Nuruddin Farah: Jenes andere Leben
August 30, 2016 in Buch
VON RUDOLF MOTTINGER
Ein Buch über Flucht, ein Plädoyer für Freiheit
In seinem neuen Roman „Jenes andere Leben“ erzählt der somalische Autor Nuruddin Farah das bewegende Schicksal einer Familie in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Umbruchs. Als Bella vom gewaltsamen Tod ihres Bruders Aar bei einem Anschlag der Terrormiliz al-Shabaab in Mogadischu, der Hauptstadt des bürgerkriegsgeschüttelten ostafrikanischen Staates erfährt, bricht die erfolgsverwöhnte Modefotografin umgehend aus Rom auf, um sich dessen halbwüchsiger Kinder, Salif und Dahaba, anzunehmen.
In Nairobi, wo Aar mit ihnen lebte, versucht sie Verantwortung zu übernehmen, denn Valerie, die Mutter der Kinder, hat die Familie bereits vor Jahren verlassen, um mit einer anderen Frau ein neues Leben zu beginnen. Jetzt aber erhebt sie ihre eigenen Ansprüche auf die Kinder – und das Erbe von Aar –, und zwischen den Frauen entspinnt sich ein zuerst noch subtiler, verbaler Machtkampf.
„Jenes andere Leben“ ist ein Psychogramm einer Frau, die aus Europa zurück nach Afrika reist, und mit dem Tod ihres Bruders konfrontiert wird. „Wie eine Perlenschnur, die gerissen ist“, sinniert Bella, noch in Rom, über den großen Verlust, den der Tod ihres geliebten Bruders hinterlässt, gleich zu Beginn des Buches. Die Fotografin lebt in ihrem eigenen Kulturkreis und kommt in eine für sie fremde Welt. Moderner, westlicher Lebensstil prallt auf heimatliche Traditionen. Farah schildert in einer schnörkellosen, präzisen Sprache, tagebuchartig das Eintauchen in eine für sie andere Kultur, und ihre Ängste und Sorgen, ob sie als gesetzlicher Vormund der Kinder dieser Situation gewachsen ist und die Erziehung der Kinder übernehmen kann.
Es sind die leisen Zwischentöne, die den Roman ausmachen, ebenso wie seine Vielschichtigkeit. Der somalische Autor erzählt ein Stück Geschichte seiner Heimat, die durch Krieg und Bürgerkrieg zu einem „Lost State“ geworden ist. Die Somalier leben weit verstreut über den Globus. Viele haben ihr Land wegen des Terrors verlassen. „In Somalia macht sich der Tod selten die Mühe und kündigt sein Erscheinen an. Stattdessen schneit er mit der Arroganz eines Gastes herein, der davon ausgeht, dass er jederzeit herzlich willkommen ist.“
Elegant verbindet Farah hoch aktuelle Fragen kultureller Identität, mit einer Reflexion über Terror und Trauer(bewältigung). Bewegend, weil der Autor damit nicht zuletzt auch den Verlust einer seiner Schwestern durch einen Anschlag verarbeitet. Als sein erster Entwurf beinahe fertig war, kam seine Schwester Basra am 17. Jänner 2014 bei einem Bombenanschlag der Taliban auf ein Kabuler Restaurant ums Leben. Basra war unermüdlich für UNICEF im Einsatz und verbrachte einen Großteil ihres Berufslebens damit, die Lebensumstände der Menschen in den Ländern zu verbessern, in die sie geschickt wurde, ob in Äthiopien, Dhafur, den Flüchtlingslagern Pakistans oder in Afghanistan.

Bild: Pixabay

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„Jenes andere Leben“ ist auch ein Buch über Flucht, Vertreibung, Verlust – und seinem Umgang damit – und ein Plädoyer für Freiheit, politisch wie persönlich. Für Bella ist „Freiheit Teil eines größeren Ganzen, die Freiheit, die täglich Millionen Menschen in Afrika oder dem Mittleren Osten in vielerlei Hinsicht verwehrt wird, steht in direktem Zusammenhang mit der fehlenden Demokratie in diesen Ländern … Die Entscheidungen, die der Einzelne im Privatleben trifft, sind ebenso wichtig, wie die Entscheidung, die er an der Wahlurne trifft … Niemand, auch nicht der Präsident eines Landes, sollte die Entscheidungshoheit darüber haben, was Liebe ist oder wen man lieben darf.“ Eine Anspielung darauf, dass gerade Homosexualität in den meisten Staaten Afrikas tabu ist und Menschen deswegen per Gesetz sogar verfolgt und inhaftiert werden.
Eine Situation, mit der auch Valerie und ihre Geliebte Padmini in Uganda konfrontiert sind, und die wegen ihrer Liebe zueinander sogar eine Zeit lang im Gefängnis landen. Auch wenn Bella Valerie nicht mag, etwas Böses gegen sie könnte sie nie unternehmen. Und so hilft sie ihr, geheim mehrmals aus der Patsche. Der „Clash“ der Kulturen scheint anfangs noch unüberwindlich, endet schließlich aber versöhnlich. Für alle Beteiligten. Ein Buch, das zumindest etwas Hoffnung macht.
Über den Autor:
Nuruddin Farah wurde am 24. November 1945 im südsomalischen Baidoa geboren. 1974 musste er Somalia verlassen, wo er aus politischen Gründen in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. Er lebte viele Jahre im Exil. Erst 1996 konnte er sein Heimatland wieder besuchen. Farah gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Afrikas, ist Autor zahlreicher Romane und Theaterstücke, die weltweit in 17 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet sind. Er veröffentlichte unter anderem einen Romanzyklus über seine somalische Heimat, den er mit seinem 2013 erschienenen Buch „Gekapert“ abschloss. Heute lebt Farah mit seiner Familie in Kapstadt.
Suhrkamp, Nuruddin Farah: „Jenes andere Leben“, Roman, 382 Seiten. Aus dem Englischen von Susann Urban.
Wien, 30. 8. 2016