Theater in der Josefstadt: Anna Karenina

September 2, 2022 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER-MEHMOOD

Unterkühlte Erotik auf dem Eislaufplatz

Der Josefstädter Eislaufverein: Alexandra Krismer, Alexander Absenger, Alma Hasun, Claudius von Stolzmann und Silvia Meisterle. Bild: © Moritz Schell

Zum Auftakt der Wiener Theatersaison hat Regisseurin Amélie Niermeyer, die 2019 mit ihren Ideen zu Tschechows „Kirschgarten“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=36654) am Haus so großartig reüssierte, fürs Theater in der Josefstadt „Anna Karenina“ inszeniert – immerhin mit dem Vermerk „nach Leo Tolstoi“, in einer Fassung von Armin Petras, die Niermeyer um ihr spannend erscheinende Aspekte aus

dem 1000-Seiten-Weltliteratur-Wälzer ergänzte. Das Ergebnis, bei der gestrigen Premiere präsentiert, ist … so lala, oder positiver formuliert: Ein Abend, auf den man sich einlassen wollen muss, doch selbst wenn’s wie hier am guten Willen nicht fehlte, sind die drei Stunden Spieldauer sehr lang. Längen die gar nicht notwendig wären, würde Niermeyer auf mehr Energie und weniger elegische Überdehnung der Szenen setzen. Das Ensemble dafür hätte sie allemal an der Hand, nur dass dieses im auch schon überstrapazierten Mix aus Dialog/direkter Rede, innerem Monolog und epischem Erzählton in der dritten Person in seltenen Momenten zum Spielen kommt.

Eine Kunst ist es jedenfalls, Tolstois 29-köpfiges Gesellschaftspanorama auf ein Acht-Personen-Kammerspiel zu reduzieren. Niermeyer konzentriert sich auf die Beziehungen zwischen Anna Karenina, Alexej Karenin und Alexej Wronski, den die Aberkennung der Offizierswürde zum hauptberuflichen Erben mit Rich-Kid-Anwandlungen degradiert, Stepan und Dascha Oblonskij, die beiden alles andere als ein Fürstenpaar, sondern biedere Mittelstandspleitiers, sowie Daschas Schwester Kitty mit Verehrer Kostja Ljewin.

Letzteren hat Niermeyer als ihren Spokesman deutlich aufgewertet, der Sozialrevolutionär ist es, der sich über „Das Kapital“-Themen wie Neuordnung von Besitzverhältnissen und Gerechtigkeit für die Arbeiterklasse auslassen darf, ein ewig Zweifelnder und unablässig Sinnsuchender, wobei ihm Niermeyer laut Programmheft-Interview gleich auch noch die CoV19-Pandemie samt nihilistischen Todesfantasien und Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine zum Theoretisieren mit auf den Weg gibt. Dass ausgerechnet dieser Gutsbesitzer Lewin mit seinen Plänen zur Reformierung der Landwirtschaft an der Trägheit des Bauernstands scheitert, mag als Fingerzeig auf bevorstehende Wahlen gedeutet werden.

„Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Weise.“ Mit diesem ersten Satz Tolstois beginnt auch Niermeyer, der Text läuft über einen semitransparenten Vorhang, bis der sich hebt und man sich auf einem Eislaufplatz wiederfindet. Auf diesem – wie sich bald herausstellen wird – dünnen Eis dreht der Josefstädter Schlittschuhverein seine Kreise: Alexander Absenger als depressiv-tollpatschiger Philosoph Lewin, der sich von Alma Hasuns exaltierter Hyper-Hyper-Kitty einen Korb holt, weil die Eisprinzessin den Wronski liebt, Claudius von Stolzmann, der sich mit einer Pirouetten-Drehung aus der Dreier-Situation nimmt, nur um jetzt mit einem Doppeldreier aufzukommen: Anna Karenina, die auf dem Bahnsteig steht.

Silvia Meisterle, Cornelius Bruckmann, Raphael von Bargen. Bild: © M. Schell

Silvia Meisterle und Claudius von Stolzmann. Bild: © Moritz Schell

Silvia Meisterle und Claudius von Stolzmann. Bild: © Moritz Schell

Als diese zeigt Silvia Meisterle eine ihrer besten Leistungen bisher, ihre Karenina ist modern, mondän, ausgestattet mit der zynisch-unterkühlten Erotik einer Femme fatale. Mit ihrem Trolley könnte sie glatt als Businessfrau anno 21. Jahrhundert durchgehen, längst hat sie an Karenins Seite gelernt ihre Emotionen auf Eis zu legen, und dann ist da plötzlich einer, der das Eis crushen will. Diese Anna ist mehr Schwester von Nora oder Hedda Gabler als eine der Russinnen ihrer Zeit. Zu dieser Anna passt, dass Niermeyer unter Verwendung der Neuübersetzung von Rosemarie Tietze den Frauenfiguren Textpassagen, die im Original von Männern gesprochen werden, von ihr so genannte „inhaltlich relevante Passagen“ zuschreibt.

Zu den zeitgenössischen Outfits von Christian Schmidt hat Bühnenbildnerin Stefanie Seitz in Rechtecke unterteilte Wände erdacht, die verschiedenfarbig beleuchtet werden können, mitunter lässt sich ein häuslicher Wolkenstore gleich Gitterstäben herunter  – und um Rilkes Poem über Selbstentfremdung und Im-Kreise-Gehen zu bemühen: „hinter tausend Stäben keine Welt“. Auf der Bühne steht außerdem ein für Loops an einen Laptop angeschlossenes Keyboard, an dem Kitty die anderen mit ihren „Kompositionen“ quält, Imre Lichtenberger Bozokis eigens für die Aufführung geschaffene Musik erklingt, oder auch mal „Rasputin“ von Boney M., Schostakowitsch und Chick Coreas „Childrens’s Song No.6“ – gespielt von Raphael von Bargen als berührend gequältem Karenin.

Auch diesen hat Niermeyer in ein interpretatorisch neues Gewand gehüllt, der Charakter oft als spießiger und engstirniger Aktenvernichter gelesen, ist bei ihr ein sympathischer, dessen fatale „Sünde“ es ist, zu lange zuzuwarten: „Durchdenken, entscheiden, ad acta legen“, auch dieses Motto eines Staatsdieners hochaktuell. Doch lässt er sich erst noch von Sohn Serjoscha, Cornelius Bruckmann, im Holzschwerter-Duell auf lustigeste Art besiegen, lässt er alsbald seinen Frust an dem Buben aus, der daraufhin zum seelischen Krüppel mutiert, während der Vater am Sorgerechtsstreit zerbricht. Ach ja, die russischen Neurosenkriege!

Alexandra Krismer und Alma Hasun. Bild: © Moritz Schell

Alexander Absenger und Alma Hasun. Bild: © Moritz Schell

Robert Joseph Bartl als „Tanzmeister“. Bild: © Moritz Schell

Auch Kittys Unglücksball findet als Holiday on Ice statt, zu „Stepan“ Robert Joseph Bartls Anweisungen als „Tanzmeister“ wird sich zur Quadrille in Pose geworfen. Bartl kommt die Aufgabe als fröhlichem Hedonisten zu, der um sein Ablaufdatum weiß. Stepan ist einer, der den unfairen Bonus und die Privilegien seiner gewichtigen Position mit Vergnügen und ohne Skrupel genießen will, und glaubhaft erzählt Alexandra Krismer von einer Frau, Dascha, die einzig wegen der sechs Kinder beim notorischen Fremdgeher und gleichzeitigem Pantoffelheld bleibt, und seit langem an ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter ver-/zweifelt.

Das alles wird mehr geschildert denn gespielt. Das große Problem des Abends ist, man hört, aber man fühlt nicht. Weder, dass Anna wie angesagt zum ersten Mal Liebe, Lust und Leidenschaft erfährt, ihr Inneres scheint kalt und leer bis zum bitteren Ende, noch dass mit Wronski endlich befriedigender Sex im Spiel ist – trotz nackter Umarmung. Dass Claudius von Stolzmann Umberto Tozzis „Gloria“ zu einem Karaoke-„Anna Wronskaja“ umdichtet, wird zwar mit Szenenapplaus bedacht, aber bitte wieso wird diese Figur mit allerlei Schnickschnack so verjuxt? Warum sich Anna und Wronski am Schluss bis aufs Blut entzweien, es geschieht so unvermittelt, dass es schleierhaft bleibt. Okay, er hat die Allüren dieser Frau endgültig satt, aber war da zwischen zwei Buchdeckeln nicht noch mehr Inhalt? So bleibt Annas Selbstzerstörungstrip im Eisenbahndampf nebulös.

In den zweifellos unterhaltsamen Passagen (Lewin wirft Heuballen auf die Bühne, dazu Quieken und Muhen im Stall Schwein und Kuh; später fragt Wronski im Wohnsalon irritiert: „Was machen eigentlich diese Heuballen hier?“) zerfasert die Inszenierung nach der Pause auch ästhetisch in zwei Teile: Plötzlich Videozuspielungen von Annas und Wronskis Europatrip, oligarchischer Großeinkauf von Kunst, Meisterles hysterisches Lachen eine Schmierenkomödie für von Stolzmann, ein Palais in Venedig, das nach erster Euphorie über die Kronleuchter – der der Josefstadt senkt sich – schnell als modrig stinkend wahrgenommen wird. (Der Anna traumatisierende Tod der gemeinsamen Tochter Annie ist weniger als eine Fußnote.) Also zurück: Nach Moskau! Nach Moskau! In die Gefühlskälte. Wo Anna wiederum via Video von Spukbildern Karenins, Wronkis und Serjoschas heimgesucht wird. Der Pas de deux auf Kufen ist ausgetanzt.

Dieser zweite Teil, wiewohl besser als der langatmige erste, zeigt: Es fehlt dem Ganzen an Stringenz und einheitlicher Linie. Man versteht Niermeyers Intentionen bezüglich Zeitlosigkeit, betreffs schneidend klar wie Firn, aber der große Zusammenhang, der große Wurf gelingt ihr mit dieser frostigen Regiearbeit nicht. Vielmehr verheddert sich Niermeyer auf ihrer Suche nach einer so aktuellen wie allgemeingültigen Aussage in den „Liebesg’schichten und Heiratssachen“ statt aus Tolstois Meisterwerk eine wirkmächtige Essenz zu destillieren. In der Josefstadt kommt nach dem unvermeidlichen Zug noch der große Regen. Auch im Roman wird nach Annas Freitod 80 Seiten lang das Weiterleben der anderen beleuchtet: Kitty und Lewin lassen ihren Sohn Mitja taufen. Und trotz des schweren Gewitters schließt Kitty mit dem Satz: „Überhaupt war der ganze Tag so angenehm.“ Tja, man soll den Tag nicht vor dem Abend loben …

www.josefstadt.org

  1. 9. 2022

Seefestspiele Mörbisch: Der König und ich

Juli 27, 2022 in Klassik

VON MICHAELA MOTTINGER

Et cetera, et cetera, et cetera …

Mehr als 100 Mitwirkende: Das Ensemble mit Leah Delos Santos, Milica Jovanovic, Finn Kossdorff, Vincent Bueno und Marides Lazo. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

„In a show with everything but Yul Brynner“ landete Murray Head 1984 in seinem von Björn Ulvaeus und Benny Andersson (apropos: INFO) geschriebenen Song „One Night in Bangkok“. Nun, bei den diesjährigen Seefestspielen Mörbisch hat man mehr als würdigen Ersatz für den berühmtesten Glatzkopf der Welt gefunden: den aus Amsterdam stammenden Musicalstar Kok-Hwa Lie, der die Rolle des Mongkut bereits mehr als hundert Mal verkörperte – unter

anderem im London Palladium, wo er Generalmusikintendant Alfons Haider prophezeite, selbst einmal den König von Siam zu spielen, was tatsächlich ab 1998 der Fall war. Zusammengefasst heißt das: „Der König und ich“ 2022 bei den Seefestspielen Mörbisch, wo zusammenkommt, was zusammengehört. Die Aufführung, die geboten wird, ist wahrlich eine der Superlative: Mehr als hundert Mitwirkende aus zwanzig Nationen, der opulent glitzernde 28-Meter-Turm von Walter Vogelweider, der den königlichen Palast krönt, bis dato das höchste Bühnenbild in Mörbisch, 200 neu geschneiderte Kostüme von Charles Quiggin und Aleš Valaṧek, darunter Anna’s mehr als zwei Meter breites Ballkleid mit vergoldeten Orchideen. Ein Monumentalmusical in Cinemaskop! Eine Symphonie in Purpur, Rot und Gold.

Und immer wieder hinreißende Wasserspiele statt des obligatorischen Feuerwerks, dass die einzigartige Seewinkel-Fauna ohnedies nur verschreckt haben kann … Ja, Simon Eichenbergers Inszenierung bleibt vom ersten bis zum letzten Takt (musikalische Leitung: Michael Schnack) auf höchstem Niveau unterhaltsam. Dass man derlei auch anders interpretieren könnte, die toxische Männlichkeit Mongkuts, die kolonialistisch-überheblichen Briten, schließlich das Schicksal des Liebespaares Tuptim und Lun Tha hat man andernorts schon zeitkritischer gesehen (letzteres von Auspeitschung Tuptims bis Hinrichtung Lun Thas selbst bei weiland König Alfons) – doch passt das offenbar nicht zur lauen pannonischen Sommernacht.

Was also? Beruhend auf einer wahren Begebenheit schickt das Werk aus der goldenen Ära des Musicals von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein II die Engländerin Anna Leonowens nach Siam, um den zahlreichen Kindern des Königs sowie seinen ebenso zahlreichen Frauen die westliche Lebensart beizubringen. Freundschaft, aber auch Hürden tun sich zwischen Anna und dem König auf: Von Kok-Hwa Lie keineswegs unsympathisch, sondern in seinem Eitler-Pfau-Sein durchaus satirisch dargestellt, changiert dieser König fast kindisch rechthaberisch zwischen alter Tradition und neuen Sichtweisen. Er ringt mit sich für ein modernes Siam – Hauptsache: „wissenschaftlich“.

Milica Jovanovic zeigt Anna als resolute, romantische Britin, die sich auf die schier aussichtslose Mission begibt, zumindest die Grundwerte von Demokratie und einen Hauch von Gleichberechtigung am Königshof zu etablieren. Sich vor dem König zu Boden zu werfen, danach steht ihr nicht der Sinn, sie hat keine Angst vor dem Despoten, ist ihr doch klar, dass sich hinter seiner herrischen Art auch die Hilflosigkeit angesichts eines sich verändernden Weltbilds verbirgt.

Der stolze König von Siam: Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Marides Lazo und Robin Yujoong Kim, hi.: Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Bereiten den Ball vor: Milica Jovanovic und Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Marco Sommer

Schnell gewinnt die verwitwete Lehrerin ihre Schüler lieb, was sie in einer deutschen Version von „Getting to Know You“ mit musicalheller Stimme besingt. Ihr Repertoire sowie ihr komödiantisches Talent kann Jovanovic ebenso zeigen, wenn sie ihrer Wut über den chauvinistischen König in „Shall I Tell You What I Think of You?“ freien Lauf lässt. Ein Temperamentsausbruch der Extraklasse. Worauf eine der schönsten Melodien des Musicals ertönt, „Something Wonderful“, interpretiert von der stimmstarken Leah Delos Santos als Hauptfrau Lady Thiang, die Anna weibliche Schläue im männlichen Absolutismus lehrt, nämlich den König zu belehren, indem aus einem Rat ein „Ich rate, was Eure Majestät planen“ wird. Emanzipierter Beschützerinneninstinkt par excellence.

Das eigentliche Liebespaar, die dem König vom Nachbarn Burma geschenkte Tuptim sowie deren Überbringer Prinz Lun Tha, besticht zwischen den Massenszenen rund um die königlichen Kinder (Rosemarie Nagl, Hana Amelie Hrdlicka, Lilya Aurora Gasoy, Liam Kiano Therrien, Ciannyn Therrien, Lennyn Therrien, Tamaki Uchida, Yukio Mori, Dina Le, Nio Le, Yimo Ding, Daniel Avutov, Maximilian Chen, David Chen und Ivan Ramon Jacques) mit schmerzhaft intimen Momenten: Marides Lazo und Robin Yujoong Kim reüssieren bei „We Kiss in a Shadow“ und „I Have Dreamed“ vom Feinsten.

Vor allem Kim, dem mit seinem fülligen Tenor wie bereits 2019 am Neusiedler See als Sou Chong deutlich anzuhören ist, dass er ansonsten in Opernhäusern von Zürich, Dresden, der Dänischen Nationaloper bis zur Carnegie Hall mit Partien von Don Ottavio, Tamino, Ruggero bis Maler in „Lulu“ zu Hause ist. Der König nimmt Annas Unterstützung im Umgang mit der britischen Diplomatie (Dominic Hees als Sir Edward Ramsey) schließlich an, will er sich doch der in den Zeitungen des United Kingdom verbreiteten Behauptung widersetzen, er sei ein Barbar.

Die könglichen Frauen und Kinder mit Vincent Bueno und Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Erste Unterrichtsstunde: Milica Jovanovic und die königlichen Kinder. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Yuko Mitani, Gemma Nha, Ayane Ishakawa und die hinreißende Leah Delos Santos. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Kein Kopf höher als der des Königs: Milica Jovanovic und Kok-Hwa Lie. Bild: © Seefestspiele Mörbisch/Jerzy Bin

Auch an dieser Stelle bleibt der Mörbischer „Der König und ich“ weit entfernt von einer Aufarbeitung komplexer weltpolitischer Beziehungen. Ein Spiel, das mit einer auf dem Boden liegenden Anna endet, weil deren Kopf sich nicht über den des Königs erheben darf, fußt auf der Annahme einer dem Kulturen-Clash immanenten Komik. Eben alles im Geiste von original 1951. Regisseur Eichenberger setzt auf Frohsinn und leichten Humor. „Et cetera, et cetera, et cetera …“ wiederholt der König das erste neugelernte Wort bei jeder Gelegenheit. Annas europäisch „geschwollener“ Rock bringt seine Frauen zu dem Schluss, dieser entspreche ihrer Figur.

„Western People Funny“ intonieren Leah Delos Santos sowie die Nebenfrauen Hanae Mori, Aloysia Astari, Ayane Ishikawa, Jadelene Arvie Panésa, Kun Jing, Angelika Studensky, Xiting Shan, Yuko Mitani, Gemma Nha und Minori Therrien beim Anprobieren der Knopfstiefelchen – und wer die Namen der Mütter mit denen der Kindern vergleicht: Alfons Haider ist besonders stolz darauf, solche in echt gecastet zu haben. (Was einen ebenso für den Generalmusikintendanten einnimmt, wie die Tatsache, dass er statt zu Beginn lange Reden zu schwingen, in der Pause lieber alle RollstuhlfahrerInnen in der ersten Reihe nacheinander persönlich begrüßt.)

„Shall We Dance?“, die große Nummer im ausladenden Ballkleid, führt zu einem durchwachsenen Happy End, denn es wird Vincent Bueno als Kronprinz Chulalongkorn überlassen sein, das Reich an neue Herausforderungen anzupassen. Es freut einen, den so überaus begabten Songcontest-Teilnehmer 2021 nach www.mottingers-meinung.at/?p=21953 www.mottingers-meinung.at/?p=29226 www.mottingers-meinung.at/?p=22489 (und als Thuy in „Miss Saigon“ im Raimund Theater) erneut auf der Bühne zu sehen. Ein Bravo auch für Bariton Jubin Amiri, der sein Sologesangsstudium an der MUK just dieses Jahr abschloss, als Minister Kralahome und Musical-Quereinsteiger Lukas Plöchl als Priester Lun Phra Alack.

Fazit: Wie auch der Protagonist im Jahr eins mit Alfons Haider zeigen sich die Seefestspiele Mörbisch reformwillig. Die Regie hat für die erwartete beschwingte Hochstimmung gesorgt (wer sich erinnert: 1998 war man angesichts von Tod und Todschlag eher betroppezt vom Stockerauer Rathausplatz geschlichen), die Ausstattung und auch Choreograf Alonso Barras konnten sich nach Herzenslust austoben. Der Wow-Effekt war gelungen. Dass man heutzutage die Diversität von Kulturen anders, heißt: auch ohne gehobenen Zeigefinger, postulieren könnte … naja. Anno 2023 ist man diesbezüglich immerhin auf der sicheren Seite. Mekka des Musicals: Wir kommen! Und das darf man durchaus wunderbar finden …

Besucht wurde die Vorpremiere am 12. 7. 2022.

Alfons Haider als der König von Siam 1998. Bild: Screenshot ORF „Der König und ich – 2022 Mörbisch – The making of“

Trailer: www.youtube.com/watch?v=qNuLZYXvp94          The Making Of: www.youtube.com/watch?v=vwKHHlvwlQc&t=4s          www.seefestspiele-moerbisch.at

INFO: Für den Sommer 2023 plant Generalmusikintendant Alfons Haider die Aufführung des ABBA-Musicals „Mamma Mia!“ – von 13.Juli bis 19. August. Kartenvorverkauf ab 1. September 2022, Vorreservierungen sind per E-Mail unter tickets@seefestspiele.at möglich.

13. 7. 2022

TheaterArche: Des Knaben Wunderhorn

Juni 17, 2022 in Tipps

VON MICHAELA MOTTINGER

Gustav Mahlers Kunstlieder erstmals in Szene gesetzt

Michael C. Havlicek als „Ein Mann“ aka Gustav Mahler und TheaterArche-Intendantin Manami Okazaki als „Eine Frau in seinem Traum“. Bild: © Jakub Kavin Theaterarche

In der TheaterArche erleben Gustav Mahlers Kunstlieder „Des Knaben Wunderhorn“ erstmals ihre szenische Aufführung. Die Uraufführung der Sammlung als Musiktheater findet vorerst am Samstag, 18. Juni um 19.30 Uhr, gefolgt von einer Vorstellung am Sonntag, 19. Juni um 16, Uhr statt.

„Des Knaben Wunderhorn“ ist die Geschichte eines unruhigen Mannes, eines Zeitgenossen, der durch die Auseinandersetzung mit

Mahlers Musik unterschiedliche Menschen kennenlernt und tiefe Einsichten über das Leben gewinnt. Die japanische Regisseurin Miharu Sato stellt sich der Herausforderung, weltweit zum ersten Mal Mahlers Werk zu inszenieren. Ihr Anliegen ist kein Geringeres, als den Geist der Wunderhorn-Lieder durch den Prozess der Transformation in ein Musikdrama neu zu beleben, etwas, das Mahler als 20-Jähriger ausprobiert und als Opernskizze hinterlassen hat: ein Musikstück im Märchenstil zu rekonstruieren. 

Miharu Sato ist spezialisiert auf derlei Arbeiten. Sie forschte über des Opernreformers Wirken als Direktor im Haus am Ring und schrieb ihre Dissertation über „Die Ära Gustav Mahler an der Wiener Staatsoper“. So entsteht ein neues, interkulturelles und interdisziplinäres Musiktheater, inspiriert vom Werk des japanischen Schriftstellers Haruki Murakami. Seine Kurzgeschichte „Tony Takitani“  beschreibt die Einsamkeit und Liebe eines Mannes. Bariton Michael C. Havlicek singt und spielt den einsamen Mann, während die Frau, die er als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erträumt, von Koloratursopranistin Manami Okazaki verkörpert wird.

„,Des Knaben Wunderhorn‘ ist unser Versuch, Wien und Japan mit Mahlers Liedern zu verbinden. Das Stück wird auch in Japan in einer Deutsch/Japanischen Textfassung gespielt werden“, sagt TheaterArche-Intendantin Manami Okazaki, die gemeinsam mit Miharu Sato für die Produktion dieser Kooperation verantwortlich ist, und erklärt weiter: „Wir freuen uns zudem sehr, dass nun auch die Wiener Staatsoper in der kommenden Saison einen Mahler-Schwerpunkt setzt. Eine weitläufige Beschäftigung mit dem Werk Mahlers aus diversen Perspektiven – von der Hochkultur bis zur freien Szene – wird dem Wiener Publikum somit ermöglicht.“

Die Produktion ist durch Crowdfunding finanziert: wemakeit.com/projects/des-knaben-wunderhorn. Für Unterstützende gibt es beispielsweise Gesangsunterricht bei Michael C. Havlicek, Akkordeonunterricht bei Piotr Motyka www.youtube.com/watch?v=5SqHI69CsuA, Schauspielunterricht bei TheaterArche-Intendant Javub Kavin, Regisseur und Prüfer bei der paritätischen Kommission für Schauspiel, oder ein Hauskonzert mit Manami Okazaki und Michael C. Havlicek mit Pianist und Dirigent Hibiki Kojima am E-Klavier (so kein eigenes vorhanden ist.) Mehr: www.youtube.com/watch?v=-GC69Eb24pQ

Bild: © Jakub Kavin TheaterArche

Bild: © Jakub Kavin TheaterArche

Eszter Hollósi als „Eine Ärztin“. Bild: © Jakub Kavin TheaterArche

Des Knaben Wunderhorn: Leading Team und Cast

Inszenierung & Konzept: Miharu Sato. Musikalische Leitung & Arrangement: Hibiki Kojima. Dramaturgie: Hazuki Kosaka. Bühne und Kostüm: Theresa Gregor. Ein Man: Michael C.Havlicek. Eine Frau in seinem Traum: Manami Okazaki. Eine Ärztin: Eszter Hollósi. Der Kuckuck: Monika Konvicka. Die Nachtigall: Elise Busoni. Knabe: Theo Koszednar. Tochter der Ärztin: Paula Hofer. Kinderchor: Lola Koszender, Amelie Okazaki, Katharina Thurner. Orchester: Dirigent & Klavier: Hibiki Kojima. Klarinette: Josef Lamell. Akkordeon: Piotr Motyka. Violine: Gregor Fussenegger. Schlagzeug: Linus Rastegar.

www.theaterarche.at           www.manami-okazaki.com          www.michael-c-havlicek-bariton.com

17. 6. 2022

TheaterArche: Odyssee 2021

September 11, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Eine Irrfahrt durch Schauplätze und Seelenräume

Eike N.A. Onyambu, Helena May Heber, Roberta Cortese, Bernhardt Jammernegg, Pia Nives Welser, Marc Illich und Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Es wäre nicht Jakub Kavin, wenn er nicht wieder etwas Besonderes in petto hätte. Der Theatermacher, der seine TheaterArche als einziger am ersten möglichen Tag nach dem Kulturlockdown zur Premiere des überaus passenden Rückzugsstücks „Hikikomori“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=40634) öffnete, hat mit seinem Team nun die „Odyssee 2021“ erarbeitet. Ein Stationentheater, dessen erste zum Prolog ein jeweils anderer Ort im sechsten Bezirk sein

wird, diesmal war’s der Fritz-Grünbaum-Platz vorm Haus des Meeres, bevor es in die Münzwardeingasse 2 geht. Uraufführung ist heute Abend, www.mottingers-meinung.at war bei der gestrigen Generalprobe. Und so beginnt die Irrfahrt durch Schauplätze und Seelenräume. Zu Homer, Dantes „Göttlicher Komödie“, Dostojewskis „Verbrechen und Strafe“ und natürlich James Joyces „Ulysses“, hat Kavin, weil ihm das alles zu männlich konnotiert war, als weibliche Gegenstimmen die Autorinnen Marlene Streeruwitz, Miroslava Svolikova, Lydia Mischkulnig, Kathrin Röggla, Theodora Bauer, Margret Kreidl und Sophie Reyer eingeladen, Texte für die „Odyssee 2021“ zu verfassen.

„Mit dem Resultat“, so Kavin im Gespräch über sein nunmehriges „Frauenstück“, „jetzt vier Odyssas, zwei Penelopes und eine Lucia Joyce zu haben, Lucia, die Tochter von James Joyce, eine Tänzerin, die mit 30 als schizophren diagnostiziert wurde und 50 Jahre in diversen psychiatrischen Kliniken zubrachte.“ – „Errrrrrrrrrrrr wiederholt sich. Sch! Schlauch, Schlund, Schlamassel. Der Schlüssel zum Ödipuskomplex.“ (Margret Kreidl)

Sieben Performerinnen und sieben Performer, Roberta Cortese, Max Glatz, Claudio Györgyfalvay, Elisabeth Halikiopoulos, Helena May Heber, Marc Illich, Bernhardt Jammernegg, Tom Jost, Nagy Vilmos, Manami Okazaki, Eike N.A. Onyambu, Amélie Persché, Pia Nives Welser und Charlotte Zorell, dazu Multiinstrumentalist Ruei-Ran Wu, die meisten davon erstmals im TheaterArche-Engagement, gestalten die Collage. Eine Reise ins Ungewisse, Unbekannte, Untiefe, die sich für jede Zuschauerin, jeden Zuschauer des in drei Gruppen aufgeteilten Publikums anders gestaltet.

Choreografin Pia Nives Welser, hi.: Roberta Cortese und Claudio Györgyfalvay. Bild: © Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg im Inferno mit Max Glatz, Manami Okazaki und Charlotte Zorell. Bild: © Jakub Kavin

Roberta Cortese unter Höllentieren: Claudio Györgyfalvay, Max Glatz und Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Bernhardt Jammernegg, Roberta Cortese, Charlotte Zorell und Pia Nives Welser. Bild: © Jakub Kavin

Man selbst strandet zuerst im Irish Pub, die Ausstattung aller Räume ist von Schauspielerin und Bildhauerin Helena May Heber, denn wie stets hat Kavin interdisziplinär tätige Künstlerinnen und Künstler um sich versammelt, strandet im Irish Pub also, wo man aber nicht etwa Leopold Bloom, sondern in Marc Illich und Tom Jost zwei Raskolnikows begegnet, die Serviererin-Prostituierter Sonja, Pia Nives Welser, mit Marc Illich und Claudio Györgyfalvay auch für die Choreografien zuständig, und Barkeeper Johannes Blankenstein bei Wodka und Whiskey vom Totschlag der Pfandleiherin berichten.

Dass dabei auch Russisch gesprochen wird, ist in der TheaterArche Programm, später wird’s noch Monologe in Englisch, Italienisch und Japanisch geben, Eike N.A. Onyambu rappt Amanda Gormans Amtseinführungsrede für Joe Biden: „We are striving to forge our union with purpose. To compose a country committed to all cultures, colors, characters and conditions of man.“ Roberta Cortese klagt im „Inferno“: „ich bin verwirrt gewesen, das kommt doch vor. ich hatte die mitte des lebens erreicht, die mitte des horizonts, den halben weg. oder, wo sonst bin ich hier?“ (Miroslawa Svolikova).

Koloratursopranistin und TheaterArche-Co-Leiterin Manami Okazaki spricht und singt zur AKW-Katastrophe in Fukushima: „Die Natur schlug zu und traf das Kernkraftwerk. 120 Kilometer vom Kernkraftwerk entfernt bin ich aufgebrochen und wusste wohin. In ein Zelt. Und was wird sein?“ (Lydia Mischkulnig). Kavin hat den Begriff Odyssee weit gefasst, vom antiken Inselhopping zur Irrfahrt zu sich selbst zur Rückkehr in ein verseuchtes Land.

Bernhardt Jammernegg als Teiresias. Bild: © Jakub Kavin

Fukushima-Monolog von Manami Okazaki. Bild: © Jakub Kavin

Elisabeth Halikiopoulos im Spiegel-Boudoir. Bild: © Jakub Kavin

Bildhauerin Helena May Heber. Bild: © Jakub Kavin

„Es geht mir um die Heimatsuche, die geografische wie die innere“, sagt er. „Meine Figuren sind Weitgereiste, Wartende, vom Schicksal verwehte, Anti-Heldinnen und -Helden, die fehlgehen, wo immer der Mensch nur irren kann. Das heißt“, unterbricht er sich, „meine Figuren sind es nicht, wir sind ein Produktionskollektiv, bei dem alle in die Rolle das Ihre einbringen. Ich vertraue den Spielerinnen und Spielern den Text an, damit sie ihn mit ihren eigenen Subtexten zum Leben erwecken.“

Derart ist die Performance von der ersten Minute an intensiv, durch die Nähe zum Geschehen auch intim, meint: auf spezielle Weise immersiv, die TheaterArche gewohnt innovativ. Weiter geht’s in den Theatersaal, wo sich im von Tom Jost und Nagy Vilmos gesprochenen „Inferno“ Roberta Cortese und Bernhardt Jammernegg in Höllenqualen winden. TheaterArche, das ist immer auch Körpertheater, hier kriecht ein Ensemble aus Unterweltsfratzen gleich Totentieren auf die Unglücklichen zu. Grausam-poetisch ist das, enigmatisch, aufregend, und so findet man sich in der persönlichen Lieblingsschreckenskammer wieder.

Einem Dostojewski’schen Spiegel-Boudoir mit Elisabeth Halikiopoulos als frech-frivole Molly Bloom, Charlotte Zorell als Reitgerten-bewehrte Domina und Nagy Vilmos mit Beißkorb – pst, mehr soll da nicht verraten sein. Nur so viel, um Sartre zu bemühen: Die Hölle, das sind die anderen …

Die Raskolnikows Marc Illich und Tom Jost parlieren im Irish Pub auch auf Russisch. Bild: © Jakub Kavin

Selbst das Klavier ist gestrandet: Amélie Persché, Nagy Vilmos und Charlotte Zorell. Bild: Jakub Kavin

Als Reitgerten-bewehrte Domina mit einem Stammkunden: Charlotte Zorell mit Nagy Vilmos. Bild: © Jakub Kavin

Endlich Penelope und Odysseus: Helena May Heber und Claudio Györgyfalvay. Bild: © Jakub Kavin

Die „Odyssee 2021“ dreht sich kaleidoskopisch um die Achse Homer, bei Kavin reimt sich selbst noch Amanda Gorman aufs Gorman-Gilbert-Schema zum „Ulysses“, Homer also, als dessen antiker Odysseus Claudio Györgyfalvay durch das Labyrinth der Räume rennt, gehetzt von Kirke und eigenen Dämonen, einen Ausweg erflehend, doch von Kavins Assoziationsketten in Fesseln geschlagen. Und apropos, schlagen: Im Foyer findet man erneut Helena May Heber, die während der zweimonatigen Spielzeit einen 300-Kilo-Stein zur Muttergöttin meißeln wird, begleitet von Amélie Persché, mit 17 Jahren die jüngste im Ensemble, auf der Bratsche. Zwei Frauen, Homers Penelope und Theodora Bauers Penny: „Sie haben mir gesagt, ich muss warten. Ich muss immer, immer warten. Ich hasse warten.“

Am Ende, alle versammelt im Theatersaal, gesellt Jakub Kavin zu seinen Protagonistinnen und Protagonisten die Antagonisten: Bernhardt Jammernegg als mittels Kontaktlinsen erblindeter Teiresias im Fake-News-Anzug, Tom Jost als Swidrigailow, Nagy Vilmos als Leopold Bloom und Max Glatz, eben noch Polyphem, als Joyces „Telemach“ Stephen Dedalus. Für Marc Illich als Zukünfigen Odysseus hat Hausautor Thyl Hanscho einen Text geschrieben. So endet nach drei Stunden ein herausforderndes, faszinierendes Theaterereignis, ein Gesamtkunstwerk, dessen Genuss man nur von ganzem Herzen empfehlen kann.

„Zwischen Skylla und Charybdis lassen wir die Ketten zur Brücke werden. Wir befreien die Ungeheuer und damit uns von der Angst in die alten Sprachen zurückzugeraten.“ (Marlene Streeruwitz)

Vorstellungen bis 11. November. Den Spielort des Prologs erfährt man jeweils beim Kauf des Tickets. www.theaterarche.at

TIPP:

Von 11. September bis 11. November findet in der TheaterArche außerdem das Odyssee Festival statt. Zu den 14 Aufführungen zählen: Dione – mit Koloratursopranistin Manami Okazaki präsentiert Scharmien Zandi erstmals alle Elemente des internationalen Kunstprojekts als Opernperformance. Lost My Way von und mit Saskia Norman, Regie: Elisabeth Halikiopoulos. Das Tanztheaterstück Mythos. The Beginning of the End of the Story von Nadja Puttner und Unicorn Art. Das Schauspiel- und Figurentheater Der Sturm, für Kinder ab 6 Jahren, frei nach Shakespeare und inszeniert von Eva Billisich. Stilübungen – Raymond Queneaus Meisterwerk als Theaterstück. Und von 28. bis 30. Oktober Das Dostojewski Experiment, eine szenische Collage der TheaterArche mit großem Ensemble, ein Fest zum 200. Geburtstag des russischen Romanciers.

www.theaterarche.at

  1. 9. 2021

Sommernachtskomödie Rosenburg: Ein Käfig voller Narren

Juli 7, 2021 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Kapriziöse Drag-Show mit deutlichem Toleranzappell

Patrick Weber, Wolfgang Lesky, Herbert Steinböck, Elisabeth Engstler und Futurelove Sibanda. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Seit 2015 ist die Sommernachtskomödie Rosenburg unter der Intendanz von Nina Blum und mit Haus- (in diesem Falle: Zelt-)Regisseur Marcus Ganser ein Garant für beschwingte Sommerunterhaltung mit einem Schuss Selbstbesinnung fürs Publikum. Nach etwa den „Kalender Girls“ oder „Monsieur Claude und seine Töchter“ lädt das Team dies Jahr in den „Käfig voller Narren“ – und dem Ensemble entströmt die Spielfreude nach der Corona-bedingten Pause 2020 buchstäblich aus jeder Lachfalte.

Schon beim Platznehmen wird man von den Nachtclubkünstlerinnen begrüßt, allesamt sind sie herr-liche Damen, und wer sich für eine der acht exklusiv angelegten Bühnenlogen im Etablissement von Georges und Albin entschieden hat, dem kredenzen Mercedes oder Salome sogar höchstpersönlich eine Flasche

Sekt. Erstere, die silberblonde, vollschlanke Versuchung, ist als Zeremonienmeisterin voll in ihrem Element, Patrick Weber als Mercedes, der von Elfriede Ott ausgebildete Schauspieler, der auch als „Kleinkunstprinzessin“ Grazia Patricia und deren aktuellem Programm „Teilzeitfrau“ bekannt ist: www.kleinkunstprinzessin.at

Weber wird nicht die einzige Überraschung an diesem Abend bleiben, im handverlesenen Ensemble findet sich mindestens noch eine Augenweide, doch dazu später. Die Story darf nach zwei Verfilmungen und etlichen Theaterproduktionen als geläufig vorausgesetzt werden: Georges, Inhaber von „La Cage aux Folles“ und seine große Liebe Albin, als bezaubernde Zaza der Star jeder Show, sind seit vielen Jahren ein homosexuelles Paar. Aus Georges‘ einzigem Abenteuer mit einer Frau stammt sein Sohn Laurent, der von den beiden Männern liebevoll großzogen wurde. Nun ist Laurent unsterblich verliebt und will seine Barbara endlich heiraten. Einziges Problem: Die Verlobte ist die Tochter des erzkonservativen Politikers Dieulafoi.

Um einen Eklat und das Platzen der Hochzeit zu vermeiden, erklärt sich Georges bereit, eine bürgerlich-biedere Familie vorzutäuschen. Also lädt er zum Kennenlern-Dinner Laurents „biologische“ Mutter Simone ein, zum Ärger von Albin, der sich nicht so leicht ausladen lässt. So wird eifrig verwirrt, verwechselt und die Katastrophen überschlagen sich …

Wolfgang Lesky und Herbert Steinböck. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Futurelove Sibanda und Steinböck. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Futurelove Sibanda, Herbert Steinböck und Wolfgang Lesky. Bild: © Kastnermedia Martin Hes

Der Fernsehzuschauerinnen liebster Biobauer, ja, natürlich der mit dem Schweinchen, Wolfgang Lesky schlüpft auf der Rosenburg in Fummel, Federboas und High Heels. In seinem Stammhaus, dem Theater zum Fürchten, zeigte der Schauspieler schon einmal seine tadellosen Beine und sein Talent fürs Schrullige, als Gnädige Frau in Jean Genets absurder Groteske „Die Zofen“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=24361), nun brilliert er als Drag- wie Drama-Queen, deren beste Jahre im „Unterröckchen aus Osterglöckchen“ schon hinter ihr liegen. Ihm zur Seite steht Herbert Steinböck als Georges, und wie Steinböck als dieser versucht, alle Bälle in der Luft zu halten, ist große Klasse.

Dritter im Haushalt ist, man weiß es, Kammerkätzchen Jacob, das crazy Chicken im heißen Höschen, und der aus Zimbabwe stammende Futurelove Sibanda ist als Komödiant, Sänger und Tänzer ganz klar die Nummer eins dieser Produktion: www.futurelovesibanda.com Derart bewegt sich die Aufführung – beispielsweise mit der berühmten Zwieback-Szene – nah an der Verfilmung von Édouard Molinaro und hat doch eine spezielle, eine eigene Qualität. Zu den eindeutig zweideutigen Wortspielereien gesellt sich Aktuelles: Prinz Harry ist ohne Meghan Gast im Club, Madame Dieulafoi spricht von „Lügenpresse“, Georges bittet Jacob „weniger Josephine Baker und mehr David Alaba“ zu sein – ein Wunsch, dessen Erfüllung zu Riesenjubel und Szenenapplaus führt.

Das Ehepaar Florentin Groll und Babett Arens geben das Ehepaar Dieulafoi, er verniederösterreichert nun Präsident der christlich-sozialen Bauern, sie im Wortsinn kampferprobte Hausfrau an der Seite ihres Mannes. Beide sind sie ganz großartig, Groll um Contenance bemüht, Arens den Betrug sofort witternd. Fabelhaft ist auch Elisabeth Engstler als Simone, die neben der schauspielerischen auch ihre Gabe als Sängerin ausleben darf. Verständlich, dass ihr Grolls Dieulafoi nicht widerstehen kann … Michael Duregger besorgte als „Abendspielleiter“ Francis auch die Choreografie für die Truppe. Zauberkünstler und Kampfsportler Raphael Macho spielt die Kaugummi-blasende Salome.

Raphael Macho, Patrick Weber, Sibanda, Steinböck und Michael Duregger. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Sohn Laurent und Vater Georges …: Felix Krasser und Herbert Steinböck. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

… hoffen auf die Hilfe der Mutter: Herbert Steinböck und Elisabeth Engstler. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Wolfgang Lesky, Patrick Weber, Felix Krasser, Futurelove Sibanda, Herbert Steinböck und Babett Arens. Bild: © Kastnermedia Martin Hesz

Felix Krasser, in Wien kennt man ihn vom Bronski & Grünberg www.mottingers-meinung.at/?p=36320 bis zum Werk X www.mottingers-meinung.at/?p=29956, ist ein charmant verzweifelter Laurent, Veronika Petrovic eine verwunderte Barbara. Engstler-Tochter Amelie ist als Simones Assistentin Irene zu sehen. Für Kostüme und Maskendesign waren Ágnes Hamvas und Gerda Fischer zuständig, sowie Marcus Ganser auch fürs erstaunliche Bühnenbild, das aus ungeahnten Versenkungen mal den Salon von Albin, mal das Büro von Simone an die Oberfläche befördert.

Und während sich derart alle möglichst auffällig unauffällig benehmen und sich die Zuschauerinnen und Zuschauer närrisch amüsieren, verliert Marcus Ganser nie aus dem Blickfeld, wie zeitgemäß Jean Poirets 1973 verfasstes Stück beinah 50 Jahre später in Europa – siehe nicht nur Orbáns Ungarn – bedenklicherweise immer noch ist. Zwar will sich Georges nicht „umschwulen“ lassen und besteht auf seiner Ehe mit Albin, doch muss er sich hinsichtlich „Werteverfall“ belehren lassen. Und auch Futurelove Sibanda macht nachdenklich, wenn er die von Weißen so erwartete „Stimme des echten schwarzen Mannes“ imitiert.

Auf der Rosenburg freilich gibt’s ein Happy End. Die Liebe besiegt alle Konventionen, die Narren retten die selbsternannten Normalen – und Schlussbild: die Darstellerinnen und Darsteller als flammenrote Follies, darunter herzallerliebst Florentin Groll, und Elisabeth Engstler singt „It’s Raining Men“. Halleluja!

Vorstellungen bis 1. August.

sommernachtskomoedie-rosenburg.at

  1. 7. 2021