Raoul Schrott: Euripides. Die großen Stücke
März 11, 2021 in Buch
VON MICHAELA MOTTINGER
Literarischer Brückenschlag von Aktuellem zur Antike
„Ah – haus des Admetus, diese bühne, die welt bedeutet, alpha und omega – hier fristete ich meine tage, liess mich dazu herab als niederster aller freien am tisch weit unter dem salz zu sitzen, um mit der milch und dem brot eines gemeinen leibeigenen vorliebzunehmen – ich, Apollon, ein gott!“
So beginnt Raoul Schrott seine Übertragung von „Euripides. Die großen Stücke – Alkestis, Bakchen, Elektra, Orestes“, die dieser Tage bei dtv erschienen ist. Euripides‘ Dramen zählen bis heute weltweit zu den vielgespielten, Martin Kušej begann 2019 seine Burgtheater-Direktion mit den „Bakchen“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=34408), das TAG zeigte ante Corona eine Version der „Medea“ (Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=36752).
Der dritte der drei großen Griechen – die anderen beiden seine Vorgänger Aischylos und Sophokles – gilt als erster Psychologe der Bühne, der die Ambivalenzen menschlichen Verhaltens meisterhaft darzustellen versteht.
Euripides ist ein brillanter Kritiker jeglicher Form von Macht, ein antiker Ikonoklast und Skeptiker naiver Gottgläubigkeit. Seine Werke sind durch die von Nietzsche noch beklagte Tendenz zum Realismus von verblüffend zeitloser Aktualität, mag man „Alkestis“ als die erste feministische Tragödie zur Unterdrückung der Frau sehen, „Elektra“ und „Orestes“ als treffliche Schauspiele über Terror und Populismus, die „Bakchen“ als glasklare Analyse religiösen Fanatismus. Raoul Schrott, für seine Auffassung des freien Übersetzens immer wieder auch gescholten, tut dies. Virtuos. Mitreißend. Modern.
Agierend zwischen fundierter Sachkenntnis und poetischer Inspiration findet Schrott die sprachlichen Mittel, diese Modernität herauszustreichen. Wäre seine Arbeit Musik, sie wäre Jazz – die Standards und dazu die Improvisation. Der Text wechselt in Windeseile von Pathos zu Alltagssprache. Apollon empfiehlt Thanatos: „Immer mit der ruhe“, der nennt ihn „einfaltspinsel“, dieser erwidert „prinzipienreiter“. Elektras bäuerlicher Ehemann wird von Orests als „gutmensch“ beschimpft, womit sich seine Geisteshaltung mit einem Wort erklärt, Menelaos gar als „schlappschwanz“.
Zu Anachronismen wie „spiesser“ und „fremdenfeindlich“ – wie um das Drama der Migration zu betonen, übersetzt Schrott mítra, die Stirnbinde, als „kopftuch“ – gesellen sich Redensarten wie „ins bockshorn jagen“. Ein Diener an Herakles Tafel verkündet „ich kündige!“, und am schönsten ist die Stelle, an der Pentheus den unerkannten Dionysos mit sophós nicht weise nennt, sondern sagt: „Was für ein klugscheisser“. Dies alles weitgehend in Kleinschreibung, ein Querverweis auf antike Handschriften wie auf digitale Kommunikation. Es ist Raoul Schrotts große Kunst, wie diese Sprache der Gegenwart ihre Brücken zum jenseitigen Ufer schlägt, wie sich Neuzeit und die Alte Welt verbinden: Schrotts Übertragung bleibt stets in Rufweite zum griechischen Text.
Bei den Chören nimmt sich Schrott die größten Freiheiten heraus. Er lässt die Versenden sich reimen – Chor: „Das ist gerecht“ / Elektra: „Und abgrundtief schlecht“ -, eine Form, die die griechische Dichtung nicht kannte. Im Spiel von Block- und Flattersatz sind die Gesänge des Chors auch in der Art einer Sanduhr gesetzt, als weitere Aufladung mit Bedeutung, als Zeichen des prophetischen Potenzials für die Protagonistinnen und Protagonisten.
Und wenn es Elektra samt Chor gelüstet, über Helena herzufallen, wirkt der Rhythmus beinah wie ein Track von EsRAP: „Schlachtet sie ab – haut sie in stücke! Schlitzt sie auf – und rächt ihre tücke! Schneidet ihr mit beiden schwerten / den kopf ab – den vielbegehrten – / und schändet ihren leib: / der lust an diesem weib / wurden abertausende geopfert zu Troja. / Für die schönheit der Helena wurden unsere Männer zerhauen / von bronze und eisen: / verwitwet nun sind wir frauen / und unsere kinder waisen.“ (EsRAP zur Erklärung: www.youtube.com/watch?v=Lh2VdX8M8eI)

Bild: pixabay.com

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„Elektra“ und „Orestes“ hat Schrott derart zusammengefügt, dass sie nahtlos aneinander anschließen und als eines les- und aufführbar sind. Eine „Orestie des Euripides“ nennt dies Literaturwissenschaftler Oliver Lubrich in seinem Nachwort, das empfohlenerweise zuerst gelesen werden sollte. Lubrich spricht von „Selbstmordattentätern“ in einer Thriller-Handlung: „Flucht und Geiselnahme, Drohung mit Mord und Zerstörung. Die Königskinder benehmen sich wie zynische Gangster – beziehungsweise wie fundamentalistische Bombenleger. Raoul Schrott fühlte sich an Andreas Baader und Ulrike Meinhof erinnert und an die ,Selbstgerechtigkeit des Terrors‘.“
Über Euripides‘ Alterswerk die „Bakchen“ in Schrotts Händen – allein der Botenbericht über Pentheus Ermordung mutet wie das Skript zu einem Splattermovie an – notiert Lubrich: „Die Gewalt der Bakchen erinnert heute an die von religiösen Fanatikern, politischen Extremisten oder Verschwörungstheoretikern. Man denkt an Charles Manson, Scientologie oder QAnon, die Taliban, al-Qaeda oder den ,Islamischen Staat‘.“
„Euripides. Die großen Stücke“, übertragen von Raoul Schrott, ist eine Leseempfehlung für Liebhaber. „Ich kenne keine besseren Stücke als die des Euripides, mit ihrer perfekten Mechanik im Kreislauf eines Geschehens, bei dem das Tragische ins Komödiantische und wieder zurück kippt, in einem Zirkel, bei dem das Leben ein Theater, das Existentielle ein Drama und das Theater ein Leben ist, bei dem sich jede Figur vom Positiven ins Negative verkehrt und umgekehrt“, sagt Raoul Schrott in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur.
Erstmals in der Kulturgeschichte nahm mit Euripides ein Autor den Menschen als Individuum wahr, in all seiner Brüchigkeit und die Neuheit seiner Rolle ungewohnt, sich aber seiner Identität mehr und mehr bewusst werdend – und sich also vom Mainstream-Kollektiv loslösend. Dass er dafür vor göttliches wie weltliches Gericht gezerrt wurde, der Chor gleichsam als öffentliche Meinung, könnte zeitgenössischer kaum sein. Wer Euripides denkt, denkt Gerhart Hauptmann und Heiner Müller, denkt Eugene O’Neill und Jean-Paul Sartre – und im Kino Michael Roes und Giorgos Lanthimos.
Euripides legt die Verfallserscheinungen einer Gesellschaft in der Krise bloß, deren erste die Demagogie ist. Fragt sich von der attischen bis heute, wie man solchen Bedrohungen der Demokratie begegnen kann, ohne selbst in Autoritarismus zu verfallen …
Über den Autor: Euripides (ca. 480 v.Chr. – 406 v.Chr.) war ein Tragödiendichter im klassischen Griechenland. Er führte auf Salamis, fernab der Metropole Athen, das zurückgezogene Leben eines Gelehrten und Schriftstellers. Man weiß, dass er zweimal verheiratet war, drei Söhne hatte und mit Sokrates befreundet war. In der Geschichte des Dramas gilt er als Avantgardist, der die neuen Ideen seiner Zeit auf die Bühne brachte. So entfaltete sich seine Wirkung auch erst nach seinem Tod. Von seinem Werk überliefert sind 92 Stücke, 55 Fragmente, 17 Tragödien und ein Satyrspiel.
Über den Übersetzer: Raoul Schrott, Jahrgang 1964, studierte Literatur- und Sprachwissenschaft in Innsbruck, Norwich, Paris und Berlin, arbeitete 1986/87 als letzter Sekretär für Philippe Soupault in Paris und als Universitätslektor in Neapel. Er lebt heute in Innsbruck und in Seillans in der Provence. Sein lyrisches und erzählerisches Werk wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, „Hotels“ beispielsweise mit dem Leonce-und-Lena-Preis 1995. Große Beachtung erhielt auch seine Lyrikanthologie „Die Erfindung der Poesie. Gedichte aus den ersten viertausend Jahren“. Als Übersetzer ist er insbesondere durch seine Übertragung von Homers „Ilias“, Hesiods „Theogonie“ und des Gilgamesh-Epos‘ bekannt.
dtv Literatur, „Euripides. Die großen Stücke“. Übertragen von Raoul Schrott. Mit einem Nachwort von Oliver Lubrich. 408 Seiten.
- 3. 2021
[…] Raoul Schrott: Euripides. Die großen Stücke. Ein literarischer Brückenschlag von Aktuellem zur Antike, Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=44896: Mit einem Zitat Apollons beginnt Raoul Schrott seine Übertragung von „Euripides. Die großen Stücke – Alkestis, Bakchen, Elektra, Orestes“, die dieser Tage bei dtv erschienen ist. Euripides‘ Dramen zählen bis heute weltweit zu den vielgespielten, Martin Kušej begann 2019 seine Burgtheater-Direktion mit den „Bakchen“, das TAG zeigte ante Corona eine Version der „Medea“ (Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=36752). Agierend zwischen fundierter Sachkenntnis und poetischer Inspiration findet Schrott die sprachlichen Mittel, diese Modernität herauszustreichen. Wäre seine Arbeit Musik, sie wäre Jazz – die Standards und dazu die Improvisation. Der Text wechselt in Windeseile von Pathos zu Alltagssprache. Apollon empfiehlt Thanatos: „Immer mit der ruhe“, der nennt ihn „einfaltspinsel“, dieser erwidert „prinzipienreiter“ … Eine Leseempfehlung für Liebhaber. […]