Ian McEwan: Die Kakerlake
Januar 31, 2020 in Buch
VON MICHAELA MOTTINGER
Eine kafkaeske Abrechnung mit dem Brexit
„Als Jim Sams, klug, doch beileibe nicht tiefgründig, an diesem Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in eine ungeheure Kreatur verwandelt.“ So beginnt, nein, nicht die Erzählung mit dem zweitschönsten ersten Satz, sondern Ian McEwans Verwandlung derselben. Des britischen Schriftstellers jüngster Geniestreich „Die Kakerlake“ ist das Buch zur Mitternachtsstunde, eine brillante kafkaeske Abrechnung mit dem Brexit, eine bitterböse Persiflage auf die aktuelle britische Politik – auch wenn der Autor beteuert, jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Kakerlaken wäre rein zufällig.
Während sich McEwans namensvetterischer Protagonist noch vor dem glitschigen Lappen in seinem Mund und der unermesslichen Zähnezahl ekelt, die wenigen Gliedmaßen, das Fehlen seiner Facettenaugen und die groteske Umkehrung Fleisch außen, Skelett innen geklagt, ist der Leser in Gedanken nämlich längst bei Johnson, Farage, Corbin und Co … Eine Küchenschabe hat also ihre Heimat hinter der verrottenden Holztäfelung im Palace of Westminster verlassen, hat die Gefahr pöbelnd über die Bürgersteige trampelnder Protestler nicht gescheut, um, so die
Geheimmission, im Mansardenstübchen 10 Downing Street im Wortsinn in die Haut des Premierministers zu schlüpfen. Gewiss, so denkt Humanoid-Insekt Jim, sei er für den Job nicht schlechter gerüstet als andere, „nach einem kurzen Blick in die Zeitungen allemal“, kennt er doch die „wöchentliche Operette“ der Prime Minister’s Questions und die Kabinettssitzungen vom Zuhören. Und deren Tenor: Krise in Großbritannien, öffentliche Meinung auf dem Tiefststand, überfälliges Misstrauensvotum gegen den Original-Sams, weil dieser zu viele Zugeständnisse an die gegnerische Seite mache, Satz eines bekannten Kolumnisten: „Überparteilichkeit ist in der Politik ein Todesröcheln!“. Ergo heißt Jims neue Stoßrichtung ideologische Kehrtwende – Reversalismus.
„Die Kakerlake“, der schmale Satireband eine famose Fingerübung von Vielschreiber McEwan, ist eine So True Story, eine Tragifarce, die manch englischsprachiger Literaturkritiker allerdings jenseits der Grenze des guten Geschmacks ansiedelte. Vor allem Jim Sams Telefonate mit US-Präsident und Twitter-King Archie Tupper gingen diesen zu weit (als ob Howard Jacobsons „Pussy“ – Rezension: www.mottingers-meinung.at/?p=28269 – nicht noch weiter gegangen wäre). Vor allem Passagen, wie jene, in der Jim herumdruckst, er habe mal eine persönliche Frage. Hatte Mr. President früher ebenfalls sechs Beine? Schlagartig ist die Leitung tot. Und man ahnt, auch der mächtigste Mann der Welt ist Ungeziefer in Menschengestalt.
Alldieweil muss Jim seine Minister gar nicht auf das neue Wirtschafts- und Gesellschaftssystem einschwören, im Meeting erkennt er sie alle als einen „kleinen Schwarm der besten ihrer Nation, gekommen, um die schwächliche Führungsriege zu erobern und ihr neuen Mumm einzuflößen.“ Eine Blattidae, ein Reich, ein Leader, doch ein Verräter, ein Volksfeind, ein Mensch – Außenminister Benedict St John. Wie der nun, da politischer anno 2020 nicht mehr möglich scheint, per Rufmord nach allen Regeln der #MeToo-Kunst rücktrittsreif gemobbt wird, ist ein McEwan’sches Anti-p.c. für sich.
St Johns ehemalige Parlamentsreferentin, nunmehr Kakerlaken-Verkehrsministerin Jane Fish berichtet plötzlich von „obszönen Anspielungen und unangemessenen körperlichen Berührungen“, weint coram publico über Jahre des Leidens und Schweigens wegen ihrer Karriere – und ausgerechnet der oppositionelle Guardian greift freudig nach den Fake News, zufrieden der Regierung irgendeins auswischen zu können. Klar, dass die Bevölkerung glaubt, was ihr solcherart in gedruckten beziehungsweise geposteten Lettern vorgesetzt wird. Sams erweist sich als meisterliche Intrigenspinne im feindlichen Lügennetz. „Jim hatte hervorragende Fühler für die öffentliche Gemütslage“, formuliert McEwan doppeldeutig. Ergebnis: „Harter Reversalismus war endgültig Mainstream.“

Bild: pixabay.com

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Dessen Ursprünge gehen angeblich auf ein amüsantes Gedankenspiel, ein Steckenpferd von Exzentrikern wie den 17.-Jahrhundert-Ökonomen Joseph Mund und Josiah Child zurück. Keith Joseph soll versucht haben, die Umkehrfluss-Ökonomie Margaret Thatcher schmackhaft zu machen, die jedoch für die Idee nur ein eisernes No übrig hatte. Eine Idee rechts der Mitte, weshalb – nach erfolgreicher Volksabstimmung – die Mitte nun nach rechts driftet, für die sich aber auch Altlinke stets erwärmen konnten. Heißt: den Geldfluss umzudrehen, heißt, dass man das Gehalt für seinen Job an den jeweiligen Arbeitgeber bezahlen muss, während man im Shop das Geld für die erstandenen Waren ausgefolgt bekommt.
Rücklagen zu bilden ist verboten, die Finanzmittel müssen fließen. Je höher die Vergütung des Arbeitsplatzes, desto mehr muss man sich an Luxusgütern anschaffen, um die eigene Geldbörse wieder zu füllen. Das bringt die Wirtschaft in Schwung und führt zur Umverteilung des Reichtums. EU, Nato und alle Importeure müssen Barzahl- ungen leisten. So die Theorie, die irrwitzige. Eine Anspielung auf die Brexit-Befürworter, hier „Rückdreher“ genannt, die eine Rückkehr in jene Zeiten versprechen, in denen das Empire, Rule Britannia!, allüberall herrschte.
Zur Splendid Isolation will Sams den R-Day (!) ausrufen. Zwei Drittel aller Wahlberechtigten wünschen sich laut Umfragen „einen starken Anführer, der auf das Parlament keine Rücksicht zu nehmen braucht“, die Verhandlungen mit Brüssel sind ins Stocken geraten, rät Archie „Lucky Jim“ doch, das Wichtigste sei, „der EU auf die Nerven zu gehen“. Internationale Konzerne verlegen ihre Sitze ins Ausland, Prominente schreiben verzweifelte offene Briefe, Oppositionschef Horace Crabbe, eigentlich selbst „ein ältlicher Reversalist der postleninistisch linken Schule“, hat ausgedient, einzig die deutsche Kanzlerin wagt es, sich Sams „mit müden Augen“ zu widersetzen und von rechtsstaatlichem Skandal und der gelinkten Labour zu sprechen.

Bild: pixabay.com

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Elegant, mit einem Feuerwerk an Einfällen und mit geradezu maliziösem Vergnügen ihre typischen Antiphrasen aufzugreifen, karikiert McEwan den Clan der Brexitianer. Er zeigt den – freilich fiktiven – Premierminister als listenreichen, skrupellosen Manipulator. Mit Besonderheiten wie dem Chief Whip, jener Person, die sicherstellen soll, dass die Mitglieder der Regierungspartei bei Abstimmungen anwesend sind und im Sinne der Fraktionsführung voten, dem zeremoniellen Streitkolben und dem Prinzip des Pairing – kann ein Abgeordneter der Regierungspartei bei einer Abstimmung nicht anwesend sein, trifft er ein Abkommen mit einem oppositionellen, dass dieser ebenfalls fernbleibt, ist „Die Kakerlake“ außerdem very quirky british.
Versteht sich, dass Sams auch das Pairing ohne viel Federlesens bricht. Als ein französisches Kriegsschiff unabsichtlich ein britisches Fischerboot versenkt und sechs Seemänner ertrinken, hat Sams endlich Britanniens „verlässlichsten Feind“ zur Verfügung – für eine Schmutzkübelkampagne sondergleichen. Was die Kakerlaken mit ihrem Werk bezwecken, erklärt McEwan, hat mit Elend und Armut zu tun, „Konzentration von Wohlstand auf wenige, Argwohn gegen die Wissenschaft, gegen Intellektuelle, gegen Fremde und gegen sozialen Zusammenhält.“ Je tiefer der Mensch sinkt, um so höher steigt die Schabe in der evolutionären Hierarchie.
Schlusszitat: „Der durchschnittliche Brüsseler Beamte hatte sich verwundert die Augen gerieben, als es per Referendum zu dieser erstaunlichen Entscheidung kam. Dann aber geriet der Prozess dank der Komplexität des Ganzen ins Stocken, und man entspannte sich achselzuckend wieder. Ein solcher Unsinn würde doch gewiss in alterprobter Manier auf die lange Bank geschoben werden.“ Ticktack, sieben Stunden noch …
Über den Autor: Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot, Hampshire, lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg „Abbitte“ ist jeder seiner Romane ein Bestseller, zahlreiche sind verfilmt worden, zuletzt kamen „Am Strand“ mit Saoirse Ronan und „Kindeswohl“ mit Emma Thompson in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der American Academy of Arts and Sciences. Im Mai 2019 erst erschien sein erfolgreicher Roman „Maschinen wie ich“.
Diogenes Verlag, Ian McEwan: „Die Kakerlake“, Roman, 144 Seiten. Aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben.
www.diogenes.ch www.ianmcewan.com
- 1. 2020
[…] BUCHTIPP: Ian McEwan „Die Kakerlake“, Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=37733 […]