner Majestät: Martin Enenkel, Wolfgang Gratschmaier, Marco Di Sapia, Annette Dasch und Oliver Liebl. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Vor allem gefällt hier Wolfgang Gratschmaier als Marquis de Brissac, ein in die Jahre gekommener schlitzohriger Don Juan, dessen Ähnlichkeit mit einem bekannten Wiener Rechtsanwalt rein zufällig ist. Gemeinsam mit Khalil wird er in zahlreichen Bravourszenen ein akklamiertes Buffo-Paar abgeben. Margot wird nämlich die Geliebte des alten Gockels und hat sich in den Kopf gesetzt, sich von ihm die Schauspielerei finanzieren zu lassen.

Zwischen kleinen Gags, kurzem Augenzwinkern und dem Schießen von Selfies darf derweil Lucian Krasznec als Kunstmaler René Lavallery seine Schellackstimme strahlen lassen. Es stand hier schon in der Rezension zum „Bettelstudent“ (www.mottingers-meinung.at/?p=19470), dass da einer ziemlich nah an den großen Adolf Dallapozza heranreicht, ein Eindruck, der sich bei seinem Schmachten um Jeanne wiederholt. In ihren Szenen sind Dasch und Krasznec musikalisch als das dramatische Liebespaar der Operette ausgewiesen, auch wenn ihn Besitzgier und häusliche Gewalt fehlleiten und die wichtigste Frage an die Geliebte ist, was sie denn vorhabe zu kochen. Bühnenbildner Christof Hetzer setzt Renés Bohème-Stube in einen blattgoldenen Bilderrahmen, in den –  einmal rausgestiegenJeanne kein Zurück mehr findet.

Denn die Dasch wirft den Würfel mit den zahlreichen Spielflächen selbst immer wieder händisch an, dreht die eigene Geschichte weiter, die Zeituhr zurück in die 1930er-Jahre, wo sie als Sängerin mit Künstlerinnennamen Manon in einem anrüchigen Etablissement auftritt. Alles atmet hier die Exzellenz der Dekadenz, als erneut Marco Di Sapia als eiskalt-eleganter, sinistrer Graf Dubarry erscheint, um der desillusionierten Jeanne, die er sofort als solche erkennt, ein unmoralisches Angebot zu machen: Um sein politisches Ränkeschmieden in Versailles voranzutreiben, will er sie als Gräfin Dubarry zur Mätresse des Königs machen. Schließlich habe sie nicht nur den Körper, sondern auch den Geist, um in dieser monarchisierten Form der Prostitution zu reüssieren.

Und während Dasch in einer De-facto-Vergewaltigungsszene beim Roulettetisch „Ich schenk mein Herz nur dem allein, dem ich das Höchste könnte sein“ singt, zeigt Margot, wie’s mit dem „Der Mann denkt, aber die Frau lenkt“ richtig geht: Sie trotzt dem Marquis de Brissac Luxuslabel-Sackerl um Luxuslabel-Sackerl ab, singt ihm ein fröhliches „Wenn Verliebte bummeln gehen“, während der alte Bock dasteht wie ein Packesel.

Der König der Late-Night-Shows kündigt seinen Gast an: Harald Schmidt als Ludwig XV. Bild: © B. Pálffy/Volksoper Wien

Die Dubarry rockt Versaille: Gi­tar­re­ra Annette Dasch und Harald Schmidt. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Aus dem Schaf wird keine Schauspielerin: Juliette Khalil als Margot. Bild: © Barbara Pálffy/Volksoper Wien

Am Ende steht die Guillotine: Daschs Dubarry wird zum Opfer der französischen Revolution. Bild: © B. Pálffy/Volksoper Wien

In der zweiten Hälfte der Aufführung findet man sich in Millöckers k.u.k.-Wien wieder, beim „Alles Walzer!“ mit weißroten Gala- und Husaren-Uniformen à la Ungarland. Nach wie vor bewegt sich die nunmehrige Gräfin Dubarry in einer Männerwelt – und gallig klingt der Dasch mit erhobener linker Faust dargebotenes „Ob man gefällt oder nicht gefällt“, von Kai Tietje mit krassen Dissonanzen und gehetztem Rhythmus dirigiert, derweil sich die Szenerie vom neuen Resident Lichtdesigner Alex Brok ins Teuflische, Albtraumhafte verändert.

Nicht nur die Herren liefern Großteils mehrere Rollen ab, die großartige Ulrike Steinsky wechselt von Couturière Madame Labille über Bordellbesitzerin Marianne Verrières bis zur Marschallin von Luxemburg von Chefinnen-Gekeife über Raucherlungen-Tonfall zu Paula-Wessely’schem Schönbrunner Näseln. Der Steinsky gelingt jedes dieser Kabinettstücke vom Feinsten, immer toller werden die Kapriolen, die sie macht, und auffällt, wie präzise und exquisit die „Nebenfiguren“ geführt sind.

Zu guter Letzt: Auftrittsapplaus für Harald Schmidt als Ludwig XV. im Epoche-gemäßen Justaucorps, Annette Dasch mit Cul de Paris, endlich der Moment, an dem sich Kostümbildnerin Sibylle Wallum austoben durfte. Und Volksopern-Debütant Schmidt macht gar nicht den Versuch majestätisch zu sein. Die Entertainerlegende spielt sich selbst als König der Late-Night-Shows (auch der echte Ludwig XV. verstand es, sich als le Bien-Aimé zu inszenieren), er „dirigiert“ das Orchester wie Helmut Zerlett und die ARD-Showband, stellt ganz Talkmaster seinem Volk als Gast die Dubarry vor – und dieser dann dumme Fragen, die sie mit einem „Glauben Sie nicht, dass das ziemlich erniedrigend ist?“ quittiert.

Worauf der absolutistische Herrscher übers Ancien Régime der Fernsehunterhaltung sich bis über beide Ohren verliebt. Ein Gag über einen Film, den Johnny Depp als ER/Ludwig XV. gerade in Frankreich dreht, darf auch nicht fehlen. Die neue Favoritin des Königs singt als „Gstanzl“ mit Gitarre noch einmal „Ich schenk mein Herz nur dem allein, dem ich das Höchste könnte sein“, bevor beim beliebten Schäferspiel alle in den Gassenhauer „Ja, so ist sie, die Dubarry, wer sie einst sah, vergisst sie nie“ einstimmen. „Das hisst das Regietheater die weiße Fahne, und ich spüre Originaltext in mir aufsteigen“, flachst Schmidt und schließt so den Kreis zum ersten Bild.

Satire as Satire can. Mit tausend und einer Idee lässt Jan Philipp Gloger die Operette einen g’feanzten Blick auf die eigene Beschaffenheit werfen. Charmant und sympathisch wie Lotte de Beer hat sich ihr neues Team schon mal in die Hälfte der Herzen hineingespielt. Also: Alles Friede, Freude, Eierkuchen, Eiergnaden? Mitnichten, denn Gloger, der in der Aufführung immer wieder auch auf die Täterin-Opfer-Brüche der Person Dubarry hinweist, erzählt ihre Geschichte anders als Millöcker und Mackeben zu Ende. In der Volksoper wird sie dazu mitten im Trubel des Hofballs von Schergen der französischen Revolution abgeführt, wird ihr die bombastische Perücke vom Kopf gerissen – und ab unter die Guillotine.

www.volksoper.at           Trailer: www.youtube.com/watch?v=dH0k4fzsV8Y           Harald Schmidt über König Ludwig XV.: www.youtube.com/watch?v=ejo1alus1RU

TV-TIPP: Heute Abend ist die gestrige Volksopern-Premiere von „Die Dubarry“ um 20.15 Uhr auf ORF III zu sehen.

4. 9. 2022

Burgtheater: Maria Stuart

September 14, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Die weibliche Ohnmacht als männlich-nackte Tatsache

Maria Stuarts Haupt über dem stummen, nackten Männerchor. Bild: © Matthias Horn

Erstes Bild: Sechs Reihen breitbeinig strammstehender, nackter Männer. Über ihnen schwingt im Halbdunkel Marias abgeschlagenes Haupt, das rotwallende Haar, sie wollen es greifen … Martin Kušejs bejubelte Inszenierung von Schillers „Maria Stuart“ ist von der Perner-Insel auf die Bühne des runderneuerten Burg- theaters übersiedelt, und hat nicht zuletzt dank des fulminanten Spiels von Birgit Minichmayr als Maria und Bibiana Beglau als Elisabeth an Intensität noch gewonnen.

Kušejs Betrachtungsweise des Kampfs der beiden Königinnen, blutig, brutal, beinah archaisch zu nennen, ist trotz der zwei zentralen Frauenfiguren jene auf eine von Männern dominierte, dirigierte, und sei’s über den Umweg Frau regierte Welt. Der Körper der Komparserie geben den Blick frei aufs starke Geschlecht, stoisch schweigend formieren sie sich im mal dunklen, mal hellen, mal verspiegelten Kubus von Annette Murschetz immer wieder neu. Männer nehmen sich den Raum, den sie brauchen; in entsprechenden Seminaren lernen weibliche Führungs- kräfte, wie sie’s genauso machen, im Meeting ihren Bereich am Besprechungstisch mit ausgebreiteten Armen abstecken, nur nicht mit Piepsstimme sprechen, argumentativ stark sein und fest im Glauben an sich selbst.

Symbolisch wirksame Bilder sind das, von der muskelbepackten rohen Fleischmasse. Die Protagonistinnen, sie müssen dieser ausweichen, sie durchschlüpfen, doch kein Entrinnen nirgendwo. Weder für Maria, deren Hände am langen Seil wie an einer Hundeleine gefesselt ist, noch für Elisabeth, die Kušej als ihren Herren Beratern und anderen Einflüsterern ausgelieferte „Sklavin ihres Standes“ zeigt. Da sitzt der Hosenanzug gleich einem Hohn, der Zwang des Volkes, der Zwang ihres Hofstaats, der Zwang, sich endlich einen Bräutigam zu nehmen, machen die Souveränin zur politischen Marionette im Ränkespiel der wahrhaft Mächtigen.

Die Beglau spielt diese royale Ohnmacht ebenso, die Verhärmtheit ins Gesicht geschnitzt, in schockstarrem Entsetzen über die unentwirrbare Situation, in verkrampften Posen festgefroren. Überhaupt ist Kušejs Regie unterkühlt und auf die Essenz reduziert, er hat bei maximaler Werktreue aus dem Trauer- ein Kammerspiel gemeißelt, seine Tableaux vivants trennt er in gewohnter Manier mit Blackouts. Entgegen der jungfräulichen Königin, kalkuliert Maria Stuart ihre einzige Chance zum Überleben im Gefallen der Männer. In der Haltung der offensichtlich unterlegen Leidenden gelingt es ihr raffinierter diese Tonart anzuschlagen, man weiß es, vergeblich.

Birgit Minichmayr. Bild: © Matthias Horn

Minichmayr und Beglau. Bild: © M. Horn

Bibiana Beglau. Bild: © Matthias Horn

Doch Minchmayr wird ihr Unglück mit rauer, exaltierter Stimme hinausschreien, eine furios Schutzlose, die mit Vehement ihre Rechte einfordert, bis sie zur abgeklärten, herablassenden Todgeweihten wird. Die Darsteller rundum agieren, reagieren von übergeordneter Perspektive, an ihnen stellt Kušej seinen Metadiskurs zu den Themen Macht und Moral, Patriarchat und Pflichterfüllung aus – „Maria Stuart“, eine Parabel über Wert und Unwert von Prinzipien. Rainer Galke als Marias Hüter Amias Paulet ist der nächstliegende, der entlang des Abgrunds dieses Fallstricks taumelt. Maria wahrlich nicht freundschaftlich zugetan, muss er nach und nach die Intrigen, die zu deren Hinrichtung führen werden, erkennen. Galkes Paulet, ganz Ehrenmann, wird sich ergo zu ihrem Fürsprecher aufwerfen: Englisches Recht muss Recht bleiben!

Eine starke Leistung, und ebenbürtig der von Norman Hacker, als selbstgerechter Schatzmeister, selbsternannter „Richter“ Burleigh sozusagen der Oberschurke, und wie ihm die zur Schau getragene Political Correctness von den Lippen perlt, um nichts weniger als sein anglikanischer Geifer gegen die Katholikin, ja, seine Jovialität beim Verkünden des Urteils jenes Gerichts, das Maria nie und nimmer anzuerkennen geschworen hat. Burleigh-Hacker gegenüber offenbart Minichmayrs Maria Emotionen nicht einmal in Nuancen, trotz ihres miserablen, Burleigh sichtlich anekelnden Zustands, gibt sie sich majestätisch stolz, als sie auf einem Treffen mit Elisabeth besteht. In diesem Moment ist Minichmayr die Herrin.

In Shrewsbury, an diesem Abend gespielt von Wolfram Rupperti, findet Maria immerhin einen Wohlgesinnten; Rupperti macht auf Vernunftmenschen, auf eindringlich Warnenden, doch sein Shrewsbury ist eben doch ein Mitglied des Establishments. Itay Tiran als langhaarig-lässigem, doch faktisch zwischen den Kontrahentinnen aufgeriebenem, also dem Alkohol zusprechendem Leichester wirft sich Elisabeth länger in die Arme als es punkto Staatsräson zulässig wäre. Gleiches gilt für ihre Annäherung an Franz Pätzold als durch diverse Fanatismen irrlichternder Mortimer, den Pätzold mit einer Unruhe des Nicht-mehr-aus-noch-ein-Wissens ausstattet. Pätzold, den man stets schätzt, auch hier brillant.

Birigit Minichmayr und Rainer Galke. Bild: © Matthias Horn

Norman Hacker (li.) und Franz Pätzold (re.). Bild: © M. Horn

Birigit Minichmayr. Bild: © Matthias Horn

Itay Tiran und Bibiana Beglau. Bild: © Matthias Horn

Zu Kušejs analytisch bester, in Geste und vor allem Sprache präzise gefasster Szene wird schließlich der Infight von Minichmayr und Beglau. Eine Konfrontation im düsteren Kerker, in dem, wie anfangs der Kopf der Maria, nun eine Glühbirne zwischen den Königinnen hin- und her pendelt, mal das eine, mal das andere Gesicht beim Herantasten an die fremde Schwester beleuchtend. Eine kurz aufflackernde Nähe, eine der Verlegenheit geschuldete Beinah-Empathie, als die beiden einander ihr Getrieben-Sein eingestehen. Maria wirft sich Elisabeth zu Füßen, in Erwartung, dass sie aufgerichtet werde. Nichts. Außer Marias Eskalation gegen „Boleyns Bastard“.

Welch eine Episode. Wie die vom Unterzeichnen des Todesurteils. Da hat Elisabeth längst ihren Namen auf die nackten Männerrücken geschrieben, bevor sie, was sie tief im Herzen nicht ausgeführt wissen will, Staatssekretär Davison übergibt. Eine Groteske, die Beglaus Elisabeth angstvoll autoritär, Felix Kammerer, an diesem Abend der Davison, und Hacker daraus machen: Davison-Kammerer ein Opferlamm, das sucht, den Willen seiner Herrscherin zu ergründen, Hackers Burleigh, der ihm das Dokument mit flinken Fingern entwindet und den Henker seine Arbeit tun lässt. Im weißen Büßerinnenkleid wird Minichmayr von den Männern über deren Köpfe hinweg zum Schafott transportiert, Elisabeth vor vollzogene Tatsachen gestellt.

Zurück bleibt Elisabeth in blutroter Robe (Kostüme: Heide Kastler), einsam, ein Standbild ihrer selbst. Die Männer sind getürmt oder verbannt, der philanthropische Shrewsbury, der besoffene „Beichtvater“ Leichester, der von seiner Hybris heimgesuchte Burleigh. Lähmend lange steht die Beglau da und summt anachronistisch „God save the Queen“. Das bitterböse Ende einer der dichtesten Schiller-Arbeiten, die hierzulande zu sehen waren, ein Drama noir mit zwei frühfeministischen Antiheldinnen, Abrechnung mit einer politischen Perfidie, die in gewissen Kreisen nach wie vor gang und gäbe ist, die Studie eines Staatsapparats als sich selbst erhaltenden Systems, zeitlos aktuell – und mit viel Applaus bedacht.

Trailer mit Interviews: www.youtube.com/watch?v=Im3T_TrdaWs           www.burgtheater.at

  1. 9. 2021

Landestheater NÖ online: Steilwand

Januar 30, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Der Herzschlag hämmert wie die Beatmaschinen

Tim Breyvogel: Bild: © Alexi Pelekanos

Mit der Produktion „Steilwand“ verließ das Landestheater Niederösterreich vergangenen Februar das Mutterschiff auf dem Rathausplatz und beamte sich mitten in die St. Pöltner Clubkultur. Allein, die Freude übers rundum gelungene Arriviert meets Alternative währte nicht lange, COVID-19 kam der österreichischen Erstaufführung des Simon-Stephens-Stück in die Quere – und so bewegte sich die mobile Produktion ins world wide web.

Heißt: bis Sonntagabend lässt sich ein furios entfesselter Tim Breyvogel im #wirkommenwieder-Stream auf www.landestheater.net erleben. Die Inszenierung von Annette Holzmann wurde dafür extra in der Theaterwerkstatt neu aufgenommen. Die an den Act anschließende DJ-Rotation mit Musikerinnen und Musikern der St. Pöltner Szene entfällt naturgemäß, doch Breyvogel macht den dichten, beklemmenden Monolog nicht nur zum schauspielerischen, sondern mit dem rhythmisch-klangvollen und vielstimmigen Sound aus seinem DJ-Pult auch zum multimedialen Erlebnis

Unterstützt von den Videos Moritz Wallmüllers, die mal Kinderkritzelei, mal Tor zu den Weiten und Abgründen der Seele sind. Es ist ein seltsam grobkörniges Bild, das man via Bildschirm sieht, die Kamera zoomt zur Großaufnahme, und bald wird diese Intimität einen wie eine Sturzflut mitreißen. Da steht Breyvogel, in sich gekehrt, den Blick im Nirgendwo verankert, die Hände an den Klangreglern – der eigene Herzschlag hämmert wie die Beatmaschinen, derweil der Schauspieler als Performer wie DJ zwischen Soliloquium, Schmerz und Synthesizer switscht.

Simon Stephens‘ wie stets sich erst allmählich enträtselnder Monolog ist tatsächlich nah der antiken Bekenntnisliteratur. Da ist dieser Vater, Alex, sein Text sorgsam eingeösterreichert, der mit Frau und Tochter so gern Urlaub in Südfrankreich macht. Jahrelang, bei einem groß-/väterlichen Freund, Schwimmen und Tauchen, Sonnenbaden am Strand, die Sommertage genießen, bis das Unglück passiert … die „Steilwand“, sie ist eine Trinität, eine Klippe unter Wasser, an Land, im Geiste.

Bild: © Alexi Pelekanos

Bild: © Alexi Pelekanos

Stephens’ Sprache ist analytisch und kühl, doch die­ filmische Unvermitteltheit erzeugt einen unfasslich heftigen, poe­tischen Sog, Breyvogel im Lichtgewitter, seine Erschütterung, Ungläubigkeit bei gleichzeitiger Erzählerdistanz sind atemberaubend. Im Hintergrund, nein, rundum um ihn, ihn umschlingend, ihn verschlingend, bauen sich Wallmüllers Zeichnungen auf, wie die Monster, die man von historischen Seekarten, Breyvogel so intensiv, wie man ihn live von der Bühne kennt.

Und apropos, Ungläubigkeit am Abgrund: Die verhandeln Stephens und Breyvogel mal explizit, mal implizit, die Gottesfrage nämlich, vom Errechnen von dessen Existenz à la Kurt Gödel bis zum Aussehen – alter Mann, weißer Bart?, von der Urknalltheorie bis zu der Bibel verdankten Wissenslücken, von der Schuld bis zur Erlösung. Die Bühnentür, die Breyvogel kurz öffnet, würde ihn in kosmische Nebelschwaden saugen – „Steilwand“ ist auch optisch ein starker, beinah schwarzweißer Film. Dazu die hypnotische Musik, wie im eigenen Kopf schwirrende Töne, da man das Schlimmste nicht mehr als mitansehen kann, die Bilder, die in Wellen kommen, als Brandung und Unterwasserströmung, Ebbe und Flut eines unerträglichen Gemütszustands.

Breyvogel, in dessen Augen auch Alex‘ Aufbegehren gegen das Geschehene – Schicksal, Ungerechtigkeit, wie weiterleben? – aufblitzt. Am Ende seine Sprach- und Hilf- und Gestenlosigkeit. Fazit: Es ist dieser Tage die bessere Strategie dem Publikum Produktionen online anzubieten, als in der Lockdown-Versenkung zu verschwinden. Das Landestheater Niederösterreich beweist via „Steilwand“, wie man ein Projekt mit Engagement und Ideen vom Bühnen- in den virtuellen Raum heben kann, ohne dass Atmosphäre verloren geht. Bis wir einander von Angesicht zu Angesicht wiedersehen: Schau‘n Sie sich das an!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=ZaD7H7z3cSw           www.landestheater.net

  1. 1. 2021

Burgtheater: Das Leben ein Traum

September 12, 2020 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Auf der Schutthalde der Geschichte

Franz Pätzold als Sigismund. Bild: Andreas Pohlmann

Kurz vor Schluss, da hat das Publikum bereits spöttisch über Clotalds „Geh‘ ins Kloster“-Rat an seine Tochter gelacht, mehr noch als die Herren-Menschen die Damen untereinander aufteilen – Astolf: Wenn Rosaura wirklich Clotalds Tochter ist, na gut, dann nehm‘ ich sie halt, Sigismund: Fein, dann kann sich die Estrella auch nicht beklagen, weil ich sie mit dem Besseren vermähle, nämlich mit mir -, kurz vor knapp also kommt Martin Kušej erst auf den Punkt.

Da nämlich verflicht er die barocken Verse mit Pasolinis Stück „Calderón“, genauer mit dessen dritten Teil, Rosaura träumt sich als Insassin eines nationalsozialistischen Konzentrationslagers, zwar mit einer Revolutionsutopie, doch wie Schauspielerin Julia Riedler als geschändete, ungerächte, ins Ehebett ihres Übeltäters verkaufte Rosaura daliegt, da kollidiert der Lager-Monolog heftig mit dem pathetischen Gehabe davor. Und vor einem liegt die Institutionalisierung der Unmenschlichkeit. Das Erbe der Jetztzeit.

Ruhigen Gewissens hätte sich Kušej auf die Kraft des querdenkerischen Filmemachers und Publizisten verlassen können, der den Niedergang sozialer und politischer Strukturen in seinem Werk sezierte, einen darob entstehenden neuen Faschismus analysierte – und für sein Weltbild mit dem Leben büßte. Doch der Direktor setzt als erste Premiere der #Corona-Saison Pedro Calderón de la Barcas „Das Leben ein Traum“ an, mehr als drei lange Stunden von ihm selbst inszeniert, heißt: in der Kušej-typischen Ästhetik von Zappenduster bis Schwarzseherisch. Aber mit einem selten gebrauchten Händchen für feinklingigen Sarkasmus.

Das Bühnenbild von Annette Murschetz ist beeindruckend monumental, die Kostüme von Heide Kastler historisierend, die Musik von Bert Wrede irgendwo zwischen dem Kreischen von Vögeln, Industriemaschinen und Gefolterten. Da stehen sie nun, Calderóns Protagonisten, der polnische Hof, auf der Schutthalde der Geschichte, turnen den Koks-Berg im Kohlenkeller auf und ab, während von der Rampe oben immer mehr Briketts herabrieseln – das hat Schauwert, diese mitunter atemberaubende Akrobatik, auch wenn man sich fragt, warum sie das tun, und sich die Pausengespräche ums Was-will-uns-Kušej-eigentlich-sagen? drehen.

Norman Hacker und Franz Pätzold. Bild: Andreas Pohlmann

Franz Pätzold und Wolfram Rupperti. Bild: Andreas Pohlmann

Franz Pätzold und Julia Riedler. Bild: Andreas Pohlmann

Und es macht Mühe, aus diesem seltsam antiquierten Drama mit seinen verquasten Handlungssträngen das zu schälen, woran die Zuschauerin/der Zuschauer dieser Tage andocken kann. Der Ruf nach Freiheit, die Beschwörung des freien Willens, ja natürlich, doch dies ausgerechnet von dem, der sich, erst an der Macht, an deren Missbrauch delektieren wird – Fußnote: Man glaubt Franz Pätzolds Sigismund zum Glück die vom Himmel gefallene Katharsis samt Heilsbringerschaft in keinem Augenblick.

Was demnach? Basilius, König von Polen, hält seinen Sohn Sigismund seit dessen Geburt ob ungünstiger astrologischer Weissagungen zu ebendieser in einem Turm in der Wildnis gefangen. Bis er sich besinnt, und den Wildling an seine „rechtmäßige“ Position absoluter Macht katapultiert. Der Königssohn, entledigt der Ketten, kennt keine Schranken, wird Mörder, Wüstling, wieder eingekerkert, von Aufständischen befreit – und ist trara ein Guter. Nebenhandlung I: Astolf, Herzog von Moskau, spitzt auf Basilius-Nichte Estrella und den Thron; Nebenhandlung II: Rosaura, von Astolf ihrer Ehre beraubt, hat vor diesen zu töten, wird aber von Sigismunds Kerkermeister Clotald, der sich als ihr Vater enttarnt, ausgebremst. Dazwischen viel Narkotika und ein Sigismund, dem die Gesellschaft erzählt, mal diese, mal jene Realität wäre ein Traum.

Da liegt er, Sigismund, im Prosektur-weißen Verlies auf entsprechend blanker Liege, Franz Pätzold nackt, und philosophiert sich mit dem Schicksal hadernd in neonröhr-lichte Höhen. Ein malträtierter Geist in einem geschundenen Körper, Kušej wird dieses Ecce Homo später um eine gewittrige Christus-am-Kohlehaufen-Geste erweitern, damit ist was anzufangen, Pätzold wie immer brillant als menschliches Experiment, als vielleicht, man weiß es nicht, reine Seele, die durch Vaters Versuchsanordnung erst schmutzig wurde.

Roland Koch und Tim Werths. Bild: Andreas Pohlmann

Andrea Wenzl und Johannes Zirner. Bild: Andreas Pohlmann

Julia Riedler und Andrea Wenzl. Bild: Andreas Pohlmann

In Zeiten, da die Objektifizierung von Menschen vielerorts wieder als politisches Propagandamittel eingesetzt wird, die Entmenschlichung anderer zum eigenen Machterhalt, und dies dem Stimmvolk vielerorts erfolgreich unter dem Signum einer „neuen Normalität“ angedreht wird, scheint Kušej mit Calderón deutlich machen zu wollen, wie man erschafft, was später zu fürchten ist. Kušej inszeniert das knallhart, die Szenen wie stets durch Blackouts zerstückelt, die eiskalte Politik, in der Pätzold vom Beherrschten zum Beherrscher, vom „Tier“ zum unterkühlt kalkulierenden Machthaber wird.

Im Programmheft bemüht das Burgtheater Thomas Hobbes‘ Theorien über den Souverän aus seinem „Leviathan“, die Abgabe des Selbstbestimmungsrechts ans Staatsoberhaupt, den Verzicht auf kontroverse öffentliche Debatten, auf Meinungsbildungsprozesse, auf die demokratische Abstimmung über die vielbemühten „Werte“. Das spröde dargebotene Schauspiel, Kušejs nüchterne Hinterfragung alternativer Wirklichkeiten ist ein Widerhall vom Wind, der draußen weht, ein jung-dynamischer und konsequent den Staat umbauender Landesführer, diesmal nicht hässliche, sondern „schreckliche Bilder“, ein „menschenunwürdiges System“.

Das Kalkül kommt daher mit Langsamkeit, zwar sind Mantel und Degen zur Hand, und für Roland Koch als mutmaßlich unfreiwillig kauziger Clotald eine (?) Augenklappe. Es wird gefochten und geblutet, Andrea Wenzl und Johannes Zirner als Estrella und Astolf tragen im Zweikampf etliche Blessuren davon, zwei Spiegelfechter sind sie, die weder Emotionen noch Motive für ihr Handeln erahnen lassen. Enervierend langsam lässt Kušej sein Ensemble die Sätze zerkauen, jedes Wort will hier im Intrigen-durchtränkten Politsumpf überlegt sein, und großartig ist, wie Johannes Zirner zwischen Estrella und Rosaura wegen des Medaillons in Bedrängnis gerät – ein teflonbeschichteter Lügner, gefangen im eigenen Gespinst.

Norman Hacker, Franz Pätzold, Andrea Wenzl, Roland Koch und Johannes Zirner. Bild: Andreas Pohlmann

Es wurde an dieser Stelle schon bemängelt, dass Kušej mit Frauenfiguren wenig anzufangen weiß, dagegen erweist er sich diesmal beinah als Feminist. Die Wenzl und mehr noch Julia Riedler agieren kraftvoll als Estrella und Rosaura, zwei Frauen als Spielbälle im Männermatch, sie demaskieren die Definitionsgewalt der Männer darüber, was „normal“, was Fakt, was „wirklich“ ist. Allein mit Attitüde macht erstere klar, dass sie auf diese Gewalt mit Gegengewalt reagieren wird, bis die First Lady die Erste im Staate ist. Rosaura, und so steht’s nicht bei Calderón, entzieht sich der Opferrolle durch den Freitod …

Als Erfreulichkeit des Abends glänzt Tim Werths als Diener Clarin. Ein witzig katzbuckelnder Wendehals im Bemühen diesen aus der Schlinge zu befreien. Ein grandios doppelzüngiger „gracioso“, wiewohl der einzige unter allen, der sein Herz auf dieser trägt – was ihm die Lacher garantiert. Bleibt Norman Hacker als undurchsichtiger Basilius, teils verschrobener „Wissenschaftler“, wie er eingangs in Unterhose und Strümpfen auf die Bühne taumelt und sich nur unter Schwierigkeiten fertig bekleiden kann, teils zynischer Despot. Die erste Begegnung mit Sigismund fällt im Wortsinn von oben herab aus, wird aber – „Das Leben ein Traum“ – sofort mit einem weinerlichen, reuigen, Sigismunds Knie umklammernden Basilius wiederholt.

„Hilfe bringt vielleicht die Wahrheit“, sagt Norman Hacker. Dem ist bei diesem Deutungsversuch einer Arbeit über Deutungshoheit nichts hinzuzufügen. Am Ende tötet Basilius – auch das steht nicht bei Calderón – den Soldaten, Wolfram Rupperti, der Sigismund befreit hat, per Gurgelschnitt. Die kohlenschwarze Mördergrube und der Weiße-Westen-Palast überlappen zum anthrazitfarbenen, neuen Absolutismus des Sigismund. Man hat es kommen sehen, an der Macht sind die, die „recht tun“. Auf der Schutthalde ihrer eigenen Geschichte.

Teaser: www.youtube.com/watch?v=cYWMDoF4ASM           www.burgtheater.at

  1. 9. 2020