Akademietheater: Woyzeck

April 11, 2019 in Bühne

VON MICHAELA MOTTINGER

Manege frei für die Maniacs

Woyzeck kauft sich ein Messer, jedoch eines mit versenkbarer Klinge: Steven Scharf und Falk Rockstroh. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Auf die rotweißgestreifte Zeltplane sind alte Filmaufnahmen projiziert. Raubtier- und Elefantennummern, die Tiere mühsam und nur mit Gewalt unter Kontrolle gehalten, kleine Hunde, die sich zum Affen machen müssen, Trapezkünstler in schwindelnden Höhen, menschliche Pyramiden und Kaskadeure. Gleich darauf, wenn Steven Scharf das Plastik heruntergerissen und die halbe Manege, vom Gittergang für die Großkatzen

bis zur Zuschauertribüne zerlegt haben, wenn nur noch eine armselige Handvoll Akrobaten übrig sein wird, enträtselt sich, worauf Regisseur Johan Simons abzielt. Das heißt, nicht zur Gänze. Denn ob Albtraum, Erbsenirrsinn oder einfach Ausflug in den Surrealismus, bleibt der Fantasie des Zuschauers überlassen. Simons, seit dieser Spielzeit Intendant des Schauspielhauses Bochum und die Aufführung ergo eine Koproduktion mit diesem, zeigt am Akademietheater seine Interpretation des „Woyzeck“. Es ist seine dritte Inszenierung des Dramenfragments, sein Zugriff auf Büchner diesmal als wäre dieser Beckett, der Verfechter eines Bühnenrealismus dargeboten, als wär’s ein Stück absurdes Theater.

Das Setting von Stéphane Laimé und die Kostüme von Greta Goiris verströmen Zirkusluft, wenn auch die eines ziemlich abgetakelten Etablissements, darin die sinnfreie Welt und der orientierungslose Mensch: Steven Scharf als Woyzeck, dressiert, gedemütigt, beglotzt, bestaunt und ob seiner Stärke gefürchtet – so wie’s Dompteure mit den von ihnen geknechteten Kreaturen tun. Und während er Wortfetzen vor sich hin murmelt, wimmert, brabbelt, Koen Tachelet geht in seiner Fassung mit dem Büchner-Text sehr sparsam um, sind die anderen prahlerische Ausrufer der eigenen Person. „Hepp!“ rufen sie, als wäre ihnen gerade ein besonderes Kunststück gelungen, mit großen Gesten wenden sie sich ans Publikum, wenn sie zu ihrer Vorführung wie wild geworden im Kreis herumtoben oder über diverse Gerüste turnen. Marie im zu großen Herrenanzug und überdimensionalen Clownsschuhen, der Tambourmajor als starker August im knappen Trikothöschen, der Hauptmann im grünen Trainingsanzug, der Doctor in Klinisch-weiß mit Gummistiefeln – es wird noch etliches an Regen fallen, darum.

Mit Marie und dem Drahtgestellsöhnchen: Anna Drexler und Steven Scharf. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Tanz um den Tambourmajor: Anna Drexler und Guy Clemens. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Simons also hat Büchners dritte Szene, „Buden, Lichter, Volk“, zum Programm erklärt, lässt überhaupt die Szenen wie Nummern ablaufen. Und in der nächsten Abteilung sehen Sie …! Im Mittelpunkt ein Steven Scharf auf dem Höhepunkt seiner Schauspielkunst, das geschundene Individuum, das seine einstudierten Tricks vorführen muss. Verstörend ist das, wie Scharfs zunehmend besessener Woyzeck in Momenten größter Beleidigung und tiefster Gebrochenheit seinen Stolz zu wahren oder in zahlreichen und langen Sekunden des Schweigens sich als Subjekt zu behaupten sucht, nur um sich dann wieder selbst aufs Korn zu nehmen. Etwa, wenn er sich mit Marie als „das astronomische Pferd“ und dessen Conférencier abwechselt. Das rote Granulat auf dem Boden, auf dem er sich wälzt, wird später auf nackter Haut wie Blutstropfen wirken.

Im expressiven Spiel steht ihm Anna Drexler als Marie in nichts nach. Sie jauchzt und quiekst und überbetont die Worte, als ihr der Tambourmajor ins Auge sticht. Sie produziert sich vor ihm und buhlt ums Publikum, will mit beiden Blickkontakt herstellen, wohingegen sie in der Zwiesprache mit Woyzeck klar und wahrhaftig ist, je mehr Wahnsinn, umso wahrhaftiger. Dass ihr Söhnchen ein fragiles Drahtgestell mit Kinderfüßchen ist, passt ins Bild dieser lieblosen Mutter, die den Kleinen mit allerhand Gruselgeschichten zum Einschlafen nötigt. Drexlers wie Scharfs Performance ist irritierend, irisierend und so, dass an ihren Figuren immer etwas bleibt, ein Dunkel, ein Geheimnis, das man nicht zu fassen bekommt.

Den Einsatz des weiteren Personals hat Simons wie die Handlung auf die Essenz konzentriert. Extrem körperlich legt Daniel Jesch den Hauptmann an, ein Kraft- und Machtmensch, der Woyzecks philosophische Versponnenheiten gar nicht mag. Im Gegensatz zu ihm ist Guy Clemens‘ Tambourmajor ein Möchtegern, der die Gewichte kaum stemmt, die Woyzeck mit einer Hand hebt, und sich lächerlich macht, als er hinter Marie her in Rösselsprüngen die Manege durchmisst. Falk Rockstroh ist als Doctor ein pragmatischer Wissenschaftler, der für sein Versuchsobjekt keine Empathie aufbringt. Und obwohl all diese nicht viel zu agieren haben, bleiben sie die ganze Zeit so bühnenpräsent, dass sei einem nie aus dem Fokus geraten. Bestes Beispiel dafür ist Martin Vischer, der als Großmutter der einzige Zirkusbesucher ist, und der über beinah zwei Stunden nur sitzt, schaut, tonlos gestikuliert, den Mund offen, wie’s bei sehr alten Menschen manchmal so ist, bevor er endlich das Märchen vom armen Waisenkind erzählen darf.

Der Wahnsinn der Erbsendiät: Steven Scharf und Falk Rockstroh. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Im Regen stehen lassen: Falk Rockstroh, Steven Scharf und Daniel Jesch. Bild: Reinhard Werner/Burgtheater

Schließlich tritt Steven Scharf mit Zirkusdirektorenzylinder und Regenschirmchen in die Arena, allein im Scheinwerferkegel sprechen Stimmen zu ihm, verlangen Maries Ermordung. Gespenstisch ist, was Scharf da mit minimalster Mimik und Gestik ausdrückt, an Psychose, an Schizophrenie, an Leid und Elend. Er wird ein Messer kaufen, und es wird ein Theatermesser mit versenkbarer Klinge sein. Denn in Woyzecks Wahn ist Marie nicht zu töten, sondern wird ihm übers Sterben hinaus noch Anweisungen geben. Damit ist der Realitätsverlust besiegelt, die Reise in Woyzecks Kopf am Ende. John Simons‘ Büchner-Umschreibung ist mit all den Fragen, die sie offen lässt, ein Abend, der nachwirkt. Wobei es gerade seine Auslassungen sind, die dies am gewaltigsten tun.

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  1. 4. 2019