Wiener Festwochen: Koncert życzeń / Wunschkonzert
Juni 12, 2016 in Bühne
VON MICHAELA MOTTINGER
Danuta Stenkas Nähe fährt direkt unter die Haut

Voll funktionsfähige Versuchsanordnung: Danuta Stenka als Frau Rasch mit Zimmer, Küche, Klo und Laptop. Bild: Klaudyna Schubert
Dass es hier anders abläuft, als sonst, wird bereits beim Einlass klar. Yana Ross, die lettische Regisseurin, begrüßt das Publikum im brut auch noch bei der vierten Vorstellung. Sie hat die Schuhe ausgezogen und gibt damit schon die beste Möglichkeit vor, den Abend durchzu-stehen, denn Sitzplätze sind bei ihrer Arbeit über Franz Xaver Kroetz‘ „Wunschkonzert“, einer Koproduktion der Teatr Łaźnia Nowa, Krakau, und TR Warszawa, Warschau, nicht vorgesehen.
„Gehen sie herum, eignen sie sich den Raum an“, empfiehlt sie – und die Zuschauer werden dieser Aufforderung folgen, werden die 360°-Bühne wieder und wieder umrunden, Küche, Wohnzimmer, Bad, um nichts zu verpassen von der grandiosen Performance der polnischen Starschauspielerin Danuta Stenka. Starr wie eine Schaufensterpuppe steht sie da in dieser von Bühnenbildnerin Simona Biekšaitė entworfenen, mit Strom und Wasser voll funktionsfähigen Versuchsanordnung über das Wesen der Verzweiflung. Das Publikum kaum auf Armlänge entfernt, beginnt dann plötzlich ihre Choreografie eines Heimkommens nach einem langen Arbeitstag. Einkäufe wegräumen, Wäsche in die Maschine stopfen, einen Pickel verarzten, Post durchsehen, Paradeiser und Käse auf ein paar Knäckebroten verteilen. Handgriffe, die man selber täglich macht, und mitten in diesem angegrauten Stück übers hochmoderne Singledasein fällt einem ein, in wie vielen Wiener Haushalten es wohl in gerade dieser Minute genauso zugeht.
Denn dank Ross‘ einfühlsamer Inszenierung hat das lautlose Regieanweisungsdrama aus den 1970er-Jahren, dieses Solo über die Einsamkeit nichts an Aktualität eingebüßt. Mit viel Feingefühl holt Ross Kroetz ganz dicht heran. Aus dem miefigen Untermietzimmer ist ein IKEA-chices Appartement geworden, die Handarbeit wurde beiseite gelegt, wer strickt heute noch?, statt dessen läuft die Reality-Soap der Kardashians über den Fernsehschirm. Die Simulation, mit der die neue Frau Rasch sich Leben vorspielt, hat sich verdreifacht. Danuta Stenka sucht bei „Die Sims“ nach einer virtuell letzten Möglichkeit auf ein perfektes Familienidyll.
Wie Ross nicht überinszeniert, überagiert Stenka nicht. Ihr steinernes Gesicht ist alles andere als eine Leidensmiene, hochkonzentriert und präzise führt sie ihren Part aus, während die Zuschauer diese Figur nach Gefühlen abtasten. Wie wird ihr Freitod am Ende zu erklären sein, wo zeichnet er sich ab, was geht dieser Frau da in der Mitte durch den Kopf? Danuta Stenkas darstellerische Nähe fährt einem direkt unter die Haut, wie leicht wäre in dieser Aufführung Voyeurismus möglich, doch die Schauspielerin hält ihn mit abwesendem, die Anwesenden ignorierenden Blick auf Distanz. Nur einmal läuft unvermittelt ein Zucken über Frau Raschs Schultern, ein kaum wahrnehmbares Schluchzen.
Das „Wunschkonzert“ nämlich gestaltet in Wien Radiostimme Ernst Grissemann. Er ist der Spielpartner, der Hertz-Welle gewordene Dialog. Frau Rasch wiegt sich zur Musik, die er auflegt, Bob Marley, Leonard Cohen, ihre Songs schreiben die Geschichte ihres Lebens, sie bestimmen Stimmungen, und während sie von den verlorenen Lieben singen, erzählt Grissemann von den vielen gefundenen, von Menschen, die sich einander erklärt haben und nun bei ihm ihr Lied bestellen. Falcos „Out of the Dark“ kommt dran, und der Moderator sagt: „Auch, wenn du allein bist, musst du dich zusammen reißen.“ Wie lange Frau Rasch ihren ultimativen Gedanken wohl schon hat?

Zuerst kommt das kärgliche Single-Abendessen auf den Tisch, Bild: Klaudyna Schubert

… dann gibt’s ein einsames Tänzchen mit Ernst Grissemann. Bild: Klaudyna Schubert
Die Emotionen, die Stenka nicht erkennen lässt, liest man als die Betroffenheit des Publikums. Erst, wenn die Schlaftabletten mit dem Prosecco runtergespült sind, der Esstisch geputzt, das Bett neu gemacht ist, wird Frau Rasch die Zuschauer anschauen. Einen nach dem anderen. Blick um Blick. Zweifelnd, fragend, ob es das schon war. Dann abgehen, und die Maske ihrer Selbstdisziplin fallen, ihre kleine Welt hinter sich und die Zuschauer sich selbst überlassen. Die sich nun mit perplexem Seelenschmerz Aug‘ in Aug‘ gegenüberstehen, kurz peinlich berührt, weil gestrippt bis auf die eigene Existenz. Bis der Applaus losbricht. Eine Weile danach noch bleiben sie sitzen, betrachten noch die Versatzstücke auf der Bühne, streichen vorsichtig über das eine und andere, als könnte niemand nun einfach so gehen.
„Wunschkonzert“, diese kleine, feine Produktion, ist einer der Höhepunkte der diesjährigen Festwochen. Yana Ross hat einen spannenden Theaterabend mit Sichtwechseln gestaltet, den Danuta Stenka auf einzigartige Weise ausführt. So tieftraurig, dass es einen glücklich macht.
Video: www.youtube.com/watch?v=jKMNfFl56kc
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Wien, 12. 6. 2016