Burgtheater: Die Bakchen
September 13, 2019 in Bühne
VON MICHAELA MOTTINGER
Aufmarsch von rechts außen

Der Chor der Bakchen marschiert durch Ulrich Rasches Maschinentheater; vorne: Markus Meyer als Chorführer. Bild: Andreas Pohlmann / Burgtheater
Nahe am Abgrund marschieren, nein: eigentlich schleichen, sie im Gleichschritt über sechs den Raum durchmessende Laufbänder, dreieinhalb Stunden in ständiger Bewegung, in angeschrägter Hoch- und Tieflage geht‘s mal steil hinauf, mal abschüssig hinab, doch sind statt des Rhythmus‘ aufstampfender Kampfstiefel im Stakkato hervorgestoßene Sätze zu hören – von Protagonisten wie Chor, schwarzgewandet allesamt.
Nicht mehr als Schemen sind sie, im schwefeligen Gegenlicht, im Infight mit der Macht der Maschine, die ganze Aufführung ein körperlicher Akt … Die Neuerfindung des Burgtheaters hat gestern Abend begonnen. Ulrich Rasche bescherte dem Publikum zum Auftakt der Direktion Martin Kušej eine Inszenierung der Extraklasse. Seit etwa einem Jahrzehnt feiert der Regisseur und Bühnenbildner mit seinem monumentalen Maschinentheater Triumphe, zelebriert bildgewaltig und textkonzentriert die Sinnlichkeit des Abstrakten, und erzählt des Themas nimmermüde von der Selbstentfremdung des Menschen im Wechselfall von exzessivem Individualismus und gewissenloser Konformität.
In Wien nun ließ Rasche die hypnotische Sogwirkung seiner Arbeiten sich via „Die Bakchen“ entfalten, Euripides‘ letztem Meisterwerk, geschrieben nach 30 Jahren Krieg mit Sparta und kurz vor der Niederlage Athens, uraufgeführt posthum, 405 v. Chr. bei den Tragödienwettbewerben der Polis, und deren Siegerstück. Diverses wurde über das Drama schon gedeutelt, in dem Dionysos in seiner Geburtsstadt Theben einfällt, um sich an deren Bewohnern zu rächen, weil diese die Göttlichkeit des Sohns von Zeus und König Kadmos‘ Tochter Semele nicht anerkennen. Lang stand bei den Theatermacherinnen und -machern der Schutzherr der Ekstase hoch im Kurs, doch scheint’s sind dieser Zeiten die ethischen Anliegen andere.
Rasche hat auf die Ambiguität der verstörenden Vorlage gepfiffen. Er blendet Problematiken, die sich durch die Gegenüberstellung von Ratio und Raserei stellen, blendet die Frage, ob tatsächlich der Rigorose oder der Wilde Despot ist, aus. Seine Sympathien gelten, sein Brennglasblick konsequent auf die Gegenwart gerichtet, eindeutig Thebens Herrscher Pentheus, für Rasche ein Verteidiger demokratischer Errungenschaften, dem zur Verdeutlichung seiner politischen Haltung eine Perikles-Rede und ein Fragment des Kritias in den Mund gelegen wurden, und der den dionysischen Ausschreitungen mit den Mitteln des Rechtsstaats den Garaus machen will. Er ist der Gegenpol zum grausamen, gewalttätigen Gott, der in dieser Aufführung ganz klar Anthroporrhaistes, der Menschenzerschmetterer, und nicht Lysios, der Sorgenbrecher, ist.

Franz Pätzold brilliert als wütender Gott Dionysos. Bild: Andreas Pohlmann / Burgtheater

Martin Schwab als Kadmos, Felix Rech als Pentheus und Hans Dieter Knebel als Teiresias. Bild: Andreas Pohlmann / Burgtheater
Auftritt der famose, mit Gänsehautstimme gesegnete Franz Pätzold als Dionysos, um seine bösen Absichten kundzutun, ein Hass sprühender, manipulativer, wenn man‘s so lesen will: „rechtspopulistischer“ Demagoge, der seine Anhängerschar, die fanatische Armee der Bakchen, Motto: Gehorsam sein anstatt sich eigene Gedanken machen, zu Mord, Totschlag, Gräueltat anführt. Und wie diese ihren totalitären Anspruch auf Land und Leute skandieren: „Wir holen uns unser Land zurück. Diese Stadt gehört uns. Wie haben kein Recht zu scheitern“, später: „Wir werden immer mehr. Unsere Erregung steigert sich zur Raserei!“
Derart bekundet Rasche sein Bestreben das griechische Theater als Vehikel für Äußerungen zur aktuellen Lage der Nation zu nutzen, ohne groß zu verschleiern, auf wen diese abzielen. Euripides wird zur Schablone für Rasches gesellschaftspolitisches Statement. Sein Schattenspiel in Slow Motion begleitet Minimalmusic von Nico van Wersch, dargeboten von einem Streichquintett, Tenor und Bariton und der großartigen Schlagwerkerin Katelyn King, die mit ihrer Batterie an Trommeln und Pauken nicht nur den Rhythmus fürs Geschehen vorgibt, sondern mit ihrem Sound eine archaisch anmutende Atmosphäre schafft.
Ihr Taktschlagen besiegelt sozusagen den Untergang der Zivilisation. Pätzolds charismatischem Dionysos entgegen stellt sich aber Pentheus, dargestellt von Felix Rech, um nichts weniger „lärmend“ als sein Widerpart, ein starker Machthaber, der nicht an einen Führer, sondern an Verfassung und Gesetze, freie Bürger und den Schutz für Unterdrückte glaubt. Wie Raubtiere lässt Rasche Rech und Pätzold nebeneinander her gleiten, ohne, dass sie einander auch nur einmal eines Blickes würdigen. Pentheus lässt den in Menschengestalt erschienenen Gott verhaften, was dem freilich kein Hindernis ist, die Thebanerinnen – und bei Rasche auch – Thebaner in seinen Bann zu ziehen und auf den Berg Kithairon zu locken. Unter den frisch rekrutierten Bakchen ist auch Pentheus‘ Mutter Agaue, Kadmos zweite Tochter, was Dionysos und Pentheus de facto zu Cousins macht.
Den gemeinsamen Großvater Kadmos gestaltet der Doyen der Produktion, Martin Schwab, wie einen modernen Altpolitiker. Schwabs Kadmos hat genug Wissen und Erfahrung, um die Vorgänge rund um Dionysos zu durchschauen, doch rät er aus opportunistischen Gründen dazu, sich ihnen nicht entgegenzustellen, sondern sie für die eigenen Zwecke einzusetzen. Er selbst erhofft sich durch die Verwandtschaft zum numinosen Enkel einiges: Ruhm und Ehre für die Sippe. Wie Schwab seinen alten Freund Teiresias, Hans Dieter Knebel als Hüter der Religion, dazu anstiftet, ihm zu zeigen, wie man tanzt, wollen sich die beiden Greise doch mit den Bakchen im Wald vergnügen, wie er einen kleinen Hüftschwung probiert, da menschelt es plötzlich an diesem ansonsten durchchoreografierten Abend.

Zu spät kommt über Agaue die Erkenntnis: Katja Bürkle, hinten: Martin Schwab als Kadmos. Bild: Andreas Pohlmann / Burgtheater

Markus Meyer macht den Chorführer und hat als solcher auch einige Solostellen. Bild: Andreas Pohlmann / Burgtheater
Dionysos lockt alldieweil Pentheus auf den Berg, vorgeblich, damit er die Bakchen-Briganten in ihrem kollektiven Rausch beobachten kann, doch er wird entdeckt und von der wütenden Meute in Stücke gerissen. Pätzold zitiert darüber im Hacksprech Nietzsches Zarathustra: “Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: – ihr – habt – noch – Chaos – in – euch!“ Die Masse hat über die Macht gesiegt. Zum Ende erklärt Kadmos seiner Tochter Agaue in quälerisch langsamer Behutsamkeit, dass der Kopf, den sie in der schwarzblutigen Hand hält, nicht der eines Berglöwen ist.
Sondern der ihres Sohnes, den ihr Toben tötete. Da entfährt Schwab ein so tiefer, grässlicher Klagelaut aus der Brust, dass es einen schaudern macht. Nach der ihren Gipfelpunkt erreicht habenden Gewalt-Orgie ist dies der unerwartete Antiklimax der Aufführung: Katja Bürkle überzeugt als Schmerzensmutter aus eigenem Verschulden, sie ist die gramgebeugte Menschin, die Verliererin im Kräftemessen der Männer, und wie die Bürkle das spielt, von Erstaunen zu Erkenntnis zu Entsetzen, beinhaltet mehr Emotionspsychologie, als die alten Griechen je zugelassen hätten.
Markus Meyer ist ein ausgezeichneter Chorführer, dem ein paar Solostellen überantwortet wurden, der aber auch in der Gruppe dank seiner besonderen Ausstrahlung jederzeit zu erkennen ist. Und während die Figur mit dem absoluten Machtanspruch, Dionysos, weiter zieht und die Zuschauer gleichsam durch die Zeitgeschichte führt, versuchen die Restthebaner, im Bewusstsein, wie steinig dieser Weg sein wird, zu einer geordneten Gesellschaft zurückzukehren. „Die Bakchen“ präsentiert Ulrich Rasche als „Ritualhandlung“, als im Wortsinn „schwarze Messe“. Hervorragend gelungen sind bei dieser Einstiegsproduktion des neuen Burgtheater-Teams außerdem die martialischen, viel Haut zeigenden Kostüme von Sara Schwartz und die – um den Einsatz einer Livekamera erweiterten – Videos von Sophie Lux.
Rasche indes hat es geschafft, bewährte und neue Ensemblemitglieder des Hauses nahtlos zusammenzufügen, alle miteinander Ausnahmeschauspieler, was Präzision und Präsenz betrifft, allesamt imstande gemeinsam mit der Laufbandhydraulik in höhere Sphären abzuheben – und dass Pätzold und Rech einander vom Typ, von der Körpersprache und der Stimmführung her ähnlich sind, ist ein zusätzlich prickelndes Moment. Man darf’s ruhig sagen: Diese „Bakchen“ sind ein Gesamtkunstwerk, anhand dessen Rasche gekonnt den Widerstreit zweier Weltsichten, den Kampf demokratischer vs. antidemokratischer Kräfte durchdekliniert. Auf welcher Seite Kušejs Burgtheater steht, ist logisch, auch, dass das Haus sich in dieser Stadt, in diesem Land politisch einmischen wird. Der Applaus dafür war laut und lang.
- 9. 2019
[…] derzeit am Burgtheater Ulrich Rasches Interpretation der Euripideschen „Bakchen“ (Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=34408) zu sehnen ist, ist eine Koinzidenz, die wohl niemand vorhersagen hätte können. Bei Rasche wie […]
[…] die in vielerlei Hinsicht nahtlos an Ulrich Rasches Saisoneröffnungs-„Bakchen“ (Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=34408) anschließt, […]
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[…] Tag des Zorns“ am Burgtheater. Felix Rech, brillant als Pentheus in den „Bakchen“ (Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=34408), saust entlang einer Fensterfassade steil bergab und zählt die Sekunden bis zu seinem Aufschlag, […]
[…] Bester Schauspieler: Franz Pätzold als Dionysos in „Die Bakchen“ von Euripides, Burgtheater http://www.mottingers-meinung.at/?p=34408 […]
[…] Martin Kušej begann 2019 seine Burgtheater-Direktion mit den „Bakchen“ (Rezension: http://www.mottingers-meinung.at/?p=34408), das TAG zeigte ante Corona eine Version der „Medea“ (Rezension: […]
[…] Rasche indes hat es geschafft, bewährte und neue Ensemblemitglieder des Hauses nahtlos zusammenzufügen, alle miteinander Ausnahmeschauspieler, was Präzision und Präsenz betrifft, allesamt imstande gemeinsam mit der Laufbandhydraulik in höhere Sphären abzuheben – und dass Pätzold und Rech einander vom Typ, von der Körpersprache und der Stimmführung her ähnlich sind, ist ein zusätzlich prickelndes Moment. Man darf’s ruhig sagen: Diese „Bakchen“ sind ein Gesamtkunstwerk, anhand dessen Rasche gekonnt den Widerstreit zweier Weltsichten, den Kampf demokratischer vs. antidemokratischer Kräfte durchdekliniert. Auf welcher Seite Kušejs Burgtheater steht, ist logisch, auch, dass das Haus sich in dieser Stadt, in diesem Land politisch einmischen wird. Der Applaus dafür war laut und lang. Erstveröffentlichung: http://www.mottingers-meinung.at/?p=34408 […]