Kunstforum: Death and the Maiden. Ukrainische Kunst

November 9, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Von der Verwundbarkeit des Körpers und der Seele

Lucy Ivanova: Warm Optics, 2022. © Courtesy the artist

Das Kunstforum Wien hat Lizaveta German und Maria Lanko, die Kuratorinnen des diesjährigen ukrainischen Beitrags auf der Biennale di Venezia, eingeladen für die Herbstausstellung 2022 im tresor eine Präsentation mit ukrainischen Künstlerinnen und Künstlern zu kuratieren.

Die Ausstellung soll Auswirkungen des Krieges in der Ukraine auf die Gesellschaft in Europa reflektieren. Lizaveta German und Maria Lanko sind ein Kuratorinnenteam, das 2018 gemeinsam mit dem

Schweizer Filmemacher Marc Wilkins die Ausstellungsplattform und Galerie The Naked Room in Kyiv gegründet hat. The Naked Room gilt als eine der interessantesten Adressen für die lebendige, junge ukrainische Kunstszene. Viele der Kunstschaffenden, die hier vertreten sind, waren für den anerkannten Pinchuk Art Prize nominiert oder wurden mit diesem ausgezeichnet.

Die Schau behandelt das Thema des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine nicht auf direkte Weise, sondern macht scharfsinnige Beobachtungen, legt Erfahrungen und Gefühle offen, die durch die neue Lebensrealität hervorgerufen werden. Ebenso werden aus dem Krieg resultierende Konsequenzen für die ukrainische und die europäische Gesellschaft im weitesten Sinne diskutiert. Die Geschichte, die die Ausstellung erzählt, befasst sich mit einer neuen Sensibilität gegenüber immer gültigen Themen wie Gedächtnis, Trauma, Verwundbarkeit des Körpers und die Nähe von Leben und Tod.

Zu sehen bis 15. 1. 2023

www.kunstforumwien.at           In Kooperation mit www.imaginehumanrights.com

Unterstützt durch den Ukrainian Emergency Art Fund (UEAF) im Rahmen des Programms „Cultural Emergency Response“ des Prince Claus Fund For Culture and Development: ueaf.moca.org.ua

9. 11. 2022

Elena Subach: From the series Grandmothers On the Edge of Heaven, 2018-19. © Courtesy the artist and The Naked Room gallery

Zhanna Kadyrova: Palianytsia, 2022. Fundraising project for Emergency in Ukraine. Castello 2145, Riva San Biasio, 30122 Venice. Bild: © Natalka Diachenko

Elena Subach: From the series Grandmothers On the Edge of Heaven, 2018-19. © Courtesy the artist and The Naked Room gallery

 

Albertina: Basquiat. Of Symbols and Signs

August 27, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Exzentrischer Outsider und ausgebeuteter Superstar

Jean-Michel Basquiat: Untitled, 1982. Collection Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam. Bild: Studio Tromp © Estate of Jean-Michel Basquiat. Licensed by Artestar, New York

Ab 9. September zeigt die Albertina die Ausstellung „Basquiat. Of Symbols and Signs“. Kaum ein anderer Künstler steht als schillernde Ausnahmeerscheinung so repräsentativ für die 1980er Jahre und deren pulsierende New Yorker Kunstszene wie der 1960 in New York geborene JeanMichel Basquiat. Mit 17 reißt der Sohn eines Haitianers und einer PuertoRicanerin von zu Hause aus. Als Graffiti Künstler lebt er teilweise auf der Straße. Doch schon bald folgt ein rasanter Aufstieg. Basquiats kometenhafte Karriere wirkt dabei wie ein Schnelldurchlauf eines sequenzreichen Films:

Als Hauptfigur verkehrt er mit den bedeutendsten Künstlern seiner Zeit, darunter Musiker wie David Bowie und Madonna. Mit Andy Warhol verbindet ihn eine inspirierende Freundschaft. Basquiats Bilder sind extrem gefragt und werden schnell teurer. 1982 wird er zum jüngsten Teilnehmer der documenta 7 und zum ersten Künstler von Weltruhm mit afroamerikanischkaribischen Wurzeln. Doch der schnelle Erfolg wird für ihn zu einer Herausforderung, der er nicht lange standhält 1988 stirbt er an einer Überdosis Drogen.

Aktueller denn je, ist Basquiats Werk bis heute bahnbrechend und visionär. Er beschäftigt sich ebenso mit afrikanischer Vergangenheit wie mit den problematischen Hierarchien in der Gesellschaft. Wichtigstes Thema ist ihm der allgegenwärtige Rassismus, der ihn auch persönlich betrifft. Als exzentrischer Outsider und ausgebeuteter Superstar seiner Zeit behauptet sich Basquiat als eine der bedeutendsten Schlüsselfiguren für die zeitgenössische Kunst.

„Basquiat. Of Symbols and Signs“ ist die erste umfassende Museumsretrospektive des außergewöhnlichen Werks von JeanMichel Basquiat in Österreich. Die Ausstellung in der Albertina präsentiert 50 Hauptwerke aus renommierten öffentlichen und privaten Sammlungen, gibt neue Einblicke in die einzigartige Bildsprache Basquiats und entschlüsselt die Inhalte seiner künstlerischen Ideen

Zu sehen bis 8. Jänner 2023.

www.albertina.at

27. 8. 2022

Jean-Michel Basquiat: Untitled, 1982. Private Collection – courtesy of HomeArt, Hong Kong. Bild: Private Collection – courtesy of HomeArt, Hong Kong © Estate of Jean-Michel Basquiat. Licensed by Artestar, New York

Jean-Michel Basquiat: Self Portrait, 1983. Collection Thaddaeus Ropac, London · Paris · Salzburg · Seoul | Bild: Ulrich Ghezzi | © Estate of Jean-Michel Basquiat. Licensed by Artestar, NY

Jean-Michel Basquiat: Self Portrait, 1983. Collection Thaddaeus Ropac, London · Paris · Salzburg · Seoul | Bild: Ulrich Ghezzi | © Estate of Jean-Michel Basquiat. Licensed by Artestar, NY

Albertina: Tony Cragg. Sculpture: Body and Soul

Juli 6, 2022 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Wie Holz, Stein und Stahl zum edlen Kunst-Stoff wird

Tony Cragg: Compound, 2015. © Tony Cragg / Bildrecht, Wien 2022. Bild: Francesco Allegretto

Mit einer Auswahl zentraler Skulpturen und Zeichnungen der vergangenen zwei Jahrzehnte würdigt die Albertina erstmals das international angesehene Werk des 1949 in Liverpool geborenen und in Wuppertal und Berlin lebenden Tony Cragg. Die Ausstellung „Tony Cragg. Sculpture: Body and Soul“ ist ab 7. Juli zu sehen. In seinem skulpturalen Schaffen vollzieht sich eine Entwicklung von der figurativen zur abstrahierten Form, wobei der

Umgang des Künstlers mit teils unkonventionellen Materialien wie Glasfaser und Kevlar, die neben Holz, Stein und Edelstahl zum Einsatz kommen, zu einer sehr unterschiedlich wahrnehmbaren Präsenz der Skulptur im Raum führt. Cragg arbeitet mit den sinnlichen Qualitäten der verwendeten Materialien, mit ihrer Reaktion auf Licht, ihrer Ausstrahlung. So entstehen nicht nur innere Dialoge zwischen den Betrachtenden und den Skulpturen, sondern auch Beziehungen und Spannungsfelder zwischen den Skulpturen selbst.

Ab den 1990er-Jahren wendet sich Cragg verstärkt auch der Zeichnung zu, die sowohl Skizze als auch Ausdruck von Überlegungen zu formalen und inhaltlichen Fragen sein kann. Dabei arbeitet der Künstler gerne in Serien, in denen er die jeweiligen gegenständlichen wie abstrakten Motive abhandelt.

Zu sehen bis 6. November.

www.albertina.at

Über den Künstler

Sir Anthony Douglas „Tony“ Cragg wurde am 9. April 1949 in Liverpool als Sohn eines Elektroingenieurs geboren. Aufgewachsen ist Cragg in bescheidenen Verhältnissen. Nach Abschluss der Schule arbeitete er von 1966 bis 1968 als Labortechniker der National Research Association, bis er sein Kunststudium aufnahm. Craggs erste künstlerische Arbeiten waren geprägt von vorgefundenen, einfachen Materialien und deren Vergänglichkeit. Ab Mitte der 1970er-Jahre entstanden erste Boden- und Wandskulpturen, in denen der Künstler Prinzipien des Stapelns sowie das Zusammenfassen von kleineren Teilen zu großen Formen variierte. 1977 ließ Cragg sich in Wuppertal nieder. Ab 1979 lehrte er an der Kunstakademie Düsseldorf. Schon bald fand sein Werk auch internationale Beachtung.

Tony Cragg: Integers, 2021. © Tony Cragg / Bildrecht, Wien 2022. Bild: Michael Richter

T. Cragg: Justine, 2015. Leon Tsoukernik Art Collection © T. Cragg / Bildrecht, Wien 2022. Bild: M. Richter

Tony Cragg: In No Time, 2019. © Tony Cragg / Bildrecht, Wien 2022. Bild: Michael Richter

In den Jahren 1982 und 1987 nahm Cragg an der Dokumenta sowie 1986 und 1993 an der Biennale in Venedig teil. 1988 wurde er mit dem Turner-Preis ausgezeichnet und an der Kunstakademie Düsseldorf zum Professor berufen. 1994 wurde er Mitglied der Royal Academy of Arts, London. Von 2001 bis 2006 unterrichtete er auch als Professor für Bildhauerei an der Hochschule der Künste in Berlin. Indes wurde er 2002 Mitglied der Akademie der Künste, Berlin. Weiters wurde Cragg in den Stand eines Commander of the British Empire erhoben. In Wuppertal erwarb Cragg 2006 die denkmalgeschützte Villa Waldfrieden mit einem anschließendem 15 Hektar großen Park-Anwesen, dem einstigen Wohnsitz von Kurt Herberts. Nach aufwändiger Sanierung und Aufforstung der Anlage entstand hier, in Form eines Museums, ein Skulpturengarten mit wechselnden Exponaten verschiedener Künstler.

Nach der Emeritierung von Marcus Lüpertz als Rektor der Kunstakademie Düsseldorf wurde Tony Cragg 2009 zu dessen Nachfolger gewählt. Trailer zur Filmdoku „Tony Cragg. Parts of the World“: Einblicke in seine Arbeitsmethoden und ein Interview mit dem Künstler in deutscher Sprache: www.youtube.com/watch?v=78zWb5lZSPg          www.albertina.at

6.  7. 2022

toxic dreams im Theatermuseum: After the End and Before the Beginning

Februar 12, 2021 in Ausstellung

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein Video-Installation mit Hamlet, Winnie und Woyzeck

Praktiziert den alten philosophischen Gedanken: Ich spreche, also bin ich: Stephanie Cummings als Winnie aus „Glückliche Tage“ von Samuel Beckett. Bild: © Timotheus Tomicek

Wer fragt sich nicht manchmal nach dem Ende eines Films, eines Theaterstücks oder eines Buches wie die Geschichte eigentlich weitergeht, wie die darin Handelnden weiterleben? Oder wie es ihnen vor deren Anfang erging? Die Videoinstallation „After the End and Before the Beginning“ der Gruppe toxic dreams erzählt nun im Theatermuseum und in neun Kurzfilmen mögliche Vorgeschichten oder Fortschreibungen von ikonenhaften Charakteren aus klassischen Theaterstücken.

Unter den handelnden Personen befinden sich William Shakespeares Hamlet und Lady Macbeth, Friedrich Dürrenmatts Claire Zachanassian aus „Der Besuch der alten Dame“, oder Olga aus Anton Tschechows „Drei Schwestern“. Sie alle steigen in einen Wagen und während der Fahrt durch die Stadt ergeben sich Gespräche mit dem Chauffeur. Auf diese Weise erfahren die Besucherinnen und Besucher mehr darüber, wie sich das Leben der Figuren vor oder nach ihren Auftritten im Originalstück zugetragen haben könnte.

Hamlet, ein Experimentalfilmer, ist auf dem Weg zum Begräbnis seines Vaters und monologisiert über Filme, Schauspieler und die ultimative Story. Nora, die einst ohne Verbindungen zur Vergangenheit oder Perspektive einer Zukunft ihre Familie verlassen hat, ist mittlerweile aufstrebende Politikerin und bereitet im Taxi ihre Rede vor, in der sie ihre Wählerschaft über ihre Trennung von Mann und Kindern informieren will. Woyzeck kommt von der Beerdigung Maries und sucht aufgeregt ein Restaurant, um seinen Hunger zu stillen. Lady Macbeth ist Chefin eines Verbrechersyndikats, hat eben wieder jemanden um die Ecke gebracht und gibt dem Fahrer eine Einführung in die Kunst des Mordens. Nach einer weiteren lausigen Verabredung ist Blanche DuBois verzweifelt und möchte nur ziellos durch die Stadt kurven.

Markus Zettl als Hamlet von William Shakespeare. Bild: © Timotheus Tomicek

Nina Fog als Shakespeares Lady Macbeth. Bild: © Timotheus Tomicek

Susanne Gschwendtner als Eliza Doolittle. Bild: © Timotheus Tomicek

Ein Billigflugangebot ermöglichte Olga endlich den langersehnten Wochenendtrip in die Stadt ihrer Träume, Moskau, von dem sie nun zurückkehrt. Die Linguistikexpertin Eliza Doolittle, mittlerweile zur weiblichen Version ihres Erziehers Higgins verkommen, einsam, versnobt und überheblich, lässt sich zu einem Vortrag zum Thema Sprachanwendung chauffieren. Winnie, steckt irgendwo zwischen dem Davor und dem Danach, genießt ihre wöchentliche Rundfahrt durch die Natur und praktiziert den alten philosophischen Gedanken: Ich spreche, also bin ich. Claire Zachanassian, die reiche, angesehene alte Dame, fährt mit dem Leichnam ihres Liebhabers nach Capri zurück, um in der Internetshow „Celebrities Talk in a Family Car“ teilzunehmen.

Die Multi-Screen-Videoinstallation ist über mehrere Ausstellungsräume des Palais Lobkowitz verteilt. Die Besucherinnen und Besucher entscheiden selbst, welchem Charakter und welcher Geschichte sie folgen möchten. Jede Film-Station hat ein von alten Lichtspieltheatern inspiriertes Präsentationsdesign, das einen atmosphärischen Kontext zum Raum und den Werken des Theatermuseums und der Gemäldegalerie der Akademie der bildenden Künste herstellt.

Es spielen: Stephanie Cumming die Winnie aus „Glückliche Tage“ von Samuel Beckett, Nina Fog die Lady Macbeth, Susanne Gschwendtner die Eliza Doolittle aus „Pygmalion“ von George Berhard Shaw, Isabella Händler die Blanche DuBois aus „Endstation Sehnsucht“  von Tennessee Williams, Anna Mendelssohn Ibsens Nora,  Jutta Schwarz die Claire Zachanassian, Anat Stainberg Tschechows Olga aus den „Drei Schwestern“, Florian Tröbinger Büchners Woyzeck und Markus Zett den Hamlet. Text, Regie und Chauffeur: Yosi Wanunu. In englischer Sprache mit deutschen Untertiteln.

www.toxicdreams.at           www.theatermuseum.at

12. 2. 2021

Streaming: Big-Bang-Theorie-Star Jim Parsons in „Hollywood“ und „The Boys in the Band“

Januar 7, 2021 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Die Traumfabrik wird endlich zum Equality-Land

Hoffnungsvolles Ausharren bei der Oscar-Verleihung: Joe Mantello, Jim Parsons, Dylan McDermott, Holland Taylor und Patti LuPone. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Oft wenn Hollywood sich den Rückspiegel seiner Goldenen Ära vorhält, entgleitet das Ergebnis ins Sentimentale. Nostalgie mit Melancholie. Da tut es gut, wenn einer die Suggestionskraft hat, die cinematographische Märchenpracht ins Sagenhafte zu übersteigern. Ryan Murphy und Ian Brennan haben’s getan, die beiden vormals verantwortlich für „Glee“, „Ratched“, „American Horror Story“, Murphy, dessen

Dienste sich Netflix 2018 für unvorstellbare 300 Millionen Dollar für fünf Jahre exklusiv sicherte, nun für die Netflix-Serie „Hollywood“, ein topaktuelles Gegennarrativ zur gängigen L.A. Story. Wird doch in dieser den Mythos aufmotzenden Hommage die Traumfabrik endlich zum Equality-Land, „Hollywood“ spielt in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, als das berühmte Sign tatsächlich noch um die vier Buchstaben L.A.N.D. länger war, und Murphy und Brennan zeigen ganz Tinseltown, als ob #BlackLivesMatter und der #LGBTQ-Pride darüber hinweggefegt wären.

Die sieben Episoden folgen einer Handvoll blutjunger Protagonistinnen und Protagonisten, die nach Rampenlicht, Ruhm und Reichtum streben, Ex-Soldat und Schauspielanfänger Jack Castello, Drehbuchdebütant Archie Coleman, Regieneuling Raymond Ainsley und die Schauspiel-Elevinnen Camille Washington und Claire Wood, in Klarnamen David Corenswet, Jeremy Pope, Darren Criss, Laura Harrier und Samara Weaving – Archie und Camille Afroamerikaner, sie die Lebenspartnerin des halbphilippinischen, aber „weiß“ wirkenden Raymond.

Claire die Undercover-Tochter von Studio Boss Ace Amberg aka Rob Reiner – und hauptsächlich ist es die „Alte Garde“, die „Hollywood“ darstellerisch wertvoll macht: „Two and a Half Man“-Mutter Holland Taylor und Joe Mantello als Produzentenduo Ellen Kincaid und Dick Samuels, Dylan McDermott als Tankstellengigolo Ernie West und Tony-Award-Gewinnerin Patti LuPone als Avis Amberg, die den Chefsessel ihres Göttergatten entert, als diesen bei einem Pantscherl der Herzkasperl holt.

Rock Hudson mit Lebenspartner Archie Coleman: Jake Picking und Jeremy Pope. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Tankstellen-Toy-Boys: Darren Criss und David Corenswet. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Probeaufnahmen für „Peg“: Jim Parsons und Jake Picking. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

And the Oscar goes to …: Jeremy Pope, Darren Criss und Laura Harrier. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

An nackter Haut und Sexszenen wird nicht gespart, vor allem, weil die Jungs als Brotjob Ernies illustre Kundschaft mit Blow Jobs beglücken. „Dreamland“ heißt das Codewort des Zapfsäulenbordells, wo auch Avis eine treue Freierin von Jack ist, und da kommt auch der grandios agierende Jim Parsons ins Spiel, als Hollywood-Agent Henry Willson, der die Herrenriege, bevor er sie unter Vertrag nimmt, erst einmal zur Fellatio bittet. Statt Besetzungscouch steht hier gleich ein komplettes -bett, 70 Jahre vor #MeToo, und Parsons ist brillant als von Selbsthass zerfressener Unsympath, fulminant sein Isadora-Duncan-Tanz mit den sieben Schleiern, der den sexuellen Missbrauch seines Klienten-Frischfleischs als Selbstverständlichkeit nimmt.

Der homosexuelle Henry Willson ist ein dem realen Leben entliehener Charakter, und Roy Fitzgerald, den in der Serie halb fiktionalisiert und ausdrucksstark Jake Picking verkörpert, war wirklich sein Schützling. Willson macht aus ihm „Rock Hudson“, auch Sekretärin Phyllis Gates, mit der Willson Hudson pro forma verheiratete, kommt vor. Aber laut Murphy und Brennan verliebt sich der schüchterne, nicht übermäßig helle Stiefvaterkomplexler Rock in Archie, die beiden werden ein Paar, das zum Happy End den Red Carpet Hand in Hand beschreiten wird.

Die Traumfabrik-Talente nämlich haben einen ebensolchen: Archie hat ein Drehbuch geschrieben, „Peg“ – Entwistle, die sich, da aus ihrem ersten Film geschnitten, 1932 vom Hollywood-H in den Tod stürzte, Raymond will Regie führen und die Titelrolle mit Camille besetzen, womit sie die erste Schwarze in einer Hauptrolle wäre. Eine Unternehmung, von der Avis und Ellen als emanzipierte Regentinnen eines rassistischen, schwulenfeindlichen, frauenverachtenden Hollywoods alsbald überzeugt sind, die jedoch, man wird es sehen, auch den Ku Klux Klan samt seinen brennenden Kreuzen auf den Plan ruft …

Queen Latifah als die erste schwarze Oscar-Preisträgerin Hattie McDaniel. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Michelle Krusiec als die um ihre Hauptrolle betrogene Anna May Wong. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Laura Harrier als Leinwandschönheit Camille Washington. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Viel nackte Haut, hier die von David Corenswet als Jack Costello. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Namedropping ist bei einer Produktion wie dieser gleichsam Pflicht, Tallulah Bankhead, Vivien Leigh und Noël Coward haben Kurzauftritte bei einem von George Cukors Erotikdinnern, bei dem Jack und Archie als Fill-up-Boys im Einsatz sind, Ernie himself exklusiv als Entspannung für die hochneurotische Vivien, der oberintrigante Henry Rock an den Mann ist gleich Dick bringen will, Hollywood eine Männerwelt, in der man im Wortsinn die Hose runterlassen und bei der Stange bleiben muss – und das alles zum wunderbar swingenden Soundtrack von Ella Fritzgerald bis Frank Sinatra und Sets, die nur möglich sind, wenn Geld keine große Sache ist.

Michelle Krusiec spielt Anna Mae Wong, zu dieser Zeit die weltweit prominenteste Filmschauspielerin chinesischer Herkunft, die um die Hauptrolle in der Pearl-S.-Buck-Verfilmung „Die gute Erde“ betrogen wurde, weil MGM sicherheitshalber die weiße Luise Rainer besetzte – die prompt einen Oscar erhielt, Queen Latifah Camilles Mentorin Hattie McDaniel, die für die Rolle der braven Sklavin Mammy in „Vom Winde verweht“ als erste Schwarze einen Academy Award, den Nebendarstellerinnen-Oscar bekam, und auf diese Art Figuren festgelegt blieb.

Berührend ist die Szene, in der sie Camille erzählt, man hätte sie bei der Preisverleihung von den anderen Nominierten getrennt und an einen Tisch in der hintersten Reihe gesetzt, weshalb Camille entschieden auf den ihren in der ersten Reihe bestehen müsse. Tatsächlich war erst Whoopi Goldberg im Jahr 1991 die zweite afroamerikanische Nebendarstellerinnen-Oscar-Preisträgerin, 2002 Halle Berry die bisher einzige schwarze Oscar-Preisträgerin in der Hauptdarstellerinnen-Kategorie.

Backstage-Bangen: Patti LuPone, Dylan McDermott, Holland Taylor und Samara Weaving. Bild: Saeed Adyani /Netflix ©2020

Soviel zu #OscarsSoWhite, wiewohl das am britischen Theater schon längst übliche Colorblind Casting allmählich zumindest die Bildschirme erobert (siehe: Bridgerton, Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=43837). Im Gegensatz dazu wird sich in der schönen, heilen Flimmerwelt, in der die einzige maßgebliche Color die Technicolor ist, bereits im Vorspann gegenseitig den Hollywoodland-Schriftzug hochgeholfen, bis die Heldinnen und Helden mit einer Grandezza in den Sonnenaufgang blicken, die all das Behauptete wie wahr erscheinen lässt.

Murphy unterläuft das klassische, nach außen puritanisch-bigott-biedere, nach innen von Ressentiments beherrschte Hollywood optisch wie inhaltlich mit den Mitteln ebendieses klassischen Hollywoods. Das hat Charme. Die Serie, die mit ihrem kontrafaktischen Finale furios die Filmgeschichte umschreibt, hat deutlich mehr mit Tarantinos historisch freihändiger Hollywood-Fantasie zu tun als mit dem Harvey-Weinstein-Skandal. Sie ist, was die Traumfabrik im Idealfall immer schon war: erstklassige Unterhaltung. Mit Sprung im Spiegel.

Eine Staffel zwei ist möglich, Fans betteln in den Social Media geradezu darum. Zum Ende der ersten entwickelt Jim Parsons als Henry Willson, Spoiler: der Saulus wird zum Paulus und arbeitet sich zum Produzenten hoch, das Script einer Liebesromanze zwischen zwei Männern mit Rock Hudson in der Hauptrolle, dies Henrys Buße für seine Sünden am schönen Vierschröter – und Avis scheint nicht abgeneigt. Und wenn sie nicht gestorben sind, gewinnen sie zwar keinen Oscar, aber vielleicht einmal einen Emmy…

Trailer: www.youtube.com/watch?v=Q3EASLgzOcM            www.youtube.com/watch?v=W0WsEyqx0r4           www.netflix.com

FILMTIPP: The Boys in the Band

Jim Parsons und „Spock“ Zachary Quinto in der Broadway-Verfilmung

Tuc Watkins, Andrew Rannells, Matt Bomer, Jim Parsons, Zachary Quinto, Robin de Jesús, Brian Hutchison, Michael Benjamin Washington, Charlie Carver. Bild: S.E. White/Netflix ©2020

Und noch einmal Ryan Murphy, Joe Mantello – als Regisseur des Gay-Dramas – und Jim Parsons. „The Boys in the Band“ ist die Verfilmung des gleichnamigen Theaterstücks aus dem Jahr 1968 von Mart Crowley, für dessen Bildschirm-Variante Produzent Murphy versprach, ausschließlich die schwulen Schauspieler aus dem 2018er-Broadway-Revival zu besetzen. Es ist also New York in den 1960ern, und Michael, Jim Parsons, richtet für Harold, Zachary Quinto, eine

mitternächtliche Geburtstagsparty aus. Ein schönes Fest soll es werden, zu der Michael den gesamten Freundeskreis eingeladen hat: seinen Liebhaber Donald (Matt Bomer), den ob seines Lovers gelangweilten Larry (Andrew Rannells) mit Lebenspartner Hank (Tuc Watkins), den stilbewussten Chauvi Bernard (Michael Benjamin Washington) und den stets zu Scherzen aufgelegten Emory (Robin de Jesús). Anfangs ist die Stimmung ausgelassen, was sich liebt, das neckt sich, die Intellektuellen-Clique ist unter sich und genießt den Abend.

Jim Parsons mit de Jesús und Rannells. Bild: Scott Everett White /Netflix ©2020

Zachary Quinto mit Carver und de Jesús. Bild: Scott Everett White /Netflix ©2020

Dass der gutaussehende, jedoch kulturell weniger bewanderte Stricher Cowboy Tex (Charlie Carver), er ist Harolds Geschenk, nicht wirklich in die Runde passt, sorgt schon für erste zynische Kommentare. Problematisch wird es jedoch, als unangemeldet Alan (Brian Hutchison) auftaucht, ein früherer Kommilitone von Michael, der unbedingt mit ihm reden will und den Emory kurzerhand als homosexuell outet. Harold erscheint und hat für alle nur Gehässigkeiten übrig, doch dann verstrickt der beleidigt-betrunkene Michael seine Gäste in ein sadistisches Spiel: Jeder muss eine ehemalige heimliche Liebe anrufen, und dieser am Telefon ebendiese und seine Homosexualität gestehen. Und Essig ist’s mit der Feierlaune, die Situation eskaliert …

Wie in „The Boys in the Band“ gekeift, gelästert, gedemütigt wird, der Tonfall so giftig und untergriffig, das ist durchaus ein Vergnügen. Man merkt dem Cast an, dass er aufeinander eingespielt ist, alldieweil man sich fragt, warum die dargestellten Männer eigentlich miteinander befreundet sind. Auf Entgleisungen folgen Handgreif- lichkeiten folgt Selbsthass. Parsons und Quinto im Infight sind allemal ein Hit, nicht zuletzt, wenn Harold Michael auf den Kopf zusagt, dass der seine Homosexualität verabscheut und lieber ein Hetero wäre. Im Streit werden Geheimnisse gelüftet und unausgesprochene Gefühle offenbart, Hank trägt immer noch seinen Ehering, Bernard laboriert als „doppelte Minderheit“ an seiner Hautfarbe ebenso wie an seiner sexuellen Orientierung.

Wäre Michael lieber ein Hetero? Jim Parsons und Matt Bomer als Lover Donald. Bild: Scott Everett White /Netflix ©2020

Förmlich sieht man die alten Narben zu frischen Wunden aufreißen, und fantastisch gespielt ist die Hassliebe, die die das Kammerspiel dominierenden Michael und Harold von Jim Parsons und Zachary Quinto verbindet. An keiner Stelle weiß man, ob man die beiden von Herzen verabscheuen oder mit ihnen leiden soll. Abseits von #LGBTQ sind dies die universellen Themen: Freundschaft und dennoch die Lust an Verletzungen, das Verlangen nach Liebe und trotzdem das Zurückstoßen derer, die es tun, Worte und wie sie zu Stichwaffen werden. Kurz gesagt: „The Boys in the Band“ ist absolut sehenswert!

Trailer: www.youtube.com/watch?v=862Pb9oDDAo           www.youtube.com/watch?v=WAIQbHJ9sAk           www.netflix.com

  1. 1. 2021