Kino wie noch nie: Sechs Filme als Freiluft-Preview

Juni 21, 2022 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Leonard Cohen, Lady Diana und der Sundance-Hit

The Princess. Bild: © Polyfilm

Das wunderschöne „Kino wie noch nie“ öffnet in Kooperation mit der Viennale am 23. Juni wieder seine Pforten im Wiener Augarten für alle cinephilen Freiluftfreundinnen und -freunden. Polyfilm zeigt in diesem Rahmen sechs Filme als Preview – noch vor dem Kinostart im Herbst/Winter.

The Princess von Ed Perkins. Termine: 29.6. – 21.30 Uhr Augarten, 30.6. – 19.30 Uhr Metro

Zum 25. Todestag der Princess of Wales kommt mit „The Princess“ die ultimative Diana-Doku ins Kino, die als Sundance-Höhepunkt gefeiert wurde. Produziert vom Oscar-prämierten Team von „Searching for Sugarman“ erzählt der Film erstmals Dianas ganze Geschichte, mit noch nie gezeigten Archivaufnahmen. Es entsteht ein überraschendes und überwältigendes Bild einer Frau, die heute aktueller und moderner denn je erscheint.

Papicha von Mounia Meddour. Termine: 9. 7. – 21.30 Uhr Augarten, 10. 7. – 19.30 Uhr Metro

Algier in den 1990er-Jahren. Die 18-jährige Studentin Nedjma lebt im Studentenwohnheim und träumt davon, Modedesignerin zu werden. Nach Einbruch der Nacht schlüpft sie mit ihren besten Freundinnen durch den Zaun des Wohnheims, und geht in den Nachtclub, wo sie den „Papichas“, hübschen algerischen Mädchen, ihre Kreationen verkauft. Die politische und soziale Lage im Land verschlechtert sich zunehmend. Ungeachtet dieser Ausweglosigkeit beschließt Nedjma, für ihre Freiheit zu kämpfen, und veranstaltet eine Modenschau, mit der sie sich über alle Verbote hinwegsetzt. Die Geschichte ist inspiriert von den eigenen Erfahrungen der Regisseurin Mounia Meddour und ihrer vier Freundinnen, die alle von einem neuen Leben träumten.

Mein Wenn und Aber von Marko Doringer. Termine: 15. 7. – 21.30 Uhr Augarten, 16. 7. – 19.30 Uhr Metro

Um sich selbst zu verwirklichen, muss man erst mal wissen, was man will. „Mein Wenn und Aber“ ist ein bitter-süßer Beziehungsfilm über die Vereinbarkeit von Beruf und Liebe – und den täglichen Kampf ums Glück. Marko besucht Freunde, Kolleginnen und seine Eltern, um herauszufinden, wie sie mit dem fragilen Gefüge von Partnerschaft, Familie und Arbeit umgehen. Seine Generation ist hin- und hergerissen: Auf der einen Seite die Freude an der Arbeit. Auf der anderen Seite die Angst, dem Partner oder den Kindern nicht gerecht zu werden. Dazwischen der Wunsch, die Versäumnisse der eigenen Eltern nicht zu wiederholen. Gibt es ein Glücksrezept für ein gelungenes Leben? Einfühlsam, beharrlich und humorvoll erforscht Regisseur Marko Doringer die Gefühlswelt einer Generation, die um ihren Weg ringt. Damit kommt nach „Mein halbes Leben“ und „Nägel mit Köpfen“ der dritte Teil der österreichischen Kultserie ins Kino. Preview in Anwesenheit des Regisseurs.

Hive von Blerta Basholli. Termine: 17. 7. – 21.30 Uhr Augarten, 18. 7. – 19.30 Uhr Metro

Dieser starke Debütfilm wurde zum Sundance-Hit. Um ihre Familie zu versorgen, gründet Fahrije, Alleinerzieherin deren Mann im Kosovokrieg verschollen ist, ein kleines landwirtschaftliches Unternehmen. Zusammen mit anderen Frauen aus dem Dorf beginnt sie die Gemüsepaste Ajvar zu produzieren. Ihre Bemühungen, sich und andere Frauen zu stärken, werden in ihrem traditionellen, patriarchalischen Dorf nicht gern gesehen. Doch auch die Männer können ihren Erfolg nicht verhindern. Eine ermutigende Emanzipations-Geschichte über Frauensolidarität nach wahren Begebenheiten. Sundance Festival 2021: Publikumspreis, Beste Regie, Großer Preis der Jury.

Mona Lisa und der Blutmond: Tolles Comeback von Kate Hudson. Bild: © Polyfilm

Höhepunkt in Venedig: Hallelujah: Leonard Cohen, A Journey, A Song. Bild: © Polyfilm

Hive: Preisgekrönter Sundance-Hit. Bild: © Polyfilm

Aus Österreich: Mein Wenn und Aber. Bild: © Polyfilm

Hallelujah: Leonard Cohen, A Journey, A Song von Daniel Geller und Dayna Goldfine. Termine: 23. 7. – 21.30 Uhr Augarten, 24. 7. – 19.30 Uhr Metro

Ein Höhepunkt des Filmfestivals Venedig 2021: berührend, erhellend, witzig und musikalisch erhaben. „Hallelujah: Leonard Cohen, A Journey, A Song“ ist nach dem großen Kinoerfolg „Marianne & Leonard“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=35793) der zweite Dokumentarfilm innerhalb weniger Jahre, der sich mit Leonard Cohen beschäftigt. Der titelgebende Jahrhundersong, eines der am meisten gecoverten Lieder der Popgeschichte, ist das Prisma, durch das Leben und Werk des legendären kanadischen Musikpoeten erzählt wird. Von den Anfängen bis zu seinem letzten Auftritt.

Mona Lisa und der Blutmond von Ana L. Amirpour. Termine: 12. 8. – 21.00 Uhr Augarten, 13. 8. – 19.30 Uhr Metro

Eine seltsame junge Frau mit merkwürdigen Superkräften, eine alleinerziehende Stripperin – ein tolles Comeback von Kate Hudson – und ihr kleiner Sohn sind das liebenswerteste Trio dieses Freiluft-Kinosommers. Gemeinsam machen sie New Orleans unsicher und das macht richtig viel Spaß. Inspiriert von Abenteuerfilmen der 1980er-Jahre, kreiert die iranisch-amerikanische Regisseurin Ana Lily Amirpour nach ihrer Sensation „A Girl Walks Home Alone at Night“ erneut einen wuchtigen und überraschenden Film, der ziemlich einzigartig ist – und sehr cool.

Außerdem auf der großen Freiluftleinwand: Der Publikumshit

Abteil Nr. 6 von Juho Kuosmanen. Termine: 1. 7. – 21.30 Uhr Augarten, 2. 7. – 19.30 Uhr Metro

Der finnische Regisseur Juho Kuosmanen schickt zwei Außenseiter auf eine amüsante und zutiefst berührende Reise, auf der sie – ganz ohne Kitsch – mit der Wahrheit ihrer Gefühle konfrontiert werden. Nur wenige Menschen zieht es im Winter ins eisige Murmansk am nördlichen Polarkreis. Die schüchterne finnische Archäologie- studentin Laura aber ist fest entschlossen, die berühmten Felsenmalereien der Stadt zu besichtigen – eine unglückliche Romanze, die sie in Moskau hinter sich lässt, motiviert ihren Entschluss umso mehr. Die Aussicht auf eine beschauliche Eisenbahnfahrt zerschlägt sich als Laura ihren Mitreisenden im Abteil Nr. 6 kennenlernt:

 

Ljoha ist Bergarbeiter, trinkfest und laut, ein Typ, der keine Grenzen zu kennen scheint und Lauras schlichtweg ignoriert. Doch während der nächsten Tage ihrer gemeinsamen Reise müssen die ungleichen Passagiere auf engstem Raum miteinander auskommen lernen … Zum Sound von „Voyage Voyage“ nimmt Kuosmanen das Publikum mit auf eine atmosphärische Reise durch das winterliche Russland der späten 1990er-Jahre, auf der sich zwei Menschen über alle Kultur- und Klassengrenzen hinweg begegnen und näher kommen. Ein liebevoll raues, melancholisch-komisches Roadmovie auf Schienen, inspiriert durch den gleichnamigen Roman von Rosa Liksom (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=3148).

www.polyfilm.at          Das ganze Programm und Tickets: www.filmarchiv.at/news/kino-wie-noch-nie-2

21. 6. 2022

Hamakom: Roland Schimmelpfennigs „100 Songs“

September 28, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Das Happy End ist eine aufgefangene Kaffeetasse

Gottfried Neuner, Sofia Falzberger, Sören Kneidl, Ana Grigalashvili, Katharina von Harsdorf und Tobias Voigt mit der Toten-Statisterie. Bild: © Marcel Köhler

„Songs Of Love and Death“ hieß vor Jahren das Debütalbum der bombastischen Symphonic-Metal-Band Beyond the Black, und auch wenn deren Dämonentanz im Theater Nestroyhof Hamakom nicht vorkommt, so ist dieser Danse macabre doch exakt Form und Inhalt von Roland Schimmelpfennigs „100 Songs“. Nach dem gesundheitsbedingten Rückzug von Frederic Lion hat die nunmehrige künstlerische Gesamtleiterin des Hauses,

Regisseurin Ingrid Lang, den Text als österreichische Erstaufführung inszeniert. Also sprach Schimmelpfennig über Nietzsches Apokatastasis. Denn des Philosophen zyklisches Geschichtsbild vom verlorenen hin zu einem Zustand der „Allaussöhnung“ und Einheit aller Wesen, wird die kommenden zwei Stunden bestimmend sein – die Gottesfrage sowieso. Auftreten in Schimmelpfennigs szenischer Versuchsanordnung Sofia Falzberger, Ana Grigalashvili, Katharina von Harsdorf, Sören Kneidl, Gottfried Neuner und Tobias Voigt als vom Autor sogenannte „Gruppe von Frauen und Männern“. Beobachter, Boten, Betroffene, Passanten, Passagiere, gar Erzähler aus dem Totenreich? Ratlos sind sie, da alles „zu kompliziert“, „erschreckend einfach“, „erschreckend kompliziert“ scheint. „Zu weit weg von allem, was man denken kann.“

Schimmelpfennig hat sein Stück im Gedenken an die Madrider Zuganschläge verfasst, Ingrid Lang holt es nach dem Attentat vom 2. November 2020 nach Wien. Das Thema dieser Jukebox der kollektiven Erinnerung ist: der Terror. Die Sprachlosigkeit im Angesicht des Unsagbaren, das betretene Schweigen, die Fantasie des Theaters, über den Tod mit der prallen Wucht des Lebens zu berichten. Zug fährt ein, Trillerpfeife schrillt, im Radio läuft „Bette Davis Eyes“ von Kim Carnes, Sally, der Serviererin im Bahnhofscafé, fällt eine Kaffeetasse zu Boden – und dann: noch mehr Songs, von Iggy Pops „The Passenger“ über „Upside down“ von Diana Ross zur „Road to Nowhere“ der Talking Heads.

„Es war, als ob hunderte Songs gleichzeitig liefen, Tausende von Songs, Millionen, Milliarden“, sagt Tobias Voigt, er und das Ensemble der vielstimmige Chor eines Requiems, eine Pop-Kakophonie aus Liedern, in denen ein paar Minuten ein ganzes Leben besingen. Im zerrissenen Bühnenbild von Vincent Mesnaritsch entwerfen Schimmelpfennigs Figuren Biografien, Beziehungsprobleme, beiläufige tragikomische Tragödien in Endlosschleife, und dies so banal, dass es besonders ist. Immer wieder von Neuem rekapitulieren sie ihre Sehnsüchte und Schwächen während der Vor-Katastrophen-Frist von 8.51 und 8.55 Uhr. Vier Minuten, und die sogenannte Zivilisation in Flammen, und die Zeit ihre Protagonistin.

Eben noch war Gottfried Neuner der Mann am Fenster gegenüber den Gleisen, schon ist er ein Verletzter auf dem Bahnsteig. Sofia Falzberger singt im Wortsinn den Sirenen-Gesang. Zwischen der zutiefst gläubigen Stripperin/ Ana Grigalashvili, dem Mann aus Kabul/ Sören Kneidl, der Fremdgeherin/ Katharina von Harsdorf, dem Verwaltungsbeamten in den besten Jahren/ Sofia Falzberger und Tobias Voigt als 16-jähriger Friseur-Azubi mit Katie Melua in den Kopfhörern sind die Gendergrenzen gesprengt wie die Waggons. Die Atmosphäre ist: Gefangen im Bardo.

Bild: © Marcel Köhler

Bild: © Marcel Köhler

Bild: © Marcel Köhler

Bild: © Marcel Köhler

Schön die getanzt-gefightete Szene, in der das studentische Liebespaar mit dem in Trennung befindlichen Ehepaar korrespondiert. Eine Frau verpasst die Abfahrt um Sekunden. Was rettet einem das Leben? Der Zufall, die Suche nach den Allergietabletten, Zuspätkommen, die Schicksalsmelodie? Und wieder ist es 8.55 Uhr. Zerfetzte Kopfdialoge, Gedanken-Gänge, Spiegelungen und Selbstgespräche, Trillerpfeifen-Alarm, das Leben, weiß der empathische Soziologe Schimmelpfennig, ist stets nur ein Vielleicht. Gottfried Neuner als Pfarrer, der zum Begräbnis eines 6-Jährigen unterwegs ist, wird in den Raum stellen, ob Gottes An- oder Abwesenheit für den Menschen günstiger ist.

Neuner ist es auch, der die Pferdemetapher aufbringt, mit Sleipnir, Odins achtbeinigem Kampfross; Kneidl, „dunkelhäutig“ und mit Vollbart, liest über Buraq, ein Reittier mit Frauenantlitz, das der Erzengel Gabriel dem Propheten Mohammed für seine Himmelfahrt überbrachte; der Pfarrer sieht in den Wolken die apokalyptischen Reiter. Ist das rote Pferd der Krieg oder die Liebe, das schwarze mit der Waage die Teuerung oder die Gerechtigkeit? Das weiße jedenfalls Jesus Christus und das fahle der Tod … Schimmelpfennigs zwischen Traum und Traumata schwebende Auslassungen sind so surreal wie die Sinnfrage, wie das Sterben an sich.

Und immer noch ist in all den ans Publikum gerichteten Paradoxien nicht klar, wer aus dem Figurenreigen der/die SelbstmordattentäterIn sein mag. In Schimmelpfennigs brutaler, vom Ensemble mit Verve auf die Spielfläche gebrachter, galgenhumorig-poetischer Playlist, ist eine oder einer die Vorstellung des und der anderen. Macht. Erregung. Angst? Erregung. Macht. Angst! Diese Topografie des Allzu-Unmenschlichen, dazu die von den Österreich-Touristen Voigt und von Harsdorf brennend ausgebreitete Landkarte, könnte auch nur der Polt einer Profiler-Fernsehserie sein. Eine Totenreich-Statisterie stellt jene St.-Jakobs-Lichter auf, die vor zwei Jahren den Desider-Friedmann-Platz zum Mahnmal machten.

Im vollbesetzten Hamakom singen Sofia Falzberger, Ana Grigalashvili, Katharina von Harsdorf, Sören Kneidl, Gottfried Neuner und Tobias Voigt „Don’t Dream It’s Over“ von Crowded House, hey now, hey now, eine Polonaise wär‘ ein Superschluss, beschließt man: Und Erwin fasst der Heidi von hinten an die  … Schulter … Im letzten Moment fängt Gottfried Neuner als „Mann mit der Sporttasche“ die Katharina von Harsdorfs Sally entglittene Kaffeetasse – „gerade nochmal gutgegangen“ und Happy End! Oder? Sie werden einander nur durch zwei Glasscheiben begegnen. Splitter, Scherben, der tolldreiste Gesellschafts- ein grausiger Totentanz, die „100 Songs“, Schimmelpfennigs Wunschkonzert zum Weltuntergang, jedenfalls ein Sog auf diesem Verschiebebahnhof von Gestern, Heute und Morgen. Bis 29. Oktober. Eine Empfehlung.

www.hamakom.at

  1. 9. 2021

Als wir tanzten

September 2, 2020 in Film

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein queerer Liebesfilm mit sanfter Hoffnungsbotschaft

Und die Frage, wer hier wen liebt …: Bachi Valishvili als Irakli, Levan Gelbakhiani als Merab und Ana Javakishvili als Mari. Bild: Anka Gujabidze

Stolz und traditionsbewusst. Regisseur und Drehbuchautor Levan Akin braucht nur wenige Minuten, um sein Sittenbild einer fremden, einer befremdlichen Welt zu skizzieren. In der Akademie des georgischen Nationalballetts in Tiflis sind die Studentinnen und Studenten beim Training – und Lehrmeister Aleko kein Mann der vielen Worte. Merab tanzt mit Mari den Acharuli und verfehlt dabei, „gerade wie ein

Nagel“ zu sein. Außerdem sei sein Blick „zu neckisch“. „Der georgische Nationaltanz basiert auf Männlichkeit, im georgischen Tanz ist kein Platz für Schwäche“, befiehlt Aleko, und: „Im georgischen Nationaltanz gibt es keine Sexualität.“ Nun, für die schwedisch-georgische Koproduktion „Als wir tanzten“, die am Freitag in den heimischen Kinos anläuft, mag das nicht gelten. Der international gefeierte, in Georgien wild bekämpfte Film ist ein queerer Liebesfilm mit einer sanften Hoffnungsbotschaft; sein Schöpfer Levan Akin verbindet ein Tanzdrama mit einem Coming-of-Age mit einem Coming-Out, er erzählt mittels seines Protagonisten Merab die Geschichte einer Emanzipation aus verkrusteten, paternalistischen Strukturen.

Merabs Traum also ist es, einen fixen Platz im Ensemble zu bekommen. Von seiner Tanzpartnerin Mari, die beiden zusammengeschweißt seit sie zehn Jahre alt waren, eben noch ziemlich offensiv bemuttert und beflirtet, erfährt Merab plötzlich ernstzunehmende Konkurrenz von Neuzugang Irakli – bis sich die Rivalität der beiden in sexuelles Begehren und schließlich in eine verbotene Liebe verwandelt, die erste für Merab …

Levan Akin und Kamerafrau Lisabi Fridell verstehen es meisterlich, den eisernen Wind vergangener Sowjetzeiten, der in Georgien politisch betrachtet trotz aller „Fuck Russia“-Demonstrationen nach wie vor weht, den Ballett-Drill samt herausragender Tanzszenen, den stark kulturell aufgeladenen Patriotismus dieser Nation, die homophobe Stimmung im konservativen, von orthodoxen Dogmen durchtränkten Land mit einer universellen Love Story zu durchbrechen. Aus scheuen Blicken werden zarte Berührungen, von Fridell in goldenes Licht getaucht, doch dass dieses georgische „Brokeback Mountain“ gelingt, ist dem Paar Levan Gelbakhiani als Merab und Bachi Valishvili als Irakli zu danken.

Ersterer tatsächlich Mitglied der zeitgenössischen Ballettkompanie von Giorgi Aleksidse, zweiterer Schauspieler mit sieben Jahren Erfahrung im Nationaltanz, beide, wie sie im Interview sagen, zögerlich die Rollen wegen des homoerotischen Themas anzunehmen, die nun im intimen Spiel alles geben. Selten sieht man Liebesszenen von solcher Intensität bei gleichzeitig Unschuld.

Beim Training kommen sich Irakli und Merab näher: Bachi Valishvili und Levan Gelbakhiani. Bild: Lisabi Fridell

Die Clique rund um Mari, Merab und Irakli unterwegs in den Straßen von Tiflis. Bild: Lisabi Fridell

Im Landhaus von Maris Vater wird zu ABBA Disco getanzt. Bild: Lisabi Fridell

Die Hochzeit von David und Sopo: Giorgi Tsereteli und Ana Makharadze. Bild: Lisabi Fridell

Levan Gelbakhiani, nunmehr einer der European Shooting Stars der Berlinale 2020, gestaltet den Merab als sensiblen, feinnervigen Jüngling, der so gar nicht in seine grobe Umgebung passen will. Als etwa Mari ihn mit einem geborgten Kondom zum „ersten Mal“ auffordert, sind das Momente, in denen Gelbakhiani aus seinem Gesicht ein ganzes Alphabet an Emotionen ablesen lässt. Gelbakhiani brilliert, wenn er derart eine neue Form männlicher Verletzlichkeit auf die Leinwand bringt.

Bachi Valishvilis Irakli dagegen ist der vor Freude sprühende Macho, der wohlerzogene Charmebolzen, so scheint zumindest, was sich später als Tarnung gegen Schwulenschläger entpuppen wird, der die jungenhafte Rangelei um eine Zigarette für den Frontalangriff auf Merab nutzt. Valishvilis Ausstrahlung ist groß, der Sexualität, die es im Tanzsaal nicht geben darf, gibt er eine neue, eine paradoxe Dimension. Denn der weiche Merab und der starke Irakli werden auch als Tänzer, beim Khanjluri, ein Traumpaar.

Dass Tiflis realiter mehr als die dreieinhalbtausend Kilometer vom studentischen Sehnsuchtsort London entfernt ist, zeigt Levan Akin nicht nur an den ärmlichen Verhältnissen, in denen Merab mit Mutter und Großmutter lebt. Akin stellt Arbeitslosigkeit neben Ausweglosigkeit, den Leistungsdruck, der auf den Tanzenden lastet, neben wegen all dieser Dinge unausweichliche familiäre Konflikte. Diesen räumt „Als wir tanzten“ viel Platz ein, was immer wieder zu unerwarteten Storylines führt.

Im Ensemble wird überraschend ein Platz frei, weil ein Tänzer aus diesem gefeuert wird, nachdem seine Romanze mit einem Mann – und auch noch Armenier! – offenbar wurde. Später erfährt man, dass „Zaza“ nur blieb, sich als Stricher zu verkaufen. Merabs rebellischer Tunichtgut-Bruder David, den Giorgi Tsereteli mit sozusagen permanent geballten Fäusten spielt, wird erst zum Kleinkriminellen, damit der Familie der Strom wieder eingeschaltet wird, und später zum Hochzeiter, als er Maris Freundin Sopo schwängert – womit deren Tanzkarriereträume beendet sind.

Akin zeigt das im Untergrund gedeihende regenbogenfarbene Tiflis, Schwulenclubs, in denen zu Techno abgetanzt wird, wobei sich erweisen wird, dass das Partyleben nicht zum Training passt, zeigt die Georgier als pathetisch-poetischen Menschenschlag, der sich im Männergesang übt, während die Jugend zu ABBA ausflippt. Zeigt, wie Braut Sopo mit den Frauen in einem Zimmer tanzt, während sich der Bräutigam im anderen Zimmer prügelt – typisch möchte man da sagen, doch David rauft sich wegen Merab, den ein Mitschüler als „Schwuchtel“ beschimpft hat – und Merab muss zugeben, dass er recht hat …

Der Moment der Wahrheit beim Vortanzen für das Georgische Nationalballett: Levan Gelbakhiani als Merab. Bild: Edition Salzgeber

„Als wir tanzten“ wurde vergangenes Jahr in Cannes gefeiert und seither rund um den Globus ausgezeichnet. In Georgien waren die Reaktionen kontroverser. Sowohl die Dreharbeiten als auch die Filmpremiere fanden unter Todesdrohungen und ergo unter Polizeischutz statt. Die Georgische Orthodoxe Kirche sowie einige rechtsextreme Gruppen hatten den Film öffentlich verurteilt und angekündigt,

die Kinobesucherinnen und -besucher vom Eintritt abhalten zu wollen. Die Kirche bezeichnete den Film in einer offiziellen Stellungnahme als „Popularisierung von Sodomitenbeziehungen“ und als „großen Angriff auf die Kirche und die nationalen Werte“. Die rechtsextreme Gruppe „Georgian March“ hatte in einer Pressekonferenz mitgeteilt, einen „Korridor der Schande“ bilden zu wollen. Am Tag der Uraufführung hielten sie homophobe Reden, verbrannten eine Regenbogenflagge und zeigten Plakate wie „Stoppt LGBT-Propaganda in Georgien“ und „Homosexualität ist Sünde und Krankheit“, die Polizei wurde mit Feuerwerkskörpern angegriffen.

Auf derlei Aktionen begründet sich der Film, so Levan Akin im Interview: „2013 wurde ich Zeuge, wie eine Gruppe von mutigen jungen Menschen in Tiflis versuchte, eine Pride Parade zu veranstalten. Sie wurden jedoch von Tausenden Teilnehmern einer Gegendemonstration attackiert, organisiert von der Orthodoxen Christlichen Kirche. Da wusste ich, dass ich mich diesem Thema in irgendeiner Weise widmen muss.“ Offiziell ist Homosexualität in Georgien nicht illegal.

Am Ende von „Als wir tanzten“ spielt Levan Akin mit der georgischen Gesellschaft, deren Nationaltänze zu Sowjetzeiten zweifellos etwas Widerständiges hatten, denen im Film aber zunehmend der traditionalistische Ursprungsglaube entzogen wird, ein doppeltes Spiel. Er lässt Irakli in einer Flut an familiärer Verantwortung, Furcht vor Entdeckung und dem Zwang, Geld zu verdienen, buchstäblich ertrinken. In einem Geschwistergespräch erhält Merab von David das brüderliche Ein/Verständnis für seine Homosexualität samt dem Rat, schleunigst aus Georgien abzuhauen. Und so tritt Merab zum Vortanzen an.

Mit einem neuen Stil, einer Männlichkeit, die das Martialische nicht braucht, mit einer eleganten Energie, die das Rituelle der Bewegungen aufweicht. Mit Aufruhr im Blick und Revolution in jeder Geste. Wie Merab die klassischen Schritte ganz anders interpretiert, wird, so kann gemutmaßt werden, seine Karriere im Nationalballett zerstört, zugleich aber fliegt er damit in seine Freiheit.

Interview mit Levan Akin und Levan Gelbakhiani: www.youtube.com/watch?v=h0HY-NmnoUU           www.youtube.com/watch?v=2dEM1w629Ts           www.facebook.com/andthenwedanced

2. 9. 2020

Odeon – Serapions Ensemble: Lamento Allegro

Januar 4, 2020 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Ein Tanz um den gestohlenen Esel

Der Oasenmann ist mit Ehefrau und Esel unterwegs ins Niltal, um seine Waren zu verkaufen: Elvis Grezda und Sandra Rato da Trindade. Bild: © Odeon/S. Smidt

Ohnedies ist alles Interpretation und Assoziation. So soll’s auch mit der Szene sein, in der sich Julio Cesar Manfugás Foster an eine in schlammbraune Arbeitskittel gewandete Beamtenschar wendet. Eine nach dem anderen stolpern sie hinter ihrem Schalter hervor, immer mehr werden sie, mit gurkenglasdicken Brillen, schlampig gebundenen Krawatten, diversen Ticks – jedes Zucken ein Verneinen der Zuständigkeit, jede Gebärde eine „Mich geht das nichts an“-Geste.

Es wird Aufstellung genommen, Ähnlichkeiten mit nächstens zu sehenden Angelobungsbilder sind …, im Lärm der Bürokratie geht die Beschwerde des Bürgers, oder weist ihn die Hautfarbe antizipativ als Nichthiesigen aus?, unter. Man hört nur zwei seiner Worte: „Wasser … Essen …“ Weit hergeholt? Stimmt. „Klagen des Bauern“ oder „Der redekundige Oasenmann“ ist ein mittelägyptisches Literaturwerk. Darin wird ein Niedriggestellter auf seinem Weg ins Niltal, wo er seine Waren verkaufen will, von einem leibeigenen Pächter seiner gesamten Habe beraubt. Worauf er sich an dessen Besitzer, den Obervermögensverwalter des Pharaos, der sich wiederum an seine Räte, später an den Pharao höchstselbst wendet.

Doch Gerechtigkeit widerfährt dem Bauern nicht. In neun Klagereden fordert er diese nun für sich ein, wird dafür verprügelt und vom untertänigen Volk sogar mit dem Tode bedroht. Der göttliche Herrscher allerdings lässt die Reden heimlich schriftlich festhalten, denn er ist seit Langem auf der Suche nach einem begnadeten Geschichtenerzähler … „Lamento Allegro“ nennt das Serapions Ensemble seine unter der Leitung von Max Kaufmann, Mario Mattiazzo und Erwin Piplits entstandene Inszenierung des Stoffs, deren Wiederaufnahme im Odeon Theater mit dem Jahreswechsel geschehen ist. Eine Parabel, so das Programmheft, über jene dicke Decke, die sich die Demokratie seit der attischen übergeworfen hat, um derart die Ungleichbehandlung von Staatsvolk und Zugezogenen, heißt: die wahre Macht der Archonten und Demagogen, Apparat die einen, System die anderen, zu tarnen.

In seine bewährt poetischen Bilder packt das Serapions Ensemble auch diesen kollektiven Theaterzauber. Ein Esel, mittels Fahrradgestell zum Laufen gebracht, ein Thespiskarren mit vielfältig nutzbarer Transportkiste, zwei Laufbänder und ein alter Filmprojektor – das sind jene Requisiten, um die herum die neue Kreation aus Schauspiel, Gesang, Tanz und bildnerischen Elementen komponiert ist. Julio Cesar Manfugás Foster, José Antonio Rey Garcia, Elvis Grezda, Ana Grigalashvili, Mercedes Miriam Vargas Iribar, Miriam Mercedes Vargas Iribar, Zsuzsanna Enikö Iszlay, Mario Mattiazzo, Gerwich Rozmyslowski und Sandra Rato da Trindade gestalten den 90-minütigen Abend.

Thespiskarren ohne Tier: Julio Cesar Manfugás Foster mit Rey Garcia, Vargas Iribar, Rozmyslowski, Grigalashvili und Iszlay. Bild: © Odeon/S. Smidt

Wütende Menge: José Antonio Rey Garcia, Julio Cesar Manfugás Foster, Mercedes Miriam Vargas Iribar, Gerwich Rozmyslowski, Ana Grigalashvili und Mario Mattiazzo. Bild: © Odeon/Helmut Krbec

Die Räte kommen zwar aus ihrer Zauberkiste, doch …: Ana Grigalashvili und Elvis Grezda. Bild: © Odeon

… sind mit der Frage überfordert: Ana Grigalashvili, Vargas Iribar, Rato da Trindade und Iszlay. Bild: © Odeon/Helmut Krbec

Die belämmerte Beamtenschar: Grezda, Rozmyslowski,  Mattiazzo, Rey Garcia, Iszlay, Rato da Trindade, Grigalashvili, Vargas Iribar. Bild: © Odeon/S. Smidt

Die Krawatte wird als Würgehalsband gebraucht: Grezda, Rozmyslowski, Vargas Iribar, Rato da Trindade und Iszlay. Bild: © Odeon/Helmut Krbec

Wobei jeder mehrere Figuren verkörpert, Sandra Rato da Trindade und Elvis Grezda als Bauersleute beginnen den Reigen, sie in safrangelbem Kaftan, er in lindgrünem, und wie die Kostüme – sie noch aus den Beständen von Ulrike Kaufmann – von Spieler zu Spielerin weitergereicht werden, José Antonio Rey Garcia und Zsuzsanna Enikö Iszlay, Mario Mattiazzo, Mercedes und Miriam Vargas Iribar, macht deutlich wer nun als Chui-ni-Anup nebst Gattin unterwegs ist. Knapp nach Weihnachten erinnern die beiden an die Legende von Marias kleinem Esel, das Schwingen dreier Seile markiert den reißenden Fluss, den es zu durchqueren gilt, dann ein Wandteppich aus Wüste, Wind, Unwetter.

Dass Julio Cesar Manfugás Foster mit seiner vazierenden Truppe den Thespiskarren nicht länger allein ziehen will, mag – siehe Subventionssituation – als selbstironisches Augenzwinkern gedeutet werden, jedenfalls wird das Grautier gestohlen. Es bleibt der Imaginationskraft jedes einzelnen überlassen, in die folgenden Choreografien einen roten Faden einzuweben, die Strahlkraft der Aufführung versteht es, Fantasiebegabte aller Ausbildungsgrade für sich einzunehmen. Mit einem Maskenmix von Commedia dell’arte bis Mad Max, mit Musik von Goran Bregović, Philipp Glass, Meredith Monk, Mohammad Reza Mortazavi bis Richard Wagner.

Gesprochen, gesungen wird in vielen Ensemblesprachen, Gerwich Rozmyslowski führt, als die Reihe an ihm ist, seine Beschwerde auf Wienerisch. „Zu wem kann ich heute reden?“, das Gebet um Gerechtigkeit, wird zur Anklage, wird kämpferisch circensisch, wird zu einem resignativen „Wozu soll ich noch reden?“. Ein per Hoverboard schwebender Trenchcoat-/Würdenträger befragt die Räte, dies einer der skurril-schönsten Momente, wenn die vielarmige, verschlafene Obrigkeit, an der Spitze Ana Grigalashvili, aus der Kiste tritt, und unterm sich selbst eingeflüsterten Motto „Sag‘ kein Wort!“ mehr und mehr ins Taumeln gerät.

Der redekundige Oasenmann wird von Pharaos Stoffsäulen eingewickelt: Elvis Grezda, Ana Grigalashvili und Mercedes Miriam Vargas Iribar. Bild: © Odeon/Helmut Krbec

Die Dramatik des Visuellen, die wunderbar berührende Grausamkeit des Ganzen, wird um Textzitate erweitert, vom „Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba“ aus dem Papyrus Berlin 3024 bis zum Gedicht „Die Freiheit ist schrecklich“ von Ali Podrimja. Freiheit, sagt das Serapions Ensemble damit, ist Verantwortung, und nur der eigenverantwortliche Mensch kann eine diesem würdige, lebenswerte Gesellschaft bilden. In der eine ethische Grundhaltung jedem einzelnen

inne ist, ohne dass ihn Gesetze dazu zwingen. Eigeninitiative ist das Credo zur Stunde. Die Darsteller tanzen nach Haka-Art. Das abschließende, überwältigende Bild: Aus sich drehenden Stoffzylindern wird ein Säulenpalast, der zusammen mit den historischen Kolonnaden der einstigen Getreidebörse ein monumentales Gesamtkunstwerk ergibt. Und während im Thronsaal des Pharaos dessen Untertanen am Schlips wie am Würgehalsband geführt werden, fallen die Stoffe und umschlingen den Bauern. Steht er da als königlich gekleideter Auserwählter oder als ein seinem Gebieter Ausgelieferter?

Die Gedankenwelt des Bauern und die allzu menschliche Universalgeschichte verschwimmen.  „Auf dem Rücken der Schildkröte / ein jedes Ding war schrecklich / auch die Freiheit“, rezitiert Grezda, nun wieder Oasenmann, Ali Podrimja. Da erkennt man erst, was das Auge bereits vorher beobachtet hat: Je mehr sich der Beraubte in seinen Klagen mit dem Diebstahl beschäftigt, desto mehr beraubt er sich der Freiheit. Das ist der Preis fürs Recht bekommen, für Privilegien und Reichtum aus der Hand der Machthaber. Sehr eindrucksvoll verschwindet zum Schluss die Frau erst durch die, dann auf der Filmleinwand, und mit ihr der Esel – mutmaßlich ins wahrhaft Freisein. Tosender Applaus für diese absolut staunenswerte Produktion.

Trailer: www.youtube.com/watch?v=zn4NvfvbFRs&feature=youtu.be           vimeo.com/330207813           www.odeon-theater.at

  1. 1. 2020

Theater Nestroyhof Hamakom: Der letzte Mensch

Oktober 9, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Selbstverdauung als positivstes Zukunftsszenario

Erinnerungsarbeit mit alten Fotos: Theresa Martini, Ana Grigalashvili und Daria Ivanova sind drei Mal die Protagonistin Liv van der Meer:. Bild: © Alina Amman

Vorstellung for Future, das ist im doppelten Wortsinn, heißt: Fantasie wie Aufführung, der Leitgedanke mit dem das Theater Nestroyhof Hamakom gestern in die Jubiläumssaison zu seinem zehnjährigen Bestehen startete. Uraufgeführt wurde Philipp Weiss‘ Stück „Der letzte Mensch“, Weiss bekannt als der Autor, der vergangenen Herbst mit tausend auf fünf Bände verteilten Seiten seinen Debütroman vorlegte: „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“.

Ein literarischer Größenwahn auf höchstem Niveau, der vom Feuilleton gehypt zum Sensationserfolg avancierte. Weiss‘ Ansinnen, sich nun mit einem auf ferne Zukünfte gerichteten Text, das Thema der Gegenwart vorzunehmen, ist ein hehres, soll doch der Klimawandel, der besorgte Bürger allüberall um- und auf die Straße treibt, endlich auf der Bühne verhandelt werden. Allein, der Wille steht fürs Werk. Weiss‘ neuerlicher Ausflug ins Dramatische – nach „Ein schöner Hase ist meistens der Einzellne“ 2013 (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=8475) – ist kein großer Wurf. Immerhin: „Der letzte Mensch“ ist eine Frau in dreifacher schauspielerischer Ausführung, die Figur Liv van der Meer, für die ihr Schöpfer drei hypothetische Verläufe des 21. Jahrhunderts und innerhalb dieser Paralleluniversen drei mögliche Leben erdacht hat.

„Sie treibt im Kollaps-Szenario auf einem aus Müll zusammengeflickten Floß unter der glühenden Sonne des Nordpolarmeers. Sie driftet im Transzendenz-Szenario in einer technisch transformierten Welt durch den Asteroidengürtel des Sonnensystems. Zuletzt schwimmt Liv im Utopie-Szenario in der Tiefsee – als ein Hybrid aus Mensch, Maschine, Koralle und Oktopus – und widmet sich der Heilung auf den Trümmern einer geschundenen Welt“, heißt es dazu im Programmheft. Tatsächlich aber ängstigt einen auch die letzte Fiktion als eine dystopische, wird schließlich als positivste Vision und ergo letzte Chance auf Selbstrettung die Selbstverdauung ausgewiesen …

„Der letzte Mensch“ ist eine verquaste, quasselige Cli-Fi-Story, die sich höflich enigmatisch nennen ließe, weil das als Synonym fürs durchs Nebulöse irrende Nichtauskennen immer gut kommt. Neben der Schilderung von Tentakelsex in der Tiefsee, spricht aus dem Off ein Androide, der einzige „Mann“ im Ganzen, während sich die Darstellerinnen mal Chimäre, mal Kinder der Nemesis nennen, mal Zwiegespräche mit inneren Stimmen, mal miteinander führen. Das alles ist so futuristisch wie das Futur II, das Weiss für seine Szenenabfolge verwendet, „Was wird einmal gewesen sein?“, so klinisch-kühl, so steril, dass Emotion und Empathie gar nicht erst aufkommen. Dies sehr zum Schaden einer publikum’schen Betroffenheit über die Weltlage, denn wo kein Gefühl, da auch kein Mitgefühl.

Auf den Trümmern einer geschundenen Welt: Theresa Martini, Ana Grigalashvili und Daria Ivanova. Bild: © Alina Amman

Ana Grigalashvili schwebt als Astronautin in der Schwerelosigkeit. Bild: © Marcella Ruiz Cruz

Der Glücksstrahl an der Sache ist die Inszenierung von Ingrid Lang, die mit viel Feinsinn für Weiss‘ Fantastik an das Stück herangeht, und mit enormer Einbildungskraft diese Arbeit stemmt – indem sie die gedämpfte Stimmung, die fast schon bleierne Schwere des Abends mit ein paar gezielt platzierten Ideen wie Unterwasservideos der nackten Liv, hypnotischen Bildern vom Kampf mit dem Element, oder einem Spiegel, in dem „Schwerelosigkeit“ stattfinden kann, bricht. Komparsen mit Papiertierköpfen erscheinen, ein schwarzer Projektionsquader wird durch eine Änderung des Lichts durchlässig und entpuppt sich als Spielfläche, alte Fotos fallen von oben auf die Zuschauer herab.

Da sind Weiss und Hamakom-Co-Direktorin Lang bei der Erinnerungspflege, der sich das Theater verschrieben hat, wenn Livᶟ von einer Inhaftierung im Lager berichtet, von Todeszonen und Gewaltakten von Herrenmenschen, vom Einsatz von Giftgas und von Pogromen. Zum ersten Jahrzehnt Hamakom erweitert das Haus seine Perspektive von den immer noch schwärenden Traumata der Vergangenheit zu möglicherweise bevorstehenden, denn ohne Behandlung der ersteren, kein Abwenden der zweiten.

Livs Dasein in der Klimaapokalypse, später ihre Maschinenträume von der technologischen Selbstüberwindung, am Ende ihre Metamorphose zu einem neu zu definierenden Wesen gestalten Theresa Martini, Ana Grigalashvili und Daria Ivanova, Martini dabei die Frau vom Meer, stark bis zum Schluss, ein noch im Sterben selbstbestimmtes Individuum, Ivanova danach das symbiontische Flechtwerk, ein Hybrid von hohem Alter, der keinen sozialen Sinn mehr kennt. Wie sie unter Zuckungen zu diesem Meeresriesen evolviert, wird nur übertroffen von Ana Grigalashvili als einer Art Astronauten-Liv.

Liv wird zum Hybrid aus Mensch, Maschine, Koralle und Oktopus: Daria Ivanova. Bild: © Alina Amman

Allein auf dem Nordpolarmeer: Theresa Martinis Liv ist ein starkes, selbstbestimmtes Individuum. Bild: © Alina Amman

Die in Georgien geborene Künstlerin ist ausgebildete Tänzerin, und das merkt man ihrer Performance an, wenn sie sich, auf einem schwarz glänzenden Podium liegend, in aberwitzige Körperpositionen bringt, die von einem Deckenspiegel zurückgeworfen wirken, als würde sie wirklich durchs All gleiten. Wenn am Ende das Oktopodenallerlei eine Rede ans globale Parlament hält, kommen die Sätze von einem blechernen Lautsprecherorgan, zu dessen Playback die Schauspielerinnen nur die Lippen bewegen. Die auffordernde Botschaft: „Wir können etwas verändern. Zusammen. Und es geschieht. Heute. Jetzt.“

So nimmt Weiss sein stoisches „praemeditatio malorum“ doch noch raus aus seinen Überlegungen. In Summe aber ist dies Durchspielen von Worst-Case-Szenarien zu wenig atmosphärisch, zu wenig beseelt, um sich zum Stimmungsbarometer der allgemeinen Wetterlage zu machen. Weniger Hirnakrobatik, mehr Herzenswärme hätte diesem After-Endzeit-Drama nicht geschadet.

TIPP: Mit einem umfangreichen Begleitprogramm rund um „Der letzte Mensch“ widmet sich das Theater Nestroyhof Hamakom von 13. bis 27. Oktober in Zukunftsgesprächen den Folgen des Klimawandels, Exodusgelüsten der Menschheit ins Posthumane sowie der Möglichkeit einer technologischen Transformation. Autor Philipp Weiss diskutiert mit jeweils einer Expertin. Am 22. Oktober liest Weiss aus seinem Roman „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“.

Mehr dazu: www.youtube.com/watch?v=V9uKyPRkTJ4           www.hamakom.at           www.philippweiss.at

  1. 10. 2019