VON MICHAELA MOTTINGER
Eine grimmige Ode an Europa

Bild: © Filmladen Filmverleih
Nach dem Großen Diagonale-Preis in der Kategorie Dokumentarfilm und dem Darko Bratina-Preis in Gorizia ist Ruth Beckermanns „Those who go – Those who stay“ nun in den heimischen Kinos zu sehen. Regen auf der Fensterscheibe, ein Feuerwehrauto, ein Kater, der unzählige Nachkommen gezeugt hat: Es ist ein absichtlich absichtsloses Schauen, ein Erzählen und Erinnern auf Fährten, die Ruth Beckermann kreuz und quer durch Europa, rund ums Mittelmeer und bis nach Jerusalem verfolgt und wieder verlässt. Offenen Auges lässt die Kamera den Zufall geschehen, der Zusammenhang ist die Filmemacherin selbst: Die Erzählung der Flucht ihrer Mutter nach Palästina, eine grelle FPÖ-Veranstaltung auf dem Stephansplatz in Wien, Puppenkleider, der eigene Schatten. Beckermann filmt die Ecke Rue d’Alexandrie und Passage du Caire im Textilviertel in Paris, um später in Alexandria einem Franzosen zu begegnen, der den Pfaffen und Klerikalen die Köpfe abschlagen will. Im Prozess des Angeschautwerdens erzählt sich der Film immer weiter, es geht um Reisebewegungen, um Fluchtbewegungen und um das Unterwegssein, innerhalb der Welt und innerhalb des eigenen Lebenslaufs.
„Those who go – Those who stay“ führt in ein assoziationsreiches Labyrinth aus Begegnungen und Beobachtungen in Paris, Wien, Alexandria, Jerusalem, Czernowitz, durch Beckermanns Filmografie und die Biografie eines Kulturraums. Wie es ist, Satan zu begegnen. Was es bedeutet, eine Stadt nicht verlassen zu können. Was es heißt, in einem Land nicht willkommen zu sein. Nigerianische Asylwerber in Sizilien, ein arabischer Musikwissenschaftler, die kapitolinische Wölfin, Schaufensterpuppen, minigolfspielende Mädchen und drei verschleierte junge Frauen, die minutenlang versuchen, eine stark befahrene Straße zu überqueren. Schließlich eine elegante Dame im Kaffeehaus, die von ihrer Sammlung besonderer Kleidungsstücke spricht. Dass diese Dame Elfriede Gerstl heißt, ist zugleich bedeutsam und unwichtig, ebenso wie die Identität des Mannes, der ins Meer watet, bis die Wellen seinen Hosensaum benetzen, und die Geschichte des Unbekannten, dessen Ausweis Beckermann in einem Album auf einem Flohmarkt in Jerusalem entdeckt. „Those who go – Those who stay“ ist ein komplexes, oszillierendes Gewebe, dessen Motive nicht alle entschlüsselt werden müssen, um zu bereichern: ein mäandernder Essay voll glückvoller Momente, in denen Zufälligkeiten zueinander in Beziehung treten.
Ruth Beckermann verwebt ihr privates und politisches Interesse mit einer allgemeineren Bewegung: Der der Migration, der Wanderung, der Veränderung, der Fremde. Das Unterwegssein als ewiges und zugleich hochaktuelles Moment unserer Welt, erzwungen, freiwillig, zufällig, nicht enden wollend, hoffend, gewalttätig. Nigerianische Asylwerber in Sizilien, Emigranten in Paris, die jungen Frauen von Alexandria, der arabische Musiker im jüdischen, gelobten Land. Ein zerrissenes, verknotetes, sich auflösendes und wieder neu verdichtetes Gewebe. Der Stoff, aus dem Welt und Geschichte gemacht sind. „Mein Film ist der Versuch, durch zeitliche und geographische Sprünge Denkschienen aufzubrechen und üblicherweise getrennt behandelte Themen miteinander zu verschränken“, sagt die Regisseurin. „Fluchtbewegungen weg von Europa und hinein nach Europa. Private Erinnerungen und politische Brisanz. Schöne Bilder und Ratlosigkeit darüber, was trotz aller Bilder und Töne verschwiegen wird. Was die Fragmente verbindet, ist mein Blick auf Bewegung und Beweggründe – der Augen, der Kamera, der Stoffe und der Menschen.“
Interview mit Ruth Beckermann
Der Einstieg in den Film erzählt eine kurze Textpassage über griechische Mythologie: wie Theseus von Ariadne einen Faden geschenkt bekam. Von den Fährten, die Theseus hinterließ, als er im Labyrinth umherlief, erzählt der Mythos nichts. Erzählt Ihr Film von den vielen Fährten, auf die Sie sich gemacht haben, um diesen Film zu realisieren? Oder ist Filmemachen per se ein Irren in einem Labyrinth?
Ruth Beckermann: Das Filmemachen selbst ist ein Thema des Films. Es ist weniger ein Irren als vielmehr ein Flanieren im Labyrinth. Manchmal ist es ein Irren, ein Suchen nach Fragen mehr noch als nach Antworten. Eine Suche nach den wichtigen Fragen. Der Film beginnt mit Fragen nach dem Erzählen und dem Filmemachen. Es geht ums Schauen, Erzählen, wobei dem, was am Weg oder um die Ecke liegt, ebenso meine Aufmerksamkeit gilt wie dem Ziel, auf dessen Suche ich mich begeben habe. Mir geht es um Fragen, die bleiben, die immer aktuell sind. Es geht um die Bewegung nicht nur der Augen, sondern auch die freiwilligen und unfreiwilligen Bewegungen der Menschen.
Ihr Eröffnungsblick geht durch eine von Regentropfen beschlagene Fensterscheibe. Worauf weist dieser „unsaubere“ Blick?
Ruth Beckermann: Es handelt sich um Fenster einer Pariser Wohnung. Ich war allein in dieser Wohnung in Paris, es hat geregnet, ich fragte mich, wie ich einen Film machen kann, der so fragmentarisch ist, der nicht nur geografisch springt, sondern auch in den Zeiten. Ich wollte nicht vor die Tür gehen und begann, in der Wohnung zu filmen. Die Regentropfen auf den Fenstern und diese so einmaligen Pariser Dächer haben auch meinen Zustand ausgedrückt. Es war für mich stimmig, da den Film zu beginnen.
Einer der Arbeitstitel dieses Films lautete Die Flaneurin. Sie beginnen den Film in Paris, in jener Stadt, in der sich Benjamins Typus des Flaneurs zu entfalten begann. Eine Kameraeinstellung ruht am Eingang zur Passage du Caire. Wie sehr sind Ihre Arbeiten immer wieder eine Hommage an Walter Benjamin?
Ruth Beckermann: Das ist ganz gewiss so. Einerseits sind Passagen selbst ein Thema, nicht nur in Bezug auf Orte, in Zorros Bar Mizwa geht es um einen „rite de passage“. Those who go – Those who stay thematisiert das Weitergehen und Durchgehen, auch die offene, fragmentarische Form, die Benjamin gewählt hat und durch ihn ist es auch wichtig, dass Teile des Films in Paris gedreht werden. Paris wählte ich auch deshalb, weil es neben London die einzige Stadt ist, wo sich die Menschen so stark mischen. Das unglaubliche Menschengemisch in Paris ist faszinierend. Es ging mir auch um das Bild Europas. Es ist uns wenig bewusst, wie sehr sich das Bild Europas rein physisch in den letzten Jahren verändert hat.
Inwiefern haben Sie sich von einem Zufallsprinzip leiten lassen?
Ruth Beckermann: Der Film ist nicht chronologisch gedreht. Ich habe mich schon immer für das automatische Schreiben der Surrealisten interessiert. Das Faszinierende daran ist, dass man einen Satz hinschreibt, der so Vieles in Gang setzt – man kann sich treiben lassen, es verzweigt sich und man weiß gar nicht, wohin man sich bewegt. Das geht beim Schreiben, beim Filmen ist das aufgrund der Produktionsbedingungen unheimlich schwer. Was ich beim Filmen nicht mag, sind die Filme, wo am Papier alles festgelegt ist und wenig Raum für Überraschungen bleibt. Auch bei Spielfilmen mag ich jene, wo man spürt, dass etwas atmet, dass etwas passieren kann, und wo unvorhergesehene Dinge Platz haben. Das hab ich diesmal versucht umzusetzen und bin darüber sehr glücklich. Ich habe Dinge gefilmt, ohne zu wissen, wo sie im Film ihren Platz finden werden. Dieser Zugang machte einerseits Angst, war aber auch unheimlich spannend.
Sie verweisen in Ihrem Filma auch auf andere von Ihnen: eine Projektion von Jenseits des Krieges, ein Interview mit Elfriede Gerstl aus homemad(e). Man denkt bei den Bildern aus Ägypten an Ein flüchtiger Zug nach dem Orient …
Ruth Beckermann: Mir wurde bewusst, dass meine Erinnerungen zum Teil Erinnerungen einer Filmemacherin sind und ich mich in meinen Filmen mit Themen meiner Kindheit und meines Lebens auseinander gesetzt habe. Ich habe lange gebraucht, mich als Filmemacherin ernst zu nehmen, heute sehe ich, was für ein wichtiges Projekt Jenseits des Krieges war. Nazi-Zeit, Antisemitismus, Fremdenhass, Migration sind Themen in all meinen Filmen – die wollte ich noch einmal reflektieren. Es kommt die Flucht meiner Mutter 1938 aus Wien vor, es kommen Palästinenser vor, nigerianische Flüchtlinge in Sizilien, Massen von Chinesen, die zum Teil wie Sklaven leben, um in Italien Textilien zu erzeugen – dort zu filmen wurde uns übrigens verboten, vielleicht sollte man einen Fim machen über Filme, die man nicht machen darf -, diverse Fluchtbewegungen, von denen ich meine, man muss über diese verschiedenen schrecklichen Ereignisse, die Menschen dazu zwingen, zu flüchten, sprechen, man darf sie aber nicht gleichsetzen. Das „Wie furchtbar war 38“, was ja inzwischen auch hier in Wien offiziell zugegeben wird und nun Thema von Gedenkveranstaltungen ist, halte ich für zu billig. Man muss heute darüber sprechen, was jetzt passiert und Bezüge herstellen. Die Katastrophe, die erst jüngst vor Lampedusa 500 Tote gefordert hat, ist ein grauenhaftes Beispiel. Ich habe dort gefilmt, ich habe gesehen, wie nahe an der Küste die Schiffe untergehen. Keiner kann sagen, er hätte es nicht gewusst. In Those who go – Those who stay gibt es in Lampedusa einen Schwenk, wo man die Segeljachten sieht und dann geht es weiter und die Flüchtlingsboote sind im äußersten Eck des Hafens, so dass man sie kaum sehen und somit auch nicht filmen kann. Dieses Nicht-Sehen halte ich für so tragisch. Auch nach Theresienstadt kam das Rote Kreuz und hatte den Eindruck, den Leuten gehe es gut. Man glaubt, durch die Erfahrungen der Nazi-Zeit sind die Menschen heute sensibilisiert, man ist es aber nicht und es wird alles getan, um uns abzulenken.
Wenn Sie nicht chronologisch gedreht haben, wie ergaben sich dann die Reisen?
Ruth Beckermann: Es war klar, dass ich nach Lignano Pineta will, wo ich viele Sommerferien verbrachte. Ein spontaner Impuls geht auf die Initiative von Ernst Löschner vom Komitee gegen Unmenschlichkeit zurück, der jedes Jahr das Alpine-Peace-Crossing in Krimml organisiert. Da wird der jüdischen Flüchtlinge gedacht, die 1947 über die Tauern geflüchtet sind, als die Engländer im besetzten Österreich verhindern wollten, dass die Juden nach Palästina auswandern. Diese Wanderung ist zum einen jedes Jahr ein Gedenken, zum anderen stehen aktuelle Flüchtlingsbewegungen im Mittelpunkt. 2011, als ich dort gedreht habe, war das Thema Palästina, das zu meinem ganzen Themenkomplex gepasst hat.In Israel fanden mehrere Drehs zu verschiedenen Zeitpunkten statt. Alexandria war eine Destination, die auf Ein flüchtiger Zug nach dem Orient verweist. Alexandria steht für mich für eine vergebene Chance. Es war in den fünfziger Jahren eine phantastische Stadt. Dort hat es sich einmal vermischt, im Unterschied zu Paris, wo es sich auch heute mischt. Auf der anderen Seite des Mittelmeers mischt es sich immer weniger. In Alexandria wurden schon ab den fünfziger Jahren die Juden, Griechen und anderen Europäer rausgeworfen. Ich bin mir sicher, dass seit meinen Dreharbeiten zu Ein flüchtiger Zug nach dem Orient noch mehr Frauen mit Kopftuch unterwegs sind. Das finde ich sehr beunruhigend.
Those who go – Those who stay ist auch ein Ausdruck einer Ratlosigkeit über den Zustand Europas. Wohin kann das gehen?
Ruth Beckermann: Die Vermischung der Kulturen ist auch Thema der Diskussion mit einem Musiker in Galiläa. Barbara Taufer lebt schon seit 30 Jahren in Israel, ist zum Judentum übergetreten und lebt in einem Kibbuz und ist für mich eine Wanderin zwischen den Welten. Sie hat mich in dieses arabische Dorf mitgenommen, wo sie mit einem Musiker, einem Drusen, also arabischen Christen, diskutiert. Auch dieses Gespräch habe ich offen und ratlos erlebt, ratlos im negativen und offen im positiven Sinn. Sie vertritt die Meinung, ohne Orient würde Europa gar nicht existieren und er wiederum sagt „Was für eine arabische Kultur? Hätte es je eine arabische Kultur gegeben, dann wären wir heute nicht in diesem Zustand“. Jeder ist sehr selbstkritisch. Das ist ein Diskurs, den ich heute vermisse, auf beiden Seiten. Selbstkritik ist weder auf arabischer noch auf europäischer Seite eine gängige Haltung.
Das Flüchtige bewusst und gleichzeitig sichtbar machen ist ein Thema, dem Sie sich in allen Filmen stellen.
Ruth Beckermann: Es ist ja auch das Schwierigste im Leben, das Flüchtige zu halten und wieder gehen zu lassen, ob es Lieben, Kinder, Eltern oder materielle Dinge sind. Der Titel Those who – go Those who stay hat viel damit zu tun. Mit „to go“ ist ja auch das Sterben gemeint. Der Film endet in Istanbul mit dem kleinen Jungen in der Straßenbahn. In dieser Straße gab es in den fünfziger Jahren einen schrecklichen Pogrom, wo beinahe alle griechischen Geschäfte zerstört wurden. Die Griechen sind auch Menschen, die in der Mittelmeerzone immer wieder vertrieben wurden. Es gefiel mir, den kleinen Jungen zu fragen – Wohin wirst du gehen? In welcher
Türkei wirst du aufwachsen?
thosewhogo.derfilm.at
Trailer: www.youtube.com/watch?v=fhD2WlRxEHY
Wien, 25. 3. 2014